Straight Edge – Die Politik des Verzichts
In der Punk- und Hardcore-Subkultur ist Veganismus seit Jahrzehnten verbreitet – oft kombiniert mit dem Straight Edge-Lebensstil. Beide vereint die Rechtfertigung der eigenen Abstinenz.
»Früher wurde einem als Veganer definitiv mehr Unverständnis entgegengebracht, weil das Konzept noch nicht etabliert war. Heute ist es eher beim Nicht-Trinken so, da es in sozialen Situationen heikel werden kann«, beschreibt der Literaturwissenschaftler Gerfried Ambrosch (35) den Alltag eines veganen Straight-Edgers. Zum Veganismus kam Ambrosch 2001, zu Straight Edge 2014 über die Punk-Szene. Er musste sich als Veganer so oft rechtfertigen, dass er 2013 die Broschüre »Vindication Of A Vegan Diet« veröffentlichte, in der er im FAQ-Stil Antworten auf die am häufigsten gestellten Fragen liefert. In westlichen Gesellschaften gilt es nämlich keineswegs als »normal«, freiwillig auf jegliche Tierprodukte, Alkohol, Drogen, Nikotin und promiskuitiven Sex zu verzichten.
Ähnlich erging es Stefan Kauschitz (40), Straight-Edger seit 1996, vegan seit 1998. Der diplomierte Krankenpfleger sieht Hardcore-Punk als elementar verantwortlich für seine Entscheidungen: »Ohne den Einfluss von vielen Bands hätte ich wohl über diese Dinge nicht nachgedacht.« Und das hat sich über mehrere Szene-Generationen hinweg nicht geändert, wie Reinhard Grabler (26), Schlagzeuger der Band Stillborn und Straight Edge Vegan seit 2008, bestätigt: »Als ich damals als junger Metalhead in die Hardcore-Szene gerutscht bin, war ich von meiner neuen Entdeckung gleich begeistert. Die Musik und die Lyrics strotzten nur so vor Energie und viele Bands hatten einfach echt was zu sagen.«
»Don’t smoke / Don’t drink / Don’t fuck«
Die Subkultur Straight Edge entstand dabei eigentlich zufällig. 1981 veröffentlichte die Band Minor Threat die beiden Songs »Straight Edge« und »Out Of Step«. Sänger Ian MacKaye wollte ein Statement gegen die selbstzerstörerische und drogendominierte Punk-Szene in Washington, D.C. setzen. Die Textzeile »Don’t smoke / Don’t drink / Don’t fuck / At least I can fucking think« wurde allerdings als Handlungsanleitung verstanden. Die Folge war eine Jugendbewegung, die sich im Laufe der 80er weltweit ausbreitete. Als Erkennungszeichen bei Konzerten galt ein auf die Handrücken gemaltes »X«. Dies hatte ursprünglich allerdings rein praktische Gründe: In den USA war Jugendlichen der Zutritt zu Clubs, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde, eigentlich untersagt. Um »Underagers« trotzdem den Konzertbesuch zu ermöglichen, wurden sie beim Zutritt markiert. XXX wurde schließlich zum Markenzeichen der Bewegung.
Aus XXX wird XVX
Ab Ende der 80er Jahre wurde Fleischverzicht immer öfter als zusätzliche moralische Komponente der Subkultur gesehen. Mit Youth Of Today nahm sich 1988 eine der damals wichtigsten Straight-Edge-Bands des Themas an. In »No More« wurden Missstände in der Massentierhaltung thematisiert und die Empathielosigkeit der Fleischkonsumenten kritisiert. Ab den 90ern sollten dezidierte Vegan Straight Edge (XVX)-Bands folgen, bei denen Tierrechte einen zentralen Stellenwert in den Songtexten einnahmen. Aus der grundsätzlich von Toleranz geprägten Szene stach recht bald die Hardline-Fraktion mit teils sehr wertkonservativen Grundhaltungen hervor. Bands wie Birthright oder Earth Crisis traten als Biozentristen, Abtreibungsgegner oder durch Homophobie in Erscheinung. Ambrosch erinnert sich: »Das war ein Randphänomen. Dennoch war es befremdlich. Der Grund war, dass es auch im Hardcore Leute gibt, die einfache Antworten auf komplexe Fragen wollen.«
Für andere XVX-Bands wie Chokehold, 7 Generations oder Gather hingegen waren Veganismus und Tierrechte nur weitere Teile im Baukasten ihrer Gesellschaftskritik-Agenda. Kathi Edge (33), Straight Edge seit 2005, vegan seit 2015, beobachtet gerade die nächste Trendwende in der Szene: »Ich habe das Gefühl, dass der Aktivismus stark abnimmt. Mittlerweile essen viele wieder Fleisch, was ich absolut ok finde, wenn man es bewusst macht. Jeder soll sein Ding machen.« Ambrosch sieht diesen Trend auch: »Seit der Veganismus sich im Mainstream etabliert hat, ist er manchen nicht mehr radikal genug und für diese Leute deshalb uninteressant, was natürlich eine komplett dumme Begründung ist.«
Verzicht und Nachhaltigkeit
Die vom Do-it-yourself-Prinzip geprägte Hardcore-Subkultur – traditionell hauptsächlich aus weißen, männlichen Teenagern bestehend – war schon immer ein Mittelklasse-Phänomen. Veganismus und Drogenabstinenz eignen sich in einer Überflussgesellschaft natürlich bestens zur Rebellion, wie Ambrosch, der für seine Dissertation »The Poetry Of Punk« zahlreiche Songtexte analysiert hat, ausführt: »Es ist eben schon eine bewusste Entscheidung, anders zu leben als die Mehrheit. Wobei es aber darum nicht gehen sollte, sondern eher darum, vernünftig, verantwortlich und mitfühlend zu handeln.« Für Außenstehende ist dieser freiwillige Verzicht nur schwer nachvollziehbar. Abgehen tut veganen Straight-Edgern aber nichts, wie Kauschitz, der am Metal-Label Rotten Relics beteiligt ist, versichert: »Ich lebe, wie ich es für richtig halte, nach meinen eigenen Regeln, weil Ich es so bestimme. Demnach kann ich nicht sagen, dass ich das Gefühl habe, etwas zu versäumen, bzw. auf etwas verzichten zu müssen.« Auch wenn der Protest oft persönlich motiviert ist, sind die Folgen natürlich politisch. Stefan Kauschitz präzisiert das so: »Natürlich hat Veganismus für mich auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Veganer respektieren andere, schwächere Lebewesen und selbstverständlich auch den Planeten. Ohne dessen Unversehrtheit ist ein gesundes Leben ja schließlich gar nicht möglich.«