Als die Tiere den Truppenübungsplatz verließen

Wie sollen sich Mensch und Wolf künftig die Natur teilen?

Ein Screenshot aus dem Musikvideo »Wolfsfreie Zone« der Rap-Crew »Von Seiten der Gemeinde«. Er zeigt einen Wald im Dunkeln, in dem auf zwei Beinen stehende Wölfe mit leuchtenden Augen zu sehen sind.
Ein Screenshot aus dem Musikvideo »Wolfsfreie Zone« der Rap-Crew »Von Seiten der Gemeinde«. Er zeigt einen Wald im Dunkeln, in dem auf zwei Beinen stehende Wölfe mit leuchtenden Augen zu sehen sind. Bild: Screenshot Fat Green Studios.

Ausgangspunkt seiner Ausbreitung waren Truppenübungsplätze, in Deutschland wie in Österreich: Ein Jahrhundert nach der Ausrottung des Wolfs gab es 2000 erstmals im sächsischen Oberlausitz wieder Nachwuchs von aus Polen eingewanderten Elterntieren; 2016 schließlich auch im niederösterreichischen Allentsteig – wo abgewanderte Jungtiere aus Brandenburg ein Rudel gegründet hatten. Bereits als die ersten Tiere die Truppenübungsplätze verließen, mehrten sich nicht nur Sichtungen. Bald kam das Raubtier auch den Schafen, Ziegen, Mutterkühen und Ponys des Menschen ins Gehege.

Mensch vs. Wildtier – ein globaler Konflikt

In Mitteleuropa beschäftigt uns die Rückkehr von Wolf, Bär, Luchs, aber auch Fischotter, Reiher, Kormoran oder Biber. In anderen Weltgegenden sind es Puma, Löwe, Tiger, Elefant oder Eisbär.

Mittlerweile gibt es in Deutschland mindestens 158 Wolfsrudel, 26 Wolfspaare und 19 Einzelwölfe (Monitoring-Stand 2020/2021). Das von der Bundesregierung in Wien eingerichtete »Österreichzentrum Bär Wolf Luchs« geht von 50 Wölfen aus, die sich 2022 im Bundesgebiet aufhielten (4 Rudel, 30 Einzeltiere). In der gesamten Europäischen Union dürfte es derzeit 17.000 Wölfe geben. Zwar wurden die von der Large Carnivore Initiative zusammengetragenen Zahlen methodisch nicht einheitlich erfasst. Da der Wolf vielerorts ausgerottet gewesen war, gilt seine Rückkehr aber eindeutig als Erfolgsgeschichte des europäischen Artenschutzes. Von der Weltnaturschutzunion IUCN, die auch die Rote Liste der gefährdeten Arten erstellt, wird er bereits seit einigen Jahren nicht mehr als gefährdet (»least concern«) geführt. Von der Jagd ausgenommen bleibt er allerdings in fast allen Ländern der EU. Das regelt deren Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Vor allem von der Landwirtschaft wird immer öfter beanstandet, dass dieser strenge Schutzstatus nicht mehr gerechtfertigt sei. Der Herdenschutz von Weidetieren ist teuer und aufwendig – und zumindest in den norddeutschen Deichlandschaften und höher gelegenen Almregionen schwierig. Bislang blitzten die AgrarpolitikerInnen der Alpenländer aber mit all ihren Ansinnen, den Schutzstatus des Wolfs herabzusetzen, ab. Dafür wäre ein einstimmiger Beschluss im Europäischen Rat Voraussetzung. Der ist derzeit – noch – unrealistisch. Auch Abschussbescheide einzelner Bundesländer für einzelne »Problemwölfe« werden nach Einsprüchen von Naturschutzorganisationen wie dem WWF immer wieder aufgehoben.
Das Land Tirol wandte sich deshalb zuletzt an den Europäischen Gerichtshof und forderte eine Stellungnahme in Bezug auf den Gleichheitsgrundsatz. Denn einige EU-Länder sind vom strengen Schutz ausgenommen. Schweden beispielsweise setzt jährlich eine Quote für Abschüsse fest und verhindert, dass sich ganz im Süden (Weidetierhaltung) und ganz im Norden (Rentierhaltung) des Landes dauerhaft Wolfsrudel bilden. Einzeltiere werden überall toleriert. Der österreichische Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig schmiedete im September deshalb eine »Schutz vor dem Wolf«-Allianz: 16 Länder – darunter Alpenländer wie Italien, Frankreich und Slowenien, aber auch Kroatien, Finnland, Rumänien oder Dänemark – unterstützten seinen Antrag auf Anpassung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie im Agrarrat. Auffällig: Das grün geführte deutsche Agrarressort war nicht darunter. Auch in Österreich bleibt fraglich, ob das formal dafür zuständige, von der grünen Ministerin Leonore Gewessler geführte Klimaschutzressort einem geänderten Schutzstatus zustimmen würde. Auszuschließen ist ein Kuhhandel freilich nie. Immerhin würde es nicht bedeuten, dass der Wolf einfach willkürlich erlegt werden darf, wenn er vom Anhang IV in den Anhang V der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie rutscht.

Die Tiroler Rap-Crew »Von Seiten der Gemeinde« schaffte mit »Wolfsfreie Zone« einen kleinen Youtube-Hit. Bild: Screenshot/Fat Green Studios.

»Ökologie ist keine Mathematik«

Strittig bleibt der in beiden Anhängen als Ziel angeführte sogenannte günstige Erhaltungszustand der Art. Die einen sehen diesen längst erreicht, die anderen noch lange nicht. Harte Zahlen, wann dieser genau erreicht ist oder wäre, gibt es nicht. »Ökologie ist keine pure Mathematik. Manche Fragen sind auch nicht allein naturwissenschaftlich zu beantworten, sondern werden gesellschaftlich ausverhandelt«, sagt Albin Blaschka, Geschäftsführer des Österreichzentrums Bär Wolf Luchs. Letztlich sei die Beurteilung über den günstigen Erhaltungszustand einer Art immer eine Einschätzung von ExpertInnen. Derzeit sind diese uneinig. »Vom Aussterben bedroht ist der Wolf nicht«, sagt Blaschka, stellt aber klar: »Die derzeit 50 Tiere in Österreich sind für die Erfüllung der FFH-Richtlinie zu wenig.« Auf eine Zahl festlegen möchte Blaschka sich nicht. Stattdessen verweist er auf die Studie »Wolf In The Alps« der Schweizer Stiftung für Raubtier- und Wildtiermanagement KORA aus dem Jahr 2016. Diese sah in Österreich wie in Italien jeweils einen prinzipiellen Lebensraum für 39 Wolfsrudel (»minimum number«).

Ein Screenshot aus dem Musikvideo »Wolfsfreie Zone« der Rap-Crew »Von Seiten der Gemeinde«. Es zeigt ein Plüschschaf, welches vor einem Zaun zu anderen Plüschschafen spricht. Hinter ihm sind Anti-Wolf Plakate zu sehen.
»Schickats’n zruck! Schlitzats’n auf! Stopfats’m Stoarn in Bauch! Schmeißats’n in Brunnaschåcht, sonscht weard då no a Rudel draus!« – In ihrem Mundart-Rap samplen und zitieren sich »Von Seiten der Gemeinde« durch Märchen, PolitikerInnenstatements und wütende Wortmeldungen der Tiroler Landbevölkerung. Aktuelles Album: »Almen aus Plastik«. Bild: Screenshot/Fat Green Studios.

Dass es so weit kommt, scheint derzeit unrealistisch. Für ein dauerhaftes flächendeckendes Wolfsvorkommen fehlt die Akzeptanz – einerseits weil Bäuerinnen und Bauern drohen, die Freilandhaltung ihrer Weidetiere oder gar die Almwirtschaft zur Gänze aufzugeben; andererseits, weil populistische PolitikerInnen gezielt die Angst vor dem Wolf schüren. In Österreich müsste es längst deutlich mehr Wölfe geben. Selbst hohe Jagdfunktionäre gehen hinter vorgehaltener Hand von schwarzen Schafen in den eigenen Reihen und illegalen Abschüssen aus.

Gehört der Wolf reguliert?

»Die Gesetze hinken der Realität hinterher«, sagt Klaus Hackländer, Leiter des Instituts für Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Wiener Universität für Bodenkultur und Vorstand der Deutschen Wildtierstiftung. Dass der Wolf in den Anhang V der EU-Richtlinie wandert, erachtet er als »aus meiner Sicht alternativlos«. Auf der Basis eines fundierten, transparenten Monitorings könnten die Mitgliedsstaaten dadurch die Wolfspopulationen besser regulieren. Der Wolf bliebe dabei geschützt – wie beispielsweise Gams, Schneehase oder Baummarder. Gefahr für den Menschen gehe vom Wolf derzeit keine aus, stellt der Wildbiologe klar. »Damit das auch so bleibt, plädiere ich dafür, den Wolf durch geregelte Bejagung scheu zu halten – nicht in Österreich, da gibt es noch zu wenige, aber in Deutschland.«

Mythos »wolfsfreie Zone«

Immer wieder sind auch Forderungen nach »wolfsfreien Zonen« zu hören, vor allem aus Landwirtschaft und Tourismus; zuletzt beispielsweise im Tiroler Landtagswahlkampf. Daran werden vielfach falsche Erwartungen geknüpft. Weidetiere müssen nämlich auch in wolfsfreien Zonen geschützt werden. Denn dort wird nur verhindert, dass sich dauerhaft Wölfe etablieren. Durchwandernde Jungtiere wird es auch dort immer geben. »In der Praxis würde das bedeuten, dass wolfsfreie Zonen eine ganzjährige Bejagung der Wölfe mit sich bringen. Muttertierschutz fällt ohne Rudel ja aus«, erklärt Hackländer. Erlegt würden nur Tiere, die sich dauerhaft an einem Ort aufhalten. »Es bleibt aber die Frage, wer das umsetzen soll«, meint der Wildbiologe: »Will und kann das die Jägerin oder der Jäger vor Ort? Eventuell freut sie oder er sich über den Wolf im Revier.« Immer wieder hat sich auch gezeigt, wie schwierig es ist, ein von den Behörden als »Problemwolf« zum Abschuss freigegebenes Tier auch wirklich zu erlegen.
Aus wildbiologischer Sicht kommt Österreich als Wolfsland besondere Bedeutung zu. Derzeit stammen etwa zwei Drittel der durch DNA-Tests im Bundesgebiet identifizierten Tiere aus der italienischen Population. Der Rest entstammt der Tieflandpopulation Deutschlands und Polens, einzelne Tiere dem Balkanraum. Dass diese in Österreich aufeinandertreffen, ist also wichtig für die genetische Vielfalt des Eurasischen Wolfs.

Mit Mahnfeuern machen Bergbauern im Alpenraum auf ihre Ablehnung aufmerksam. Weithin sichtbar ihre Forderung: »Alm ohne Wolf«. Bild: Martin Klinger.
Mit Mahnfeuern machen Bergbauern im Alpenraum auf ihre Ablehnung aufmerksam. Weithin sichtbar ihre Forderung: »Alm ohne Wolf«. Bild: Martin Klinger.

Manche lehnen die Regulierung auch grundsätzlich ab, etwa Kurt Kotrschal, der renommierte Verhaltensforscher und Gründer des niederösterreichischen Wolf Science Center. Die Zahlen gerissener Weidetiere aus Frankreich, wo »nach EU-Regelungen illegal jedes Jahr etwa 10 Prozent aller Wölfe» abgeschossen werden, oder auch Daten aus den USA würden eindeutig zeigen, dass Bejagung die Nutztierverluste eher erhöht. Denn durch sie werden Rudelstrukturen gestört und somit das in Wolsfrudeln gelernte und weitergegebene Verhalten, sich vor allem von Wildtieren zu ernähren, unterbunden. »Im Interesse eines konfliktarmen Zusammenlebens mit Wölfen sollte man sie in der Regel also nicht bejagen und gleichzeitig auf Herdenschutz setzen«, sagt der Forscher. »Etablierte Rudel, die gelernt haben, dass sie Nutztiere besser in Ruhe lassen, sind der beste Schutzfaktor für lokale Weidetiere.« Nicht zuletzt weil Rudel mit durchziehenden Einzeltieren kurzen Prozess machen – und sie töten.

Bedingung und Notwendigkeit: Herdenschutz

Es gibt allerdings auch klare Nutznießer von Wolfsrissen: rechtsextreme Parteien. Zumindest für Deutschland wurde das in einer im Juli veröffentlichten Studie nachgewiesen. Darin haben der auf Misinformation spezialisierte Sozialforscher und Datenjournalist Bernhard Clemm von Hohenberg und der Sozialwissenschafter Anselm Hager (Humboldt-Universität Berlin) herausgefunden, dass in Deutschland von vom Wolf verursachten Nutztierrissen auf lokaler und Landesebene stets Rechts-außen-arteien wie die AfD profitierten – die in ihren Wahlkämpfen auch beharrlich auf dieses Thema setzten. Aus nachvollziehbarer Angst und Ohnmacht, die ein Teil der Landbevölkerung empfindet, wenn es um eigene Tiere und damit zusammenhängende wirtschaftliche Interessen geht, drohen diese in Parallelwelten voll von Halbwahrheiten, einfachen Lösungen und Wissenschaftsfeindlichkeit zu geraten. Die Studienautoren sehen durch den Zuspruch für rechtsradikale Parteien nicht nur Natur- und Artenschutzmaß, sondern auch den Kampf gegen den Klimawandel insgesamt gefährdet. Denn oftmals lehnen sie Umweltschutzmaßnahmen ab und leugnen, dass für den Klimawandel der Mensch mitverantwortlich ist. 

Im Paper »Wolf attacks predict far-right voting«, im Juli 2022 im US-amerikanischen Journal PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) veröffentlicht, konnte ein Zusammenhang zwischen Wolfsrissen und dem Stimmanteil rechtsradikaler Parteien in Deutschland festgestellt werden.

Die derzeitige Situation ist allerdings auch für moderate Kräfte unbefriedigend und auch für den Artenschutz perspektivlos. Denn dass es in vielen Fällen keine praktikablen Lösungen für von einzelnen Tieren verursachte Probleme gibt, fördert die Selbstjustiz mit dem Schießgewehr. Dass berechtigte Anliegen des Schutzes der Biodiversität von der unmittelbar betroffenen Bevölkerung vor allem mit Bürokratie in Verbindung gebracht werden, die sich für lokale Auswirkungen nicht zuständig zu fühlen scheint, liegt auch daran, dass von der politischen Lokal und Landesebene bei heiklen Entscheidungen stets auf die EU-Ebene verwiesen wird.
Zumindest auf eines können sich aber alle einigen: Ohne Herdenschutz – durch Zäune, Herdenschutzhunde, HirtInnen, nachts eingepferchte Schafe und Ziegen und durch möglichst wohlerzogene Rudel rundum – wird es nicht mehr gehen. Dass die Finanzierung von Herdenschutzmaßnahmen Ländersache bleibt, stark variiert und einzelne Bundesländer (in Österreich beispielsweise Kärnten) diese bislang ganz verweigern, könnte langfristig schwerer wiegen als einzelne »Problemwölfe«. Wer von Wolfsrissen hingegen profitiert, wird auch weiterhin wenig Interesse an Herdenschutzmaßnahmen zeigen.

Eine interaktive Karte, auf der die in Europa lebenden Wolfpopulationen zu sehen sind, bietet der Naturschutzbund Deutschland e.V..

Weitere Informationen zum Thema Wolf hat BIORAMA in Kooperation mit dem WWF auf einer eigenen Themenseite zusammengefasst.

BIORAMA #81

Dieser Artikel ist im BIORAMA #81 erschienen

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