Wie Pilze die Welt retten könnten
Altes und neues Wissen über Pilze könnte mitentscheidend für die Zukunft der Erde sein.
Sie sind die ersten, ältesten, größten, widerstandsfähigsten und artenreichsten Lebewesen unseres Planeten. Sie sind uns genetisch näher als Pflanzen. Sie wirken im Verborgenen und wissen, dass wir hier sind. Sie spüren unsere Schritte, atmen und verdauen. Pilze bilden ein fantastisches, mysteriöses Reich, direkt unter unseren Füßen.
Initiation
Am Anfang von Projekten, die sich mit Pilzen beschäftigen, steht oft Paul Stamets. Der autodidaktische amerikanische Mykologe (Pilzforscher) ist Bestsellerautor mehrerer Bücher, ein Guru der PilzfanatikerInnen und Inspiration für viele, sich mit möglichen Verwendungsbereichen von Pilzen zu beschäftigen. In dem von ihm herausgegebenen Sammelwerk und dem begleitenden Dokumentarfilm »Fantastic Fungi« von 2019 beschreiben er und andere MykologInnen die Wunderwelt der Pilze. Und die lautet in etwa so: Vor circa 1,2 Milliarden Jahren haben Pilze als erste komplexere Lebewesen Land »betreten«. Die Pilze machten aus dem toten einen bewohnbaren Planeten. Die Landschaft war dominiert von riesigen baumartigen Pilzen. Durch ihre Vorarbeit wurde es Pflanzen und Tieren möglich, an Land zu leben. Das bedeutet, dass Pilze alle bisherigen Artensterben überlebt haben. Sogar den Asteroideneinschlag, der vermutlich das Ende der Dinosaurier war. Pilze können also stark zerstörte Natur wiederaufbereiten und neues Leben ermöglichen. Das derzeitige »6X«, das sechste Aussterben, könnten Pilze also zum Teil abwenden.
Weltweite Pilzköpfe
Diese Geschichte gibt auch Mark Stüttler wieder. Er ist ebenfalls Mykologe, Gründer und CEO von Tyroler Glückspilze und des Mushroom Research Center Austria (MRCA) in Innsbruck. Das MRCA betreibt Grundlagenforschung, die »Glückspilze« vertreiben Speise- und Heilpilze.
Stüttler ist ein aufgeweckter, leidenschaftlicher Idealist, Fürsprecher der Pilze und Weltretter. Er spricht ohne Punkt und Komma von den Superkräften der Pilze. Sein Bruder Manuel studierte an der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU) im Fach Biotechnologie, lernte dann bei Paul Stamets. Mark Stüttler forschte in Holland und Frankreich, wo der Pilz tiefer in der Kultur verwurzelt ist.
Der Champignon (franz. für Pilz) heißt in Frankreich »Champignon de Paris«, weil er anfangs in den Kellern unter Paris angebaut wurde.
Das weltweit eingeholte Wissen brachten die Brüder dann nach Tirol. Dabei war es ihnen wichtig, einen Überblick über die vielen Dimensionen der Pilze zu haben, nicht nur ein »Pilzsackl« aufzustellen. Seitdem verteilen sie ihr Wissen wie Pilze ihre Sporen und stecken immer mehr Menschen mit ihrer Faszination für Pilze an. Mittels Vorträgen, Workshops, Büchern oder über Kunst.
Auf der Erde gibt es circa 1,5 bis 2 Millionen Pilzarten, weniger als fünf Prozent davon sind beschrieben. 2000 Arten sind genießbar, 700 enthalten pharmazeutische Wirkstoffe. »Wenn wir gleich langsam wie bisher weiterforschen, brauchen wir 2000 Jahre, bis alle Pilze identifiziert sind und ihr Nutzen erforscht wurde.«
Pilzbasierte Weltrettung
Pilze bieten Lösungen zu den drängendsten Problemen unserer Zeit.
1. Umweltverschmutzung
Pilze sind die Recycler der Erde und Meister der Biochemie. Sie machen aus Giftstoffen wieder lebenswichtige Stoffe. Der Reaktor in Tschernobyl war nach der Kernschmelze innen von Pilzen besiedelt, die sich von atomarer Strahlung ernährten. Der Austernpilz frisst auch Plastik, Anwendungen zur Bereinigung der Meere von Mikroplastik werden erforscht.
2. Klimakrise
Der Amazonas und andere Regenwälder werden oft als »Lunge des Planeten« bezeichnet. Doch so wichtig die Pflanzen für die Reinigung der Luft sind, Pilze sind wichtiger. 70% des CO2 speichern die Mykorrhizapilze in ihren Myzelien und lagern es langfristig im Boden ein, wo es keine schädliche Wirkung mehr hat. Ohne die Pilze könnten die Wälder lange nicht unsere Atemluft und das Klima erhalten.
3. Ressourcenknappheit
Uns gehen die Ressourcen aus. Das betrifft nicht nur fossile Brennstoffe, deren Versiegen ein Wohl für den Planeten wäre. Auch Phosphor wird knapp. Alle Lebewesen brauchen dieses Element. Ohne Phosphor keine Nahrung. Derzeit wird das Phosphor für die Düngung von Futterpflanzen verbraucht. Mykorrhizapilze helfen Pflanzen bei der Aufnahme und minimieren den Phosphorverbrauch.
4. Welthunger
Pilze sind extrem nährstoff- und ertragreich. Ein Kilogramm getrocknete Biochampignons hat z. B. um ein Drittel mehr Eiweiß als ein Kilogramm Biorinderhüftsteak. Ein Kilogramm frische (! Das wurde in der BIORAMA-Printausgabe fälschlicherweise nicht spezifiziert, Anm. d. Red.) Champignons braucht nur acht Liter Wasser zum Wachsen, Rindfleisch dagegen 15.000. Auf einem Hektar wachsen im Jahr 800 Tonnen Pilze, aber nur 1,67 Tonnen Schweinefleisch. Pilze wachsen auf Substraten aus Pflanzenabfällen und Viehmist. Dieses wandeln sie wieder zu Pflanzendünger um. So entsteht ein Kreislauf, der in jedem Stadium Nahrung abwirft. Mit einer Pilz-Pflanzen-Kreislauflandwirtschaft ließe sich locker die gesamte Menschheit ernähren.
5. Immunsystem
Viele Pilze haben eine immunstärkende Wirkung, die in vielen Studien nachgewiesen wurde. Der Apothekerporling z. B. ist hochaktiv gegen das Pockenvirus und das Grippevirus. Paul Stamets plädiert deshalb dafür, Wälder, in denen der Agarikon wächst, im Rahmen der Landesverteidigung zu schützen.
6. Brainfood
Psychedelische Pilze werden wieder zunehmend erforscht. In den 1950ern und 60ern erschienen mehrere psychiatrische Studien in den USA. Diese wurden aber im Zuge des »War on Drugs« verboten. Seit 2006 kam es zu einer Wiederentdeckung und einigen gesetzlichen Lockerungen. Psilocybin – der Wirkstoff in Magic Mushrooms – erzielte vielversprechende Ergebnisse bei der Therapie von Sucht und Depressionen. Aber auch bei gesunden Menschen stoßen die Zauberpilze auf vermehrtes Interesse – als Quelle für Inspiration und transzendentale Erfahrung.
Unter dem affirmativen Titel »Verändere dein Bewusstsein« ist 2019 ein breitenverständliches Standardwerk zum Thema Psychedelika des Harvard- Professors Michael Pollan in deutscher Übersetzung erschienen. Bild: Verlag Antje Kunstmann.
Aufgemischte Pilzwissenschaft
»Die Wissenschaft« habe lange Zeit das vielfältige Potenzial der Pilze ignoriert und sich zu sehr auf Hefepilze und Schimmelpilze fokussiert, so Stüttlers Vorwurf. Dem widerspricht Ursula Peintner, Mikrobiologin an der Universität Innsbruck, nur eingeschränkt: »Es stimmt schon, dass z. B. der Hefepilz ein Modellorganismus ist. Aber diese Modellorganismen sind natürlich auch wichtig, um die molekularen Stoffwechselmechanismen und ihre Wirkungsweise zu verstehen.« MykologInnen wie Paul Stamets und Mark Stüttler propagieren einen praktischeren Zugang. Sie wollen das volle Potenzial der Pilze ausschöpfen und in verschiedensten Bereichen anwenden. Stüttlers Vorschläge zur pilzbasierten Weltrettung hat auch Ursula Peintner als möglich bestätigt.
Die Mikrobiologin Ursula Peintner lehrt und forscht an der Universität Innsbruck, einem »Hotspot für mykologische Forschung« zur Mykorrhiza und Boden- Pilzgesellschaften. Bild: MRCA.
So werden Pilze als biologisches Ersatzmaterial verwendet. Es gibt Taschen aus Pilzleder, Plastikersatz aus Pilzen, sogar betonharten Baustoff aus Austernpilzen. Ursula Peintner: »Das Problem mit unserer Bauordnung ist wahrscheinlich, zu garantieren, dass das Material nicht von Insekten befallen wird. Pilze sind biologisch abbaubar. Aber ich weiß, dass das auf den Philippinen und in anderen Ländern schon eingesetzt wird.«
Neben diesen relativ neuen Anwendungen erfüllen Pilze schon jetzt im Verborgenen viele unerlässliche Aufgaben für unser Leben. »Bei uns im Alpenraum ist die Mykorrhiza ganz wichtig, um die Bodenstabilität aufrechtzuerhalten.« Anders gesagt sorgen Pilze dafür, dass uns die Berge nicht auf den Kopf fallen: Erosionsschutz. Das von den Pilzen abgesonderte Glomalin wirkt zusätzlich zu den dünnen, kilometerlangen Myzelien (Pilzwurzeln) als Bodenkleber. Zudem wären wir schon längst unter Bergen an organischem Abfall erstickt, würde der nicht von Pilzen abgebaut.
Praktische Pilze
Dass Pilze nicht nur abbauen, sondern auch aufbauen können, hat Cornelia Plank erkannt und genutzt. Sie hat 2014 ihr Unternehmen Tiroler BioPilze gegründet. Als Marktführer für Biopilze in Österreich produzieren sie und circa 40 Angestellte zwischen 15 und 18 Tonnen pro Woche. Neben Champignons auch Austernpilze, Kräuterseitlinge und Shiitakepilze. Wenige Kilometer östlich von Innsbruck liegen die zwei Produktionshallen, eine dritte entsteht gerade. Dass hier Pilze für ganz Österreich wachsen, sieht man der Halle nicht an. Denn Pilze brauchen im Vergleich zu Pflanzen viel weniger Fläche, Wasser und Licht, um zu sprießen.
Das Unternehmen Biopilze spart zusätzlich Fläche durch Vertical Farming. Die braunen Champignons wachsen übereinander auf fünfstöckigen Pilzbeeten. Johannes Auer klettert täglich auf die Gerüste, um die Entwicklung der Pilze mit einer Taschenlampe zu kontrollieren. Er ist für die Zucht verantwortlich. Als studierter Landwirt hat er bei »BioPilze« seine Mission gefunden: »Es ist dringend geboten, Landwirtschaft neu zu denken. In Österreich können 90 Prozent der Bäuerinnen und Bauern nicht direkt von der Landwirtschaft leben. Das sind bezahlte LandschaftsgärtnerInnen, die Almen mähen. Das ist nett, aber hat mit wirklicher Versorgung nichts zu tun.«
Die Verantwortlichen bei »BioPilze« würden gern die Versorgung von ganz Österreich ausbauen. Der Großteil der in Europa verarbeiteten Speisepilze kommt derzeit noch aus Polen und Holland. Die Verantwortung dafür sieht Auer bei uns. »Die KonsumentInnen haben die Macht, politisch und gesellschaftlich zu wirken, indem sie sich für ein Produkt entscheiden. Das muss zurück in die Köpfe. Und dann sind wir fähig, unser Produkt auszubauen.«
Ein nachhaltiges Problem ist das Substrat. Bislang werden Tonnen davon aus Holland und Deutschland per LKW nach Österreich geliefert, damit die Pilze dann in Österreich »regional« wachsen können. Die CO2-Emission ist dabei ähnlich, wie wenn die Pilze selbst aus Holland kämen. Immerhin bringt das Unternehmen das abgeerntete Substrat als biologischen Dünger auf Tiroler Felder. Bei Tyroler Glückspilze ist man gerade damit beschäftigt, mit Bäuerinnen und Bauern eigenes Substrat aus Kompost herzustellen. Eine solche Kreislaufwirtschaft wünscht man sich auch bei »Biopilze«.
Die Pilzperspektive
Bei allen wundersamen Kräften der Pilze bleibt doch Zweifel, ob die Weltrettung klappt. Die Pilze haben in uns Menschen derzeit einen mächtigen Gegenspieler. »Ich glaube, es ist eines unserer Probleme, dass wir immer nur eine Seite der Medaille sehen«, sagt Ursula Peintner. Der Pilz ist entweder Schädling oder Nahrung, je nach Perspektive und Situation. Wer ein Haus baut, will, dass das Haus für die Wohndauer stehen bleibt, also eben nicht biologisch abbaubar ist. Wenn das Haus abgerissen werden soll, soll es wieder dem natürlichen Kreislauf zugeführt werden.
Die Pilzperspektive ist eine ganzheitliche. In diesem Sinne hilft nicht nur der Pilz, sondern unser Verständnis von ihm und seinen Kreisläufen. Oder, wie Mark Stüttler predigt: »Die Natur hat Kreisläufe geschaffen und keine Daueraufträge.« Erst wenn wir das verstanden haben, können wir Pilze für unsere Zwecke nutzen. Diese sollten nämlich schlussendlich auch die Zwecke des Planeten sein. »No fungi, no future!«
BIORAMA #70