Zeit für Pilze #1
Unser Plan lautete: Zwei Wochen Auszeit vom Alltag, Natur pur, mit allen dazugehörigen Risiken und ohne touristische Infrastruktur. Unser Ziel: Lappland, ein wahres Sehnsuchtsland. Das Ergebnis: Die Wildnis birgt auch nicht mehr Gefahren als die sogenannte Zivilisation, aber deutlich weniger Hilfen.
Konsumieren kann jeder. Doch auch als Konsumenten kann man sich, sportlich betrachtet, gehobene Ziele setzen. Um es als solche zu wahrer Meisterschaft zu bringen, machten wir uns auf, den Ausstieg aus der Konsumgesellschaft zu konsumieren. In mundgerechten Dosen, als Touristen, im Sommerurlaub in Lappland.
Mit Axt, Angel und Steinschleuder sind wir losgezogen, um ganz im Sinne von Henry David Thoreau den Ausstieg aus der Gesellschaft zu exerzieren. Um herauszufinden, ob Aussteigen wirklich so romantisch ist, zunächst im Feldversuch als zweiwöchiger Probelauf. Seitdem Thoreau in »Walden« zum ersten Mal seine bewusste Lebensentscheidung gegen die Industrialisierung und zurück zur Natur niederschrieb, sind bereits 150 Jahre vergangen. Zurück in Amerikas Gründerjahre wollten wir uns nicht begeben, aber seine Idee auf die Postmoderne übertragen – so viel Ehrgeiz ist schon mitgereist. Zwei Wochen in der Wildnis zu campen ist natürlich relativ leicht, wenn man Zelte, Kocher und Nahrung mitnimmt. Darum haben wir all das zuhause gelassen. Stattdessen lag ein Haufen Messer aus der Signature-Serie des britischen Fernseh-Pfadfinders Bear Grylls im Seesack – sicher ist sicher, die Werbung lügt schließlich nicht. Ansonsten waren Schlafsäcke, Isomatten, ein aufspannbares Not-Shelter, Stirnlampen, eine Hightech-Angel, ein Topf, Parvin Razavis selbstgebackene Energieriegel (hier geht’s zum Rezept) und etwas pappiges Brot vom Bahnhofsshop dabei. Verzichtet wurde auf GPS-Gerät, Solarpanel, Satellitentelefon, Kocher und getrocknete Trekking-Nahrung. Am Ende haben die Steinschleudern wider Erwarten nicht den entscheidenden Unterschied gemacht.
Bärte, die nicht brennen – Yannick Gotthardt
Pilze gehören zu jener Sorte Essen, die sich äußerst leicht fangen lässt – das ist ihr größter Vorteil. Damit verhalten sie sich konträr zu Forellen, Rebhühnern, Rehen, Rentieren, Elchen und Braunbären. Um satt zu werden, braucht man aber ziemlich viele Pilze pro Person, ganz im Gegensatz zum Braunbär beispielsweise, bei dem die »Sattwerden-pro-Person-Ratio« äußerst gering ist. Vorausschauenderweise beginnt Sebastian daher bereits kurz nach dem Bahnhof von Björkliden mit dem Sammeln von Pilzen. Dass er damit rationaler handelt als es sich anhört, liegt nur zu einem geringen Teil daran, dass wir kein Schießgewehr haben. Vor allem aber liegt es an Björkliden selbst. Der Bahnhof besteht hier aus einem Holzsteg als Bahnsteigersatz, und einem ganzjährig beheizten Wellblechcontainer als Warteraum. Das ist ziemlich wenig Bahnhof, aber wenn man bedenkt, dass Björkliden 20 Einwohner hat, ist die »Bahnhof-pro-Person-Ratio« ziemlich hoch. Björkliden liegt am Südufer des schwedischen Torneträsk-Sees in Lappland, 30 Kilometer vor der norwegischen Grenze entfernt. Der See ist mit 330 Quadratkilometern mehr als halb so groß wie der Bodensee. Im Einzugsgebiet des Bodensees leben rund 1,6 Millionen Menschen. Am Torneträsk leben gut 100 Menschen. Viel Platz pro Einwohner, besonders in den sieben Monaten im Jahr, in denen die 330 Quadratmeter gefroren sind. Da es von Björkliden aus nur sieben Kilometer bis zur Westspitze des Torneträsk sind, erreicht man dessen Nordufer in nur einer Tageswanderung. Von der Abzweigung in die Wildnis dauert es dennoch überraschend lange, den kleinen nördlichen Zipfel an der Westspitze zu erreichen.
Ich bin Alpinist. Ich habe noch nie mit anderen als topografischen 1:25.000-Karten gearbeitet. Unsere Karte hier hat ein Abbildungsverhältnis von 1:100.000. Normalerweise wäre es eher eine Straßenkarte als eine topografische Karte, aber Straßen gibt es ja praktisch keine. Den ganzen Tag über bewegen wir uns nur wenige Zentimeter auf der Karte fort. Ein GPS wäre hilfreich gewesen. Eigentlich wollten wir bis zum Ende des ersten Tages einen geeigneten Platz finden, an dem sich in den folgenden Tagen eine Hütte bauen lässt. Als es dunkel wird, sind wir jedoch erst halb so weit gekommen wie gedacht. Dafür finden wir am Ende des letzten Wanderweges, an genau der Stelle, an dem wir ihn zum unberührten Wald hin verlassen wollen, eine kleine rote Selbstversorgerhütte mit Ofen und Notfalltelefon. Die Pålno-Stuga. Wir verschieben, bleiben über Nacht.
Vor der Hütte macht sich Sebastian mit den örtlichen Charakteristika von Feuer vertraut. Dafür hat er am Wegesrand »Old Man’s Beards« gesammelt. Die baumwollartigen Blüten irgendeines Busches eignen sich hervorragend, um Feuer zu entfachen, meint er. Ich habe keine Ahnung. Basti ist ein echter Pfadfinder, ich muss ihm glauben. Ich kann kein Feuer machen. Ich kann nur meinen 60 Gramm leichten High-Tech-Gaskocher anzünden, aber der musste leider zu Hause bleiben. Um in dieser Situation besonders authentisch agieren zu können, hat sich Sebastian wochenlang einen Vollbart wachsen lassen. Noch zu Hause in den Bars von Wien war es faszinierend zu beobachten, wie sein Bart für die Idee, nördlich des 68. Breitengrades ohne Nahrung und mit minimaler Ausrüstung Zeit zu verbringen, Anerkennung erntete. Mein bübisches Gesicht wurde dagegen nur nach der Sinnhaftigkeit der Unternehmung befragt. Beim Feuermachen scheint der Bart jetzt aber umso weniger zu helfen …