Selbst isst die Stadt

Kann sich die Stadt selbst versorgen? Theoretisch, sagt die Forschung, wäre das möglich.

Ein blühender Acker hinter dem man die Skyline einer Stadt sieht.
Wie Städte heute versorgt werden und wie wichtig dabei Stadtlandwirtschaft ist, ist unterschiedlich. Bild: Ines Fotografie Berlin.

Einst wurde Berlin aus Brandenburg ernährt. Das Oderbruch, ein entwässertes Überschwemmungsgebiet an der polnischen Grenze, galt als Gemüsegarten Berlins. Wie das Marchfeld, die fruchtbare Ebene nördlich der Donau zwischen Wien und Bratislava auch heute noch als Kornkammer Wiens bezeichnet wird und zumindest in der alljährlichen Spargelsaison auch als Anbaufläche ins allgemeine Bewusstsein kommt. Stadt und Umland waren – und sind – da wie dort untrennbar miteinander verbunden. Die Länder Berlin und Brandenburg haben gar einen eigenen Staatsvertrag abgeschlossen, in dem die Hauptstadt dem Umland die Landwirtschaftsagenden überantwortet, sich dabei aber verpflichtet zum Beispiel die Ländliche Entwicklung mitzufinanzieren.

Bio in Wien

Bereits 31% der Wiener Landwirtschaft sind biozertifiziert.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich zwar unsere Ernährungsweisen individualisiert und auch bei Lebensmitteln die Lieferketten globalisiert. Trotzdem wird sowohl in Berlin, als auch in Wien immer noch nennenswert Landwirtschaft praktiziert. Vor allem findet das in den Randbezirken statt, in ehemaligen Vorstädten und irgendwann eingemeindeten Vororten. Einstige Dörfer der Mark Brandenburg sind heute Berliner Bezirke. In Wien wird oft vergessen, dass weitläufige Bezirke wie die Donaustadt oder Floridsdorf ursprünglich zum Marchfeld gehörten. So wird auf Wiener Stadtgebiet immer noch mehr Getreide angebaut als beispielsweise in den Bundesländern Salzburg, Tirol oder Vorarlberg. Doch verbliebene landwirtschaftliche Flächen sind heiß begehrt: als Gewerbegebiet, für den Wohnbau oder einfach als sogenanntes »Stadtentwicklungsgebiet«. Wieviel Produktionsfläche verloren gingen, wiesen zuletzt das Statistische Jahrbuch Berlin 2019 und der Wiener Stadtlandwirtschaftsbericht 2023 aus: Während in Berlin 2005 noch 2406 Hektar für Ackerbau und vereinzelt auch Tierhaltung genutzt wurden, waren es 2016 nur noch 1.845 Hektar. In Wien sank die Anbaufläche von 7414 Hektar im Jahr 2010 auf zuletzt 6336 Hektar, die von knapp 700 Betrieben bewirtschaftet werden. Auf dem Papier zählte Berlin 2019 noch 52 landwirtschaftliche Betriebe. »Die Gruppe der LandwirtInnen in Berlin sind aber überwiegend PferdewirtInnen«, erklärt Katrin Stary, »es gibt auf dem Stadtgebiet von Berlin sehr wenig ›echte‹ Landwirtschaft«. Mit »echt« meint die Geschäftsführerin der Berliner Stadtgüter Flächen, auf denen Lebensmittel produziert werden. Die Pferde werden entweder für den Reitsport gehalten oder zur Landschaftspflege. Besondere Bedeutung für die Ernährung der Bevölkerung kommt der Landwirtschaft in Berlin also keine zu. Wobei eine zum Jahreswechsel erschienene Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung errechnete, dass die deutsche Hauptstadt – theoretisch – den Gemüsebedarf seiner BewohnerInnen zu bis zu 82 Prozent direkt im Stadtgebiet decken könnte; bodenbezogen produziert und nicht auf Substrat und Nährlösungen oder, technisch aufwendig, in der Vertikalen oder mit künstlicher Beleuchtung. Bis zu 4.000 Hektar Fläche, so die Erhebung, wären dafür verfügbar. Dafür müsste aber ordentlich investiert werden, etwa um Flachdächer umzurüsten oder Bewässerung zu ermöglichen. Auch Geschäftsmodelle müssten erst noch entwickelt werden, wie Stadtklimaforscher Diego Rybski sagt. Denn: »Derzeit bewegt sich Urban Farming eher auf EnthusiastInnenniveau.« Sein Einwand: Damit werde in Innenhöfen, Schrebergärten, Gärten von Ein- und Zweifamilienhäusern aber eher keine effiziente Gemüsegärtnerei möglich sein.

Der von einem Verein betriebene Zukunftshof in Rothneusiedl in Wien-Favoriten möchte zum »Urban Food Hub« werden. Umgeben ist er großteils von Äckern, die bereits als Bauland gewidmet sind. Landwirtschaft, so die Vision, soll Rothneusiedl aber auch weiterhin prägen. Bild: Andreas Gugumuck.

Für Wien hat die sogenannte »SUM-Studie« des Umweltbundesamts 2017 ergeben, dass sich die Stadt und ihr Umland (kurz: SUM) theoretisch zur Gänze mit regional produziertem Gemüse ernähren könnte. »Allerdings wird nur zu einem Teil das produziert, was tatsächlich nachgefragt wird«, wie Roman David-Freihsl, der Sprecher der Umweltabteilung (MA22) der Stadt erklärt. Die Selbstversorgungsrechnung geht in der Praxis also nicht auf – weil die Nachfrage nach Champignons, Karfiol, Kohl, Paprika oder Tomaten größer ist als die lokal produzierten Mengen; während etwa Erbsen, Karotten, Kraut, Spinat und Zwiebel sogar exportiert werden. Es würden sogar um 80.000 Tonnen Gemüse mehr produziert, als benötigt werden. Wobei dabei, wie gesagt, die Umland-Gemeinden mit erfasst wurden.

»Mein Auftrag ist aber in erster Linie, die landwirtschaftlichen Flächen zu beschützen. Wir haben deshalb etabliert, dass wir nichts mehr hergeben ohne entsprechende Tauschflächen«

Katrin Stary, Stadtgüter Berlin

Auch in Berlin sieht man die Stadt und ihr Rundherum als Ganzes. Historisch war das nicht nur den Input, sondern auch den Output betreffend relevant. Im 19. Jahrhundert war es eine große Aufgabe der Abwässer der BerlinerInnen aus der Stadt zu bringen. Sie wurden in zwölf Pumpwerken gesammelt und auf Flächen außerhalb verrieselt. Lange steigerte das dort den landwirtschaftlichen Ertrag. »Menschliche Fäkalien sind nichts Schlimmes, sondern Dünger«, sagt Katrin Stary, die Geschäftsführerin der Stadtgüter Berlin. Erst die Industrialisierung brachte Probleme. Teils wurden bis in die 1990er-Jahre Industrieabwässer verrieselt. Weshalb 2.500 Hektar der insgesamt 17.000 Hektar, welche die Stadtgüter heute betreuen, mit Schwermetallen kontaminiert sind. »Für die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln sind diese Flächen damit nicht verwendbar.« Diese Flächen dauerhaft bewachsen zu halten, sei eine »Ewigkeitsaufgabe, die noch viele Generationen nach uns beschäftigen wird«, sagt die Managerin. Denn solange sie durchgehend bewachsen bleiben, ruhen Nickel. Kadmium und Blei dauerhaft immobil im Boden ruhen. Gelangt allerdings Regen ungehindert darauf, wandern sie ins Grundwasser. 

Wiener Landwirtschaftsbericht

Seit 2003 veröffentlichen Stadt Wien und Landwirtschaftskammer alle zwei Jahre einen umfassenden Bericht zur Landwirtschaft im Stadtgebiet.
stadtlandwirtschaft.wien


Mit Unternehmen, die durch anderweitigen Flächenverbrauch zu Kompensationsmaßnahmen verpflichtet sind, werden diese Flächen langfristig verbessert – und zum Beispiel zu Streuobstwiesen. Lose auf selten gemähten Wiesen wachsende Apfelbaumbestände sind nicht nur besonders wertvolle Lebensräume für seltenes Getier und Wiesenpflanzen. Eine Untersuchung mit der Humboldt Universität hat ergeben, dass die Schwermetalle nicht in die Äpfel oder andere Früchte gelangen. Lediglich reife Holunderbeeren, Holunder gilt als Schadstoffsammler, könnten belastet sein.

Jene 14.000 Hektar landwirtschaftliche Flächen im Berliner Umland, die die Stadtgüter verpachten, seien natürlich sehr begehrtes Land für Siedlungen, Gewerbe- und Infrastrukurprojekte. »Mein Auftrag ist aber in erster Linie, die landwirtschaftlichen Flächen zu beschützen. Wir haben deshalb etabliert, dass wir nichts mehr hergeben ohne entsprechende Tauschflächen«, so Stary. Dass die studierte Landvermesserin und Immobilienökonomin, die früher im Reale Estate Management der Berliner Flughäfen Verantwortung trug und dort auch die Enteignungsverfahren für deren Erweiterung übernommen hatte, ist für harte Verhandlungen wohl kein Nachteil. Lediglich bei der Erhöhung des Bioanteils der Flächen (derzeit: 8%) ist Katrin Stary vollkommen auf den guten Willen der PächterInnen angewiesen. »Wir würden Bio gerne stärker fördern. Das Problem ist aber, dass es aus historischen Gründen sehr langfristige Pachtverträge gibt, die teilweise bis 2056 laufen. Eine Umstellung geht als nur, wenn das ein/e PächterIn möchte.«

Die Berliner Stadtgüter feiern gerade ihr 150-jähriges Bestehen – ab September auch in einer virtuellen Ausstellung. Vor dem Zweiten Weltkrieg umfassten die Stadtgüter 25.000 Hektar, heute sind es 17.000. Nur durch Industrieabwässer kontaminierte Flächen (2500 Hektar) werden nicht bewirtschaftet. Bild: Berliner Stadtgüter GmbH.

Beim Bioanteil ist Wien deutlich weiter als Berlin. Bereits 31 Prozent der Fläche wird hier zertifiziert biologisch bewirtschaftet. Bis 2025 möchte man in der österreichischen Hauptstadt bei der Produktion und beim Konsum von Biolebensmitteln das Bundesland Nummer eins sein. (Zur Orientierung: Salzburg lag zuletzt flächenmäßig bei 57% Bioanteil.) Die Stadt Wien, mit selbst 2.000 Hektar landwirtschaftlich bewirtschaftet (etwa mit dem Bio-Zentrum Lobau oder dem Weingut Cobenzl), versteht sich als ökologischer Leitbetrieb, agiert seit Jahren biozertifiziert und verzichtet damit beispielsweise auf synthetische Spritzmittel. Zur Vermarktung ihrer eigenen Bioprodukte (und von Wildbret aus den Wasserschutzwäldern südlich von Wien) hat die Stadt zuletzt die Marke »Wiener Gusto« kreiert. Die Landwirtschaftskammer Wien, Interessensvertretung der hunderten restlichen Agrarbetriebe, propagiert als eigene Marke: »Stadternte Wien«.

»Die eine oder andere Chance in Nischen oder in der Direktvermarktung wird es noch geben«, ist sich Walter sicher. »Es braucht dafür aber Leute, die bereit sind Risiko auf sich zu nehmen und sich auf das Abenteuer einzulassen.«

Norbert Walter, Landwirtschaftskammer Wien

Ob Bio oder konventionell bewirtschaftet: bedroht sind die landwirtschaftlichen Flächen auch in Wien. Norbert Walter, seit Frühjahr Präsident der Wiener Landwirtschaftskammer und selbst Biowinzer, lobte bei seinem ersten offiziellen Auftritt als oberster Bauernfunktionär nicht nur die Vielfalt der Wiener Stadtlandwirtschaft, sondern gelobte auch »darauf zu achten, dass so wenig Boden wie möglich verloren geht oder versiegelt werden«. 85 Prozent der als Vorranggebiet Landwirtschaft gewidmeten Böden seien abgesichert, das dürfe auf keinen Fall weniger werden. Während anderswo Betriebe wachsen, Äcker oder Weinberge dazupachten können, ist das im Stadtgebiet aber nur bedingt möglich. »Die eine oder andere Chance in Nischen oder in der Direktvermarktung wird es noch geben«, ist sich Walter sicher. »Es braucht dafür aber Leute, die bereit sind Risiko auf sich zu nehmen und sich auf das Abenteuer einzulassen.« Seine Vision: Wien als »Innovation Lab« für moderne Landwirtschaft. Dazu soll es künftig auch einen eigenen »Innovation Day« geben. Sehr wahrscheinlich, dass es dabei auch Besuch aus Berlin geben wird.

Die virtuelle Ausstellung »Berlins grüner Schatz. 150 Jahre Berliner Stadtgüter« finden sich hier.

Hier gibt es alles über den Zukunftshof und dort stattfindende Projekte zu erfahren.

BIORAMA hat bereits über ein besonderes stadtlandwirtschaftliches Projekt, den Weinbau des Gemischten Satz innerhalb der Stadt Wien, geschrieben.

BIORAMA Wien-Berlin #3

Dieser Artikel ist im BIORAMA Wien-Berlin #3 erschienen

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