In die Gänge kommen

Körperliche Aktivität hat viele positive Effekte auf Körper, kognitive Fähigkeiten und Wohlbefinden. Gehen ist die niederschwelligste Form der Bewegung, kann Training sein oder aktive Pause. 

Eine Straße mit vielen FußgeherInnen.
Gehen spielt für die Gesundheit in verschiedensten Aspekten eine Rolle, diese reichen vom Herz-Kreislauf-System bis zur mentalen Gesundheit. Bild: Istock.com/Leo Patrizi.

BIORAMA: Seit einigen Jahren gibt es Empfehlungen – nicht nur von der WHO – zum Zufußgehen. Entsprechen diese dem Stand der Forschung?
Johanna Porst: Die WHO-Leitlinien zu körperlicher Aktivität und sitzendem Verhalten empfehlen erwachsenen Menschen mindestens 150–300 Minuten moderate oder 75–150 Minuten intensive körperliche Aktivität in Kombination mit mindestens zwei Mal Krafttraining pro Woche, um die positiven Gesundheitseffekte von körperlicher Aktivität voll ausschöpfen zu können. Ziel sollte es sein, gesundes Altern zu ermöglichen und damit eine hohe Lebensqualität zu erhalten. Diese Empfehlungen basieren auf Ergebnissen umfangreicher Studien mit sehr großen Stichproben und sind demnach Durchschnittswerte. Mit Einhaltung dieser Empfehlungen ist die Chance sehr hoch, vielseitige positive Effekte zu erzielen. Vorausgesetzt natürlich, Vorerkrankungen, Verletzungen und persönliche Vorkenntnisse werden berücksichtigt, um kein unnötiges Risiko einzugehen.
Zu Fuß gehen ist insofern empfehlenswert, da es eine kostengünstige und unkomplizierte Aktivität ist, die uns in der Regel vor wenig technische und infrastrukturelle Anforderungen stellt. Wissenschaftlich ist die positive Wirkung des Gehens belegt. Grundsätzlich gilt allerdings, »jede Bewegung ist besser, als gar keine« – schließlich muss man irgendwo anfangen. Zunächst ist es relativ unerheblich, ob Bewegung zu Fuß, auf dem Rad, im Wasser oder sonstwo stattfindet. Wichtiger ist, dass der Trainingsreiz adäquat gesetzt wird und es idealerweise sogar Spaß bereitet. 
Die sportwissenschaftliche Herangehensweise ist natürlich deutlich detaillierter und ermöglicht durch entsprechende Diagnostik, gezielte und individuelle Trainingsempfehlungen.

Also spielt das Gehen tatsächlich eine Rolle, um sich gesund zu halten?
Es kann eine sehr große Rolle spielen. Ob nun für das Herz-Kreislauf-System, die Knochengesundheit, die Skelettmuskulatur, den Energiestoffwechsel, die Krankheitsprävention, allgemeine und spezifische motorische Fähigkeiten, die Sturzprophylaxe, das Immunsystem oder natürlich auch die mentale Gesundheit. Die Liste ist sehr lang und vielfältig. Die Häufigkeit, die Intensität, die Dauer und die Art der Geheinheiten bestimmen den Effekt.
Mit zunehmendem Alter nimmt Krafttraining jedoch eine wichtigere Rolle ein: Es gilt, dem natürlichen Verlust der Muskelmasse (Sarkopenie) entgegenzuwirken – dazu reicht regelmäßiges Spazierengehen leider nicht aus. Außerdem spielen beim Altern weitere Faktoren, wie gesunde Ernährung, Konsumverhalten und auch die Genetik, eine entscheidende Rolle.

Älterwerden

Ab dem 30. Lebensjahr beginnt der altersbedingte Abbau von Muskelmasse mit bis zu einem Prozent Muskelmasse jährlich. Im Alter von 80 Jahren kann man so bis zu 50 Prozent der Muskelmasse verloren haben.

Was alles kann durch regelmäßiges Gehen verbessert werden?
So pauschal kann man das leider nicht beantworten. Es hängt einerseits vom individuellen Leistungsniveau und der Intensität bezogen auf Geschwindigkeit und/oder Steigungsprofil ab, andererseits aber auch von der Dauer und Häufigkeit der Einheiten. Für einen völlig untrainierten Menschen ohne Vorerfahrung kann selbst ein zehnminütiger, etwas zügigerer Spaziergang als adäquater Trainingsreiz dienen. Für einen sehr gut trainierten Menschen wiederum stellt dies allenfalls eine regenerative Einheit oder eine sogenannte aktive Pause dar. Man muss sportliches Training immer möglichst an die individuelle Fähigkeit anpassen und mit zunehmender Leistungsfähigkeit den Trainingsreiz sinnvoll steigern. 

Ist Gehen »nur« für jene, die nicht laufen oder andere intensive Sportarten ausüben oder ist Gehen an sich sinnvoll?
Das hängt eben vom Leistungsniveau und der Dosis ab. Auch das »Gehen« kann als Leistungssport ausgeübt werden. Abgesehen vom Leistungssport aber bringt das Gehen, gegenüber anderer Sportarten, gewisse Vorteile mit sich. Sich unter normalen Schwerkraftbedingungen zu bewegen, schult zugleich den Gleichgewichtssinn und die Motorik. Der Druck und Zug auf Knochen und Gelenke unter dem Einfluss der Schwerkraft bewirken eine Stärkung dieser Strukturen. Gegenüber anderen Sportarten ist Gehen zudem durch die geringeren Aufprallkräfte gelenkschonender und die Verletzungsgefahr durch Stürze erheblich geringer.

Warum überschätzt man immer wieder, wie viel man geht?
Mein Eindruck ist, dass die meisten überrascht sind, wie lange es dauert, eine gewisse Schrittzahl zu erreichen. Schrittzähler sind  hilfreich, um einmal zu erfassen, wie viele bzw. wenige Schritte man im Alltag wirklich macht.

Es gibt diese Marke der 10.000 Schritte, die auch immer wieder infrage gestellt wird. Wo steht die Forschung hier heute?
Die Zahl 10.000 kam ursprünglich als Marketingstrategie auf den Markt und hatte überhaupt keinen wissenschaftlichen Hintergrund. Ich würde empfehlen, exemplarisch eine Woche zu beobachten, wie viel Schritte man durchschnittlich pro Tag macht. Zu dieser persönlichen, durchschnittlichen Schrittzahl würde ich ca. 2000 Schritte addieren und als individuelles Ziel festlegen. Wird gleich der Marathon angestrebt, erscheint das Ziel vermutlich zu weit weg und die Motivation schwindet, bevor es richtig losgeht.

Leistungssport

Gehen ist auch olympischer Leistungssport, bei dem teilweise über 14 km/h erreicht werden.

Dem Zufußgehen wird auch eine psychische Wirkung, Entspannung oder Denkförderung zugeschrieben.
Hier würde ich zunächst zwischen kognitiven Fähigkeiten und mentaler Gesundheit unterscheiden, obwohl sich die beiden Aspekte gegenseitig bedingen. Es ist bekannt, dass körperliche Aktivität eine erhöhte Durchblutung im Gehirn bewirkt. Der erhöhte Stoffwechsel fördert zudem den Abbau von Stresshormonen und es werden vermehrt Wachstumsfaktoren ausgeschüttet, die etwa das Volumen des für die Gedächtnisleistung verantwortlichen Hippocampus vergrößern. Das Gehirn kann also funktionell und strukturell durch körperliche Bewegung verändert werden. Diese Veränderungen haben einen protektiven Effekt bezogen auf neurogenerative Erkrankungen wie beispielsweise Alzheimer, außerdem verbessern sie die Vernetzung und Stabilisierung von Nervenzellen, was die kognitive Funktion fördert. 

Und im Bezug auf mentale Gesundheit?
Körperliche Aktivität kann die Symptome psychischer Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen lindern – laut Studien mindestens so wirkungsvoll wie pharmakologische Therapien. Zudem werden durch die körperliche Bewegung verschiedene Transmitter ausgeschüttet, die Glücksgefühle freisetzen, die Leistungsbereitschaft erhöhen und eine Art Belohnungseffekt vermitteln. Ein weiterer vielfach bestätigter Effekt auf die mentale Gesundheit ist die Steigerung der Selbstwirksamkeit, die Erfolgserlebnisse steigern Selbstvertrauen und –bewusstsein. Wichtig hierbei ist es, darauf zu achten, Überforderung, Schmerzen und negative Erlebnisse unbedingt zu vermeiden.

Johanna Porst ist Sportwissenschafterin an der Berliner Charité und der Humboldt-Universität zu Berlin.

BIORAMA WIEN-BERLIN #4

Dieser Artikel ist im BIORAMA WIEN-BERLIN #4 erschienen

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