Zeit für Pilze #2
Kosmonauten auf der Jagd – Sebastian Rahs
Die sagenhafte Idee zu dieser Mission verfolgt mich schon seit einer Zeit, als ich noch ohne Sekundärbehaarung auskommen musste. Seit mehr als fünfzehn Jahren habe ich jetzt schon die Grundriss-Skizze für die selbstgezimmerte Hütte im Kopf. Da erscheinen jetzt Nebensächlichkeiten wie ein viel zu kleines Zeitfenster oder der dafür obligate, aber organisatorisch kaum zu stemmende Jagd- und Waffenschein schnell als unwichtiges Beiwerk. Yannick ist aus seiner Jugendmannschaft-Seilschaft professionelle Planung und pragmatische Herangehensweise bei Vorhaben solcher Art gewohnt. Die kann ich ihm nicht bieten, nur eine Idee, ein Gefühl, meinen nicht enden wollenden Enthusiasmus und den immer wiederkehrenden, beschwichtigenden Spruch, dass ich das alles schon tausende Male gemacht hätte. Zumindest im Gulliver. Doch Yannick ist ein Mann, der weiß, was es bedeutet, Missionen zu haben. Schließlich hat er schon versucht, mir das Bergsteigen unter dem Terminus »siegen lernen« nahe zu bringen. Mit seinen 25 Jahren kann er jederzeit argumentieren, warum er sich der jeweiligen Situation gerade besonders gut gewachsen fühlt. Entweder begründet er es mit Lobhudeleien über den Erfindergeist der Schwaben, den Eigenheiten eines guten Alpinisten, oder, wenn sonst gar nichts mehr hilft, mit seiner speziellen Problemlösungskompetenz als steirischer Kosmonaut.
Umso mehr ist es für mich verwunderlich, wie gering jemandes Resistenz gegenüber der plötzlich Realität gewordenen, erwarteten Stechmückeninvasion im ersten Birkenwäldchen kaum zwanzig Minuten nördlich des Bahnsteiges von Nirgendwo sein kann. Doch auch meine schier unendliche Begeisterung erleidet schon am ersten Abend gehörig Schiffbruch. Die vorgefundene Feuerstelle vor der kleinen roten Stuga ist einseitig windgeschützt und scheint eine Art variablen Zug – ein rostiges Eisenblech – zu besitzen. Trotz dieses – im Kontext der Ausstattungsklasse unserer Residenz – als Outdoor-Hightech zu wertenden Elements muss ich feststellen, dass nicht einmal mein angehäuftes Wissen über die Entfachung eines wärme- und in diesem speziellen Falle lebenspendenden Feuers ausreichend vorhanden scheint. Meine Bushcraft-Künste sind dafür aber nicht allein verantwortlich zu machen. Es gibt kein brennfähiges Holz in Lappland. Die mickrigen Bäumchen verfaulen hier schon zu Lebzeiten. Da hilft auch die 3.000°C-Feuerstange nichts. Nein, auch kein Feuerzeug.
Mit dem Erwachen am nächsten Morgen verliere ich mein Zeitgefühl. Es ist vermutlich Mittag, als wir die Pålno Stuga hinter uns lassen. Der Himmel über dem See wirkt auf mich nichtssagend blass und ungesund. Wir entscheiden uns für die weitere Suche nach der Grundfeste unserer Hütte gegen das Hinterland und somit dem Fjell als temporären Lebensraum und beschließen das Ufer entlangzugehen. Das Landschaftsbild wechselt immer wieder zwischen grasbedecktem, modrigem Sumpf, lichtem Zwergbirkenwald und den für Lappland charakteristischen Beerensträuchern. Ich versuche Yannick – ganz in Survival-Manier – zum Fastfood zu animieren, Pilze und Beeren gibt es hier en masse, auch lassen Wildpfade, Wildautobahnen und Herbivoren-Haufen auf rege Fauna schließen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die einzig reife Beerenart in dieser Gegend als Wachholder; Blau- und Preiselbeeren scheinen in diesem Jahr nicht Saison zu haben. Manche Kötteln schauen mehr nach Fleischfressern aus, was zwar dem Jagderfolg nicht direkt im Wege stehen sollte, jedoch Konkurrenz vermuten lässt. Immerhin die Pilze scheinen schmackhaft oder zumindest genießbar, zumindest, falls das Pilzbestimmungsbuch aus der Billigecke Recht behalten sollte.
Als sich der Tag dem Ende zuneigt, stehen wir vor der Wahl zwischen drei potenziellen Bauplätzen für die Errichtung unseres Eigenheims. Wir entscheiden uns gegen jegliche Vernunft für eine ausgesetzte Landzunge. Ein trotziger Versuch, der Natur einen Rest an Macht entgegenzubringen. Und ein Eingeständnis an unsere geplagten Nerven. Die omnipräsenten, kleinen Arschlöcher sind zu schwach für die steife Seebrise. Nach dem Errichten einer Feuerstelle, die mich ziemlich zufrieden stimmt – sie besitzt sogar eine dünne Spaltgranit-Kochplatte, purer Luxus, wie mir erscheint – und dem Erarbeiten der Erkenntnis, dass Schwemmholz zwar keinen Brennwert, aber zumindest – nennen wir es »Brenn« – besitzt, ist es bereits zu düster, um zu jagen. Der wissende Jäger würde hierbei seinen bestirnlampten Hut schütteln, doch düster erscheint es mir hier in beiderlei Bedeutung. Um dem ersten Schauder vor dem finsteren Hinterland zu entgehen, versuche ich in unmittelbarer Nähe des Lagers mein Glück mit meinem Supertrumpf, einer an einem abgesägtem Griff montierten Angelspule mit dem in Nordschweden beliebten Blinker-Köder. Doch der Torneträsk ist offensichtlich zu kalt, um Fische in befischbarer, seichter Ufernähe überleben zu lassen. Und das verheißungsvolle, an der Bundesstraße vernommene Vertikalangel-Verbotsschild bestätigt mir insgeheim meine Vermutung über den Verbleib unseres Abendessens in den fernen Tiefen des mittlerweile nachtschwarzen Sees. Fische sind die einzige Nahrung, mir der wir, auch falls sonst alle Stricke reißen sollten, fix gerechnet haben.
Für diesen Abend setzen wir also voll auf Pilze. Yannick will nur ein bis zwei kosten, damit – sollte die Giftkeule verspätet zuschlagen – er noch in der Lage sei, einen Rettungsversuch zu starten. Der Gedanke missfällt mir. Mit Absicht esse ich mehr als ich für richtig halte. Wir verkriechen uns in unseren Schlafsäcken und bauen uns rings um das angeblich schützende Feuer auf. Morgen wird sicher alles gut. Dann werden wir die lieblich erscheinenden Südhänge bejagen, an denen wir schon auf dem Weg hierher kleine Hühner beobachten konnten, und sie am Abend mit Preiselbeeren verspeisen.
Leere im Rebhuhnland – Yannick Gotthardt
Am Morgen des dritten Tages machen wir uns nach dem Tee früh auf, um Tiere zu erlegen. Der heutige Tag fühlt sich ernst an. Heute müssen wir etwas zu essen auftreiben. Bereits nach einer halben Stunde des gemeinsamen Herumschleichens trennen wir uns halb zufällig und wortlos. In den Rebhuhnländern sind keine Hühner mehr. Dafür ist es heiß. Ich steige automatisch am Hang nach oben, ich will zur Baumgrenze und bilde mir ein, auf dem Weg dorthin am effektivsten alle Vegetationsräume auf essbare Fauna hin kategorisieren zu können. Der Versuch bleibt ergebnislos. Auf dem Rückweg finde ich die Hühner in den Sumpflandschaften. Sie lassen mich auf acht Meter an sich heran, was prinzipiell nah genug wäre, doch ich sehe sie bis dahin im hohen Gras nicht. Erst wenn sie plötzlich auffliegen, sind sie zu entdecken. Ab diesem Moment bleiben sie jedoch auf 15 Meter Distanz, gerade außer Reichweite. Sie scheinen sich auszukennen mit den Gefahren von Steinschleudern. Die restliche Lebendnahrung ist leider zu groß für die Steinschleuder. Irgendwie scheint es mir blöd, die Bewaffnung frühzeitig auf Rebhühner festgelegt zu haben. Die theoretische Unbefristetheit macht mir an meiner neuen Outdoor-Existenz immer mehr zu schaffen. Ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, uns mit den zur Verfügung stehenden Mitteln hier nicht dauerhaft ernähren zu können. Zudem empfinde ich jetzt schon eine sich beschleunigende körperliche und mentale Verrohung. Irgendwie ist das alles grob unromantisch hier. Normalerweise, beim Klettern, versuche ich meinen Körper möglichst lange in Ordnung zu halten. Hier ist mir alles egal. Der Schweiß, der Schmutz und ab Tag 3 mittlerweile selbst die Gelsen.
Die körperliche Belastung ist in großen Alpenwänden zwar um ein Vielfaches höher, aber sie ist zielgerichtet und selbst wenn man eine Woche am Berg ist, sind die Tage gezählt. Hier wollen wir ja theoretisch einen stabilen Zustand erreichen. Doch dafür müsste sich brauchbares Essen finden. Den entscheidenden emotionalen Unterschied zwischen Outdoor-Sport und Outdoor-Leben mache ich folgendermaßen fest: Während hungriger Nächte auf alpinen Biwakschachteln nehme ich mir fest vor, im Tal beim ersten Mc Donald’s zwei bis drei Big Mac-Menüs zu ordern. Hier in Lappland stelle ich mir vor, als erste Maßnahme in der Zivilisation zwei Kilo Nudeln zu kaufen und mit viel Sauce Bolognese zu verputzen. Die Wildnis sorgt scheinbar für authentischeren Hunger.