Wo in Wien die wilden Tiere wohnen
Wildökologische Stadtplanung gestaltet die Großstadt als gemeinsamen Lebensraum von Mensch und Wildtier. Dieser Ansatz ist neu.
Überall, wo der Mensch lebt, lebten vor ihm bereits andere Tiere. Manche haben sich mit seiner Anwesenheit arrangiert, profitieren sogar davon. Andere wurden und werden sukzessive zurückgedrängt, verschwinden ganz. Wieder andere kommen als invasive Arten, erobern sich neue Lebensräume, teilweise begünstigt durch den Klimawandel. Im urbanen Alltag verlieren wir leicht aus dem Blick, dass das nicht nur für ländlich geprägte Gegenden gilt, sondern auch für unsere wachsenden Großstädte. Die Menschen werden mehr, der Platz wird knapp. Und mit jeder Brache und Gstättn, mit jedem Stadterweiterungsgebiet, das nicht nur auf dem Papier besteht, sondern wo auch wirklich die Bagger auffahren, um neue Wohnungen aus dem Acker zu stampfen, wird der Platz für viele Arten weniger. »Der Ressourcen- und Platzbedarf der Menschen steigt stetig und führt für viele Wildarten zu einer Verschlechterung beziehungsweise sogar zum Verlust ihrer Lebensräume«, heißt es in einem Papier des Klima, Forst- und Landwirtschaftsbetriebs der Stadt Wien. Darin wird zum ersten Mal die »Wildökologische Stadtplanung Wien« umrissen. Im ländlichen Raum ist die dort sogenannte »wildökologische Raumplanung« längst üblich. Sie sichert einerseits den Lebensraum und versucht andererseits, Wildschäden in der Land- und Forstwirtschaft zu vermeiden. Ihr Ziel: eine möglichst konfliktfreie Koexistenz zwischen Mensch und Wildtier. »Für Ballungsgebiete ist das aber eher ein Novum«, sagt Matthias Amon. Auch in Wien, wo er in einer Halbtagsstelle für die Erstellung der Wildökologischen Stadtplanung zuständig ist. Die restliche Zeit modelliert er am Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft der Boku Lebensraum-Modelle für Habichtskauz, Goldschakal und Wolf. In Wien beschäftigen ihn eher Allerweltsarten wie Reh und Wildschwein, Fuchs, Dachs und Biber, Taube und Feldhamster. Beziehungsweise erfasst er gerade, was in welcher Dichte überhaupt im Stadtgebiet vorhanden ist. Bei manchen Arten ist das bekannt, weil sie lange Probleme machten oder einfach zu zählen sind.
Friede den »Flugratten«
Als gesichert gilt beispielsweise, dass in der Stadt zwischen 50. und 60.000 Tauben leben. Lange wurden sie von der Stadt als »Flugratten« geschmäht – und bekämpft. Mittlerweile wird ihr Bestand tierschutzgerecht nach dem »Augsburger Modell« reguliert. In betreuten Taubenschlägen tauschen MitarbeiterInnen der Stadt Bruteier gegen Attrappen aus Ton aus. Von Bibern wiederum weiß man, dass die städtische Population 380 Individuen umfasst (allein auf der Donauinsel gibt es 21 Biberreviere). Bei anderen Arten tappt Matthias Amon noch im Dunkeln. Derzeit motiviert er deshalb potenzielle MitstreiterInnen. Er ist in den Außenbezirken, in den 20 privaten Eigenjagden und den 13 städtischen Gemeindejagdgebieten Wiens unterwegs, um herauszufinden, was die lokalen JägerInnen wissen; wo es besondere Tierbestände gibt, seltene Arten vielleicht. Oder Häufungen von Wildunfällen. Auch ein Monitoringprojekt zu invasiven Arten bereitet er vor. Es soll herausfinden, ob bzw. wo in der Stadt es bereits Waschbären und Marderhunde gibt. »Wir fragen die JägerInnen, wo es geeignete Plätze für Wildkameras und Fotofallen gibt«, sagt Amon. »Mal schauen, ob überhaupt wo was drauf ist.«
Jagd als Managementmaßnahme
All das fällt in der wildökologischen Stadtplanung noch unter den Punkt »Erheben des Ist-Zustands«. Um »eine langfristige und sinnvolle Einbindung der relevanten Wildtierarten in die Stadtentwicklung« zu erreichen brauchen manche Arten Unterstützung, die sogenannten »Kulturfolger«, also Arten, die sich im von Menschen geprägten Umfeld besonders wohl fühlen und stark vermehren, aber auch gezielte Bejagung. »Wichtig ist hervorzuheben, dass die Jagd zwar langfristig in der Stadt erhalten bleiben soll, jedoch eine Managementmaßnahme darstellt«, heißt es im Planungspapier. Ist der Ist-Zustand bekannt, weiß man also über den Bestand und Zustand einer Art im Stadtgebiet Bescheid und hat mögliche Konfliktpunkte analysiert, wird für jede Art ein Soll-Zustand definiert. Es umfasst Lösungsmöglichkeiten, Präventionsmaßnahmen und sieht neben Übersiedelung von einzelnen Individuen oder Teilpopulation etwa auch lebensraumerhaltende und lebensraumverbessernde Maßnahmen vor. Zum Beispiel sollen auch bei neu bebauten Flächen oder Verdichtungsbauten Biotoptrittsteine angelegt oder bestehende Wildtierkorridore erhalten bleiben. Diese sind wichtig für den genetischen Austausch und damit auch für die langfristige Gesundheit der Tiere.
Rechtliche Anpassungen notwendig
»Wir stehen erst am Anfang unserer Aktivitäten«, sagt auch Günther Annerl, der Bereichsleiter des Forstamts der Stadt Wien und Vorgesetzte von Matthias Amon. Er betont das »rollende Management«, das laufende Evaluierungen ebenso vorsieht, wie situationsbedingte Anpassungen. Solche wird es auch auf grundsätzlicher Ebene brauchen, wie auch das Wiener Planungspapier abschließend feststellt: »Für eine langfristige Sicherstellung der Implementierung der Wildökologischen Stadtplanung in die Stadtentwicklung und die damit verbundenen Maßnahmen und Konzepte wird es einiger rechtlicher Neuerungen und Anpassungen bedürfen.« Verläuft alles nach Plan, wird Wien also weiter wachsen, dabei aber wilder und natürlicher werden.
BIORAMA #91