Die Wohnstraße: Leben vor der Haustür

Wie tragen Wohnstraßen zum urbanen Wohlbefinden bei? Brigitte Vettori, Kultur- und Sozialanthropologin und Initiatorin von Space and Place, im Interview.

Generationen übergreifendes Wohnstrassenleben in Wien (Foto: Alissar Najjar)

Das Prinzip der Wohnstraße, die auch explizit als solche bezeichnet wird, steht gewissermaßen in Opposition zur reinen Autostraße. Wann tauchte das Konzept der Wohnstraße auf?
Brigitte Vettori: Das Konzept der »Wohnstraße« – in Deutschland »Spielstraße« genannt – kommt aus den Niederlanden. Die dortigen »Woonerven« wurden 1976 in die Straßenverkehrsordnung aufgenommen, nachdem AnwohnerInnen in der Stadt Delft unzufrieden mit der Verkehrssituation vor ihrer eigenen Haustüre waren. Sie begannen also Sandsäcke und andere Hindernisse auf die Straße zu stellen, um AutofahrerInnen einzubremsen und die Sicherheit für Menschen auf der Straße zu erhöhen. AnwohnerInnen konnten dann von den neuen »Woonerven« profitieren. Autos durften zwar noch in diese Straßen einfahren, aber eben nur langsam und es gab mehr Platz für Menschen. 

Das Konzept der »Woonerven« wurde von anderen Ländern übernommen – etwa von Dänemark, Schweden, Deutschland, Frankreich, England oder Israel – und zunächst auch von der Schweiz (dort wurde das Konzept später von jenem der »Begegnungszone« abgelöst, die aber nicht die gleichen Möglichkeiten wie die Wohnstraße bietet). In Österreich wurde das Konzept der »Wohnstraße« 1983 eingeführt, ohne jedoch die Vorteile dieser Straßen für Menschen gegenüber anderen Autostraßen mit zu kommunizieren: Autos sind auf der Wohnstraße nur Gast. Sie dürfen in Schritttempo zu- und abfahren. Menschen hingegen dürfen die Straße betreten, sich dort aufhalten und z. B. spielen.
In Wien – wie in vielen anderen Städten Europas – wird die Wohnstraße aufgrund fehlender Kommunikation der geltenden Regeln maximal als ein Konzept der Verkehrsberuhigung genutzt. Es gibt keine „Kultur des »Wohnstraßenlebens« beziehungsweise gab es bislang keine: Die Kulturinitiative »Space and Place« lebt seit nunmehr drei Jahren vor, wie sich Stadtmenschen die Wohnstraße zunutze machen können; gegenseitige Rücksichtnahme vorausgesetzt.

AutofahrerInnen sind auf der Wohnstraße zu Gast. Sie dürfen zu- und abfahren, aber nicht durchfahren.

Brigitte Vettori, Anthropologin

Welche Erfahrungen wurden dabei gemacht? Welche Erfolge gibt es?
Die Eroberung der Wiener Wohnstraße durch Space and Place ging in mehreren Schritten vor sich: Einer ersten Testphase im Jahr 2018 folgten Erkenntnisse über die Nutzung von Wohnstraßen die in einer zweiten Phase 2019 an KooperationspartnerInnen und die lokale Bevölkerung in der Fokusregion 15. bis 18. Wiener Gemeindebezirk weitergegeben wurden. In Phase drei im Jahr 2020 wurde sogar die Bemalung von Wohnstraßen vorangetrieben, um die Sicherheit auf bestimmten Wohnstraßen zu erhöhen. Im Jahr 2020 wurde – in Anlehnung an das Vorbild der »Superblocks« in Barcelona – von Space and Place zudem das »Erste Wiener Wohnstraßen-Grätzel« oberhalb der Stadthalle im 15. Wiener Gemeindebezirk ausgerufen, das gleich sieben aneinandergereihte Wohnstraßen umschließt. Mit entsprechender Beteiligung der lokalen Bevölkerung und finanzieller Unterstützung von unterschiedlichen Stakeholdern könnte sich dieses Wohnstraßen-Grätzel in den nächsten Jahren zum echten Wohlfühlort und zur Klimaoase entwickeln.

Autos sind auf Wohnstraßen nur zu Gast. (Foto: Akos Burg)

Was unsere Erfahrungen auf der Wiener Wohnstraße betrifft war es gerade als Anthropologin sehr spannend zu beobachten, wie wir unsere eigenen internalisierten Muster der immer gleichen Verwendung von unterschiedlichen Straßen allmählich hinter uns ließen. Als Kind hatte man uns gelernt, nicht auf die Straße zu gehen und aufzupassen, dass uns kein Auto überfährt. Doch nach bestandenen Mutproben, in denen wir etwa im Wohnstraßen-Projekt zu zweit gegen die Einbahn von Wohnstraßen gingen und Autos zur Langsamkeit ermutigten, erkannten wir, dass sich dieser öffentliche Raum gänzlich anders anfühlt, wenn man mitten auf der Straße gehen kann und nicht nur am Gehsteig. Wir begannen die Stadt mit neuen Augen zu sehen und lernten nach und nach die Wohnstraße für uns zu Nutzen – nicht nur zum Spielen für und mit Kindern, sondern als alltäglichen Ort zum Abhängen und Ausspannen auch für Erwachsene und ältere Menschen und als Ort des konsumfreien kreativen Austauschs.

Wir lernten auch erlaubterweise mit dem Fahrrad gegen die Einbahn zu fahren und gaben unsere gesammelten Erfahrungen auch weiter. Diesen Prozess der langsamen Aneignung dieses öffentlichen Raums für Menschen machten auch KooperationspartnerInnen und AnwohnerInnen mit. Sie alle durchliefen ähnliche Stufen und Erfahrungen. Viele haben die Wohnstraße für sich entdeckt und wollen sie nicht mehr missen.
Als Anthropologin weiß ich, dass Kultur ein veränderlicher Prozess ist. Kultur ist nicht angeboren, sondern erlernt. Man kann lernen unterschiedliche Straßen verschieden zu nutzen und den Mehrwert von Wohnstraßen als Aufenthaltsort zu erkennen und zu genießen.

Eine sehr spannende Erfahrung in Phase eins war dann eben das Faktum, dass jeder Mensch die Wohnstraße jeden Tag zum Betreten und Spielen nutzen darf, und dass die Nutzung von Wohnstraßen – wider unsere Erwartungen – tatsächlich gemütlich sein kann. Spannend war auch wie breit die geltenden Regeln auf der Wohnstraße ausgelegt werden können, ja was Betreten und Spielen auf der Wohnstraße alles heißen kann: Wir picknickten und tafelten auf der Wohnstraße, wir bauten – gemeinsam mit unseren KooperationspartnerInnen – ein ganzes Wohnzimmer in unterschiedlichen Parklücken einer Wohnstraße auf und luden Menschen zum Spielen und Diskutieren ein. Wir tauschten Kleider, betrieben Sport – ja organisierten sogar einen Rollator-Parcours auf einer Wohnstraße vor einem PensionistInnen-Wohnheim. Wir hielten Arbeitsmeetings auf Wohnstraßen ab, bauten dort Möbel zum Gebrauch im öffentlichen Raum und wir luden KünstlerInnen ein, ihre Sichtweisen und Ideen zum öffentlichen Raum auf die Wohnstraße zu projizieren. Und wir hielten Workshops ab, in denen wir unser Wissen darüber, was auf der Wohnstraße alles geht, mit anderen austauschten.

Die Polizei luden wir zu unserem Format der #Wohnstrassenleben regelmäßig ein. Sie kam oftmals vorbei und befand unsere Aktivitäten als legal, solange wir Autos nicht mutwillig vom Zu- und Abfahren hinderten. Noch im Oktober des Jahres erfuhren wir für unsere Aktivitäten von einem Polizisten sogar dezidiert Anerkennung: »Es braucht solche Vision für die Stadt!«, meinte der Polizist, der bei einem #Wohnstrassenleben vorbeikam, sich mit uns austauschte und seinerseits das unrechtmäßige Verhalten von AutofahrerInnen auf Wohnstraßen verurteilte. 

Bereits im ersten Jahr unserer Aktivitäten wurde uns von einem Polizisten mitgeteilt, dass – wenn wir eine Parklücke gerade für unsere Aktivitäten nutzten, der Parkplatz nicht für zufahrende Autos geräumt werden muss. Interessanter Weise hatten wir darüber nie Diskussionen mit AutofahrerInnen. Menschen mochten unsere Aktivitäten oder auch nicht. Sie begrüßten sie mit reger Teilnahme oder empfanden sie als störend. Doch AutofahrerInnen fragten uns nie, einen Parkplatz zu räumen, den wir im Rahmen des Erlaubten und ohne jede weitere Genehmigung temporär eingenommen hatten.

Als Erfolg kann daher die Überwindung internalisierter Muster begriffen werden, verschiedene Straßen unterschiedlich zu verwenden, ja die Wohnstraße – im Gegensatz zu anderen Straßen – als Aufenthaltsort und Wohlfühlort zu begreifen und zu nutzen. Als Erfolge gelten weiters die über 30 #Wohnstrassenleben, die wir im Bereich der legalen Nutzung unternahmen und auch die Tatsache, dass andere Menschen diese Praxis nunmehr ohne weitere Genehmigung übernehmen können. Ein Erfolg ist, dass einzelne PartnerInnen und AnwohnerInnen damit begonnen haben die Wohnstrasse unabhängig von uns für sich zu nutzten, und dass sich Synergien ergeben, wenn wir mit anderen PartnerInnen zusammenarbeiten. Zum Beispiel teilen wir – wie das Urbanize!-Festival – die Meinung, dass durch die Aufwertung unserer Städte leistbarer Raum zu einem knappen Gut geworden ist. Und dass wir als urbane Gesellschaft mehr Räume für Nachbarschaft, Kunst und Soziales brauchen, die unerwartete Begegnungen erlauben, Platz für Diskussion und gesellschaftspolitisches Engagement bieten. Das Urbanize!-Festival lud also zu »Good Practice« im öffentlichen Raum ein und Space and Place ist beim Festival im Oktober mit einem #Wohnstrassenleben dabei.

Synergien ergaben sich auch im Jahr 2020 im Rahmen der Bemalung der »Blumen-Wohnstraße« nach Entwürfen der bei uns mitwirkenden Künstlerin Julia Scharinger-Schöttel. Space and Place wählte eine Wohnstraße im 15. Bezirk aus, die von AutofahrerInnen als Schleichweg und Durchfahrtsstraße verwendet wurde. Durch die Markierung der Wohnstraße sollte mehr Sicherheit für Menschen geschaffen werden. Das bürokratische Prozedere bis zur Realisierung war ein langes. Die Straße konnte dann aber mit vereinten Kräften von Space and Place, Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus und der MA 28, die für die Straßenbemalungen in der Stadt zuständig ist, realisiert werden. Das Blumenmuster lädt Menschen ein, die Wohnstraße zu nutzen und wirkt als Zeichen für AutofahrerInnen, dass es sich hier um eine besondere Straße handelt: eine Straße für Menschen, auf der AutofahrerInnen nur zu Gast sind. 

Auf der Blumen-Wohnstraße konnten weitere Synergien genutzt werden – etwa die Sperrung der Straße für rund drei Monate und ihre Nutzung als sogenannte »coole Straße« im Rahmen eines Projektes der Stadt Wien bei dem unterschiedliche Straßen und Plätze temporär mit Nebelsprühanlagen und mit Möbeln bestückt wurden, um die Sommerzeit auf ausgewählten öffentlichen Orten besser genießen zu können.

Als Erfolg kann auch das rege Interesse von unterschiedlichen Medien gewertet werden, über unsere Aktivitäten zu berichten und unsere Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zu kommunizieren sowie die Tatsache, dass uns immer mehr Menschen schreiben, die in Wien und anderen Städten Wohnstraßen initiieren wollen. Auch dass wir mit dem Wohnstraßen-Projekt bereits auf internationalen Konferenzen zu Gast waren, wie auf dem Symposium für well-being in Bordeaux im Jahr 2019, bei dem wir regen Zuspruch zu unseren Aktivitäten bekamen.

Erfolgreiche Wohnstraße hinter der Wiener Stadthalle. (Foto: Akos Burg)

Wieviel aktives Engagement braucht gelingendes Wohnstraßenleben?
Es braucht zunächst mal Interesse für das Anliegen und ein forscherisches Auge: Warum sind auf 194 Wohnstraßen in Wien blaue Verkehrsschilder montiert, die ein Haus zeigen, zwei fußballspielenden Figuren und eine Straße. Und warum nutzen AnwohnerInnen wie AutofahrerInnen die Straße trotzdem gleich wie jede andere – nämlich als Autostraße? Als Kultur- und Sozialanthropologin habe ich mich daher auf die Suche nach den Gründen gemacht und habe die Wohnstraße zunächst alleine und gemeinsam mit meiner Familie erkundet, bevor das Format der sogenannten #Wohnstrassenleben ins Leben gerufen wurde – ein sehr spannendes politisches und gemeinschaftliches Projekt von unterschiedlichen Stakeholdern, initiiert von Space and Place.

Generell braucht es einen langen Atem, um die Information, dass Wohnstraßen Straßen für Menschen sind, unter das Volk zu bringen, nachdem die Information seit 1983 schlichtweg nicht kommuniziert wurde. Es braucht also sehr viel Aktivitäten im Bereich nachholender Information und es braucht aktive Beteiligung von AnwohnerInnen und von Kreativen in der Stadt, um die aktuellen Wohnstraßen-Regeln im Rahmen einer neuen »Kultur des Wohnstraßenlebens« zur Entfaltung zu bringen. Damit Wohnstraßen zu echten Wohlfühloasen und Klimaoasen werden, braucht es neben dem Engagement von AnwohnerInnen und Kreativen zudem Unterstützung der Stadt Wien und der Polizei. Mehr Geschwindigkeitskontrollen auf Wohnstraßen und insofern mehr Sicherheit, kann das Engagement von BürgerInnen unterstützten. Anreize zur Nutzung von Wohnstraßen, wie fix montierte Möbel, verschwenkte und bemalte sowie begrünte Wohnstraßen machen den Aufenthalt auf Wohnstraßen noch attraktiver.

Sicher ist, dass die Polizei zu wenig Geschwindigkeitskontrollen auf der Wiener Wohnstraße durchführt, damit es mehr Sicherheit auf der Wohnstraße gibt.

Brigitte Vettori, #Wohnstrassenleben-Aktivistin

Braucht es – analog zum Hausmeister bzw. zur Hausmeisterin – eine Art Wohnstraßenmeisterei?
Ich glaube nicht, dass es eine bestimmte Person braucht, die sich um eine Wohnstraße kümmert, wiewohl wir diese Idee bereits bei Space and Place besprochen haben. Es braucht einfach Menschen, die in ihrem Alltag die Wohnstraße für sich nutzen – zum Sportbetreiben, zum gemeinsamen Frühstück, zum Ausspannen, Zeitunglesen, Arbeiten, ja für Team-Meetings und auch für Kindergeburtstage. Je nachdem wer an einer Wohnstraße lebt (die man im Übrigen in Wien bei jedem Bezirk auch für die eigene Straße vor seiner Haustüre ansuchen kann) wird sich das Leben dort anders abspielen. Die unterschiedlichen NutzerInnen müssen sich ihre »Kultur des Wohnstraßenlebens« jeweils neu ausmachen. Und wenn es vor Ort Gassenlokale oder Kulturorganisationen gibt, können diese das Geschehen ebenfalls aktiv mitbeeinflussen. Aber nicht im Sinne eines Hausmeisters, der weiß wo es lang geht, sondern als einer von mehreren Stakeholdern, als IdeengeberInnen oder MediatorInnen, wenn’s mal einen braucht.

Von einem Beispiel, das vielleicht an ihres der »Hausmeister« grenzt haben wir bei der Fachtagung »Die Straßen ist zum Spielen da!« von der Organisation »Fratz-Graz« und der Forschungsgesellschaft Mobilität erfahren, bei dem wir auch selbst als Vortragende zugegen waren.

Was die Akzeptanz des Prinzips Wohnstraße fördert: ein Perspektivenwechsel.
(Foto: Akos Burg)

In Salzburg hätten sich Schulwarte sehr für die Verteidigung von Wohnstraßen eingesetzt. Es gibt ja häufiger Eltern, die ihre Kinder mit ihrem Auto bis zur Schultüre bringen, nur damit sie sicher ankommen, während ihnen nicht bewusst ist, dass sie mit dieser Aktion nicht nur einen Autostau vor der Schule verursachen und den Menschen Platz wegnehmen, sondern auch zur Unsicherheit für andere SchülerInnen beitragen, die zu Fuß in die Schule gehen. Schulwarte hätten hier also gute Dienste geleistet, wenn Wohnstraßen zu bestimmten Uhrzeiten für solche Elterntaxis gesperrt wurden und die Regelung uneinsichtigen Eltern kommuniziert werden musste.  

Lässt sich verallgemeinern, was das Leben auf einer Wohnstraße fördert und was eher hinderlich ist?
Wie gesagt, hängt es mithin von den AnwohnerInnen und vor Ort tätigen Menschen ab, welche Art der Nutzung auf einer Wohnstraße sich durchsetzt. Nach drei Jahren Wohnstraßen-Arbeit kann Space and Place jedoch sagen, dass jegliche Nutzung der Wohnstraße im legalen Rahmen förderlich ist für die aktive Mitgestaltung des öffentlichen Raumes Wohnstraße – wenn Menschen und AutofahrerInnen die Regeln der Wohnstraße akzeptieren und die Straße aktiv nutzen: AutofahrerInnen sind auf der Wohnstraße zu Gast. Sie dürfen zu- und abfahren aber nicht durchfahren. Das Gebot der Schrittgeschwindigkeit gilt hier für sie, wie für andere motorisierte Fahrzeuge und die RadfahrerInnen. Werden diese Grundregeln eingehalten, kann man die Wohnstraße in aller Ruhe »betreten« und dort auch »spielen« wie es in der österreichischen Verkehrsordnung (§ 76b) steht. Werden diese Regeln missachtet, wird es entsprechend schwieriger.
Wenn nun aber die Menschen die Wohnstraße nicht nutzen, wird es dem AutofahrerInnen ungemein einfach gemacht, die Wohnstraße als eine von vielen zu betrachten. Wenn – im Gegenzug – AnwohnerInnen, Grätzel-MacherInnen und lokal tätige Organisationen aktiv die Straße nutzen, erkennt man, dass das keine »normale« Straße ist. Es ist also eine Henne-Ei-Frage, wer zuerst aktiv werden soll. Sicher ist, dass die Polizei zu wenig Geschwindigkeitskontrollen auf der Wiener Wohnstraße durchführt, damit es mehr Sicherheit auf der Wohnstraße gibt. Und sehr gut wäre es auch, Wohnstraßen generell sichtbarer zu machen – durch die Verschwenkung der Straße oder eine Angleichung des Bodenniveaus mit dem Gehsteig. Mehr Sicherheit für Menschen und Freude zur Nutzung der Wohnstraße wird durch eine Bemalung der Wohnstraße erreicht, wie Space and Place sie etwa im »Ersten Wiener Wohnstraßen-Grätzel« in Rudolfsheim-Fünfhaus durchgeführt hat. Diese »Blumen-Wohnstraße« nach einem Entwurf von Julia Scharinger-Schöttel lädt AutofahrerInnen ein, vom Gas zu steigen. Und sie lädt BewohnerInnen zur aktiven Nutzung ihrer Wohnstraße ein. Wenn es dann noch einen Brunnen vor Ort gibt und manche Möbel, die fix in Parklücken verankert sind, und nicht erst aus dem Haus getragen werden müssen – ist die Wohlfühl- und Klimaoase perfekt.

Um die Neuverteilung von urbanem Raum ist ein Kulturkampf ausgebrochen. Welche Rolle spielt die Wohnstraße beim Aus– und Neuverhandeln, wem Raum gehört?
Ich spreche nicht gern von »Kulturkampf«. Jeder Mensch trägt unterschiedliche Kulturen in sich und reagiert in variablen Rollen auch verschieden. Als AnwohnerIn freue ich mich, wenn ich eine Wohnstraße vor meiner Haustüre habe, die ich als Wohlfühloase nutzen kann – etwa zum Austausch mit NachbarInnen, zum Zeitunglesen oder um mit ein paar Freunden, die nicht alle in meine vielleicht kleine Wohnung passen, das eine oder andere Treffen abzuhalten. Als AutofahrerIn wiederum möchte ich vielleicht einfach bis zur Haustüre fahren oder durch die Wohnstraße fahren, weil ich mir zwei Ampeln und ein wenig Zeit gegenüber dem normalen Weg spare.
Jetzt muss man einfach den Kopf ein wenig einschalten und dementsprechend handeln, noch besser erfahren haben, was die »Kultur des Wohnstraßenlebens« ausmacht, dann denkt man vielleicht anders: Es gibt eine Klimakrise, es gibt zu wenig Platz für Menschen in der Stadt und Autos nehmen erwiesenermaßen im Verhältnis zu den Menschen zu viel Platz ein in der Stadt. Die 194 Wohnstraßen in Wien – eine Fläche von 57 Fußballfeldern – tragen ein großes Potential als Begegnungsorte, Wohlfühlorte, als Orte zum Aushandeln unterschiedlicher Interessen, als Orte für sportliche Betätigung und zur Erholung in sich. Die Wohnstraße ist sozusagen das »öffentliche Wohnzimmer vor der eigenen Haustüre«, in dem ich zwar nicht alleine bin, sondern in dem abgestimmt werden muss, was passiert. Die Wohnstraße ist eine Erweiterung meines vielleicht engen Wohnraumes und ein Platz zum Durchatmen, besonders wenn er mit Bäumen versehen ist und mit dem einen oder anderen Bankerl zum Verweilen. Er ist ein Platz für alle.

Man würde annehmen, dass die Coronakrise für die Akzeptanz von und das Bewusstsein für Wohnstrassenleben eher förderlich war. Können Sie das bestätigen?
Nun in der Corona-Zeit hat Space and Place eine neue Facette der Wohnstraße erfahren: Im Lockdown im Frühjahr 2020, als die Stadt Wien begann neue »temporäre Begegnungszonen« für Menschen einzurichten, haben wir Videos gepostet und darauf aufmerksam gemacht, dass es zudem bereits 194 Wohnstraßen gibt, die man jeden Tag – und auch jetzt im Lockdown – zum kurzen Vertreten der Beine und für einen Coffee-to-Go, ja zum Entspannen vom Familienalltag nutzen kann. Wenn man keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen soll und kein attraktiver Park in der Nähe ist oder man seine Kinder nicht lange alleine zuhause lassen kann, bekommt die Wohnstraße vor der eigenen Haustüre eine neue Bedeutung. Sie kann – und hat man auch nur wenig Zeit – Erholung in einen angespannten Tag bringen. Man kann sich dort auch den Kopf zwischen mehreren Skype-Meetings im Home-Office auslüften.

Der öffentliche Raum »Wohnstraße« ermöglicht daher trotz Einhaltung der geltenden Abstandsregelungen Gespräche mit den NachbarInnen. Und solche Gespräche können Balsam auf die Seele sein, wenn man im Lockdown die meiste Zeit des Tages in den eigenen vier Wänden verbringen muss. Auch Kinder können in einer solchen Situation nicht nur in der Wohnung sitzen. Auf der Wohnstraße können sie sich austoben – wenn es sein muss, kann man mit Kreide auch verschiedene Bereiche einzeichnen, in denen sich nur wenige Menschen – oder nur Haushaltsmitglieder bewegen.

Als KünstlerInnen und Kreative haben wir uns im Lockdown mit umgehängten Hula-Hoops auf der Wohnstraße bewegt. Wir haben Spaziergänge in »physischem Abstand« gemacht und uns dabei sozial angenähert. Viele Menschen haben uns mit Humor geantwortet. Sie haben gelacht, uns zugewinkt, unsere Spaziergänge kommentiert und sich gefreut. Sie haben sich gefreut, Menschen zu treffen, die in Corona-Zeiten zusammen Spaß hatten.


Am 15. Oktober 2020 feiert Space and Place im Rahmen des Wiener Urbanize! Festival das #Wohnstrassenleben.

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