Welche Milch darf’s denn sein?
Das Angebot an unterschiedlicher Milch ist riesig. Aber welche Milch steht wofür, und weshalb sind die Preisunterschiede so groß?
39,8 Grad beträgt die Körper-Innentemperatur von Milchkuh Connie um 6 Uhr früh. Der pH-Wert im Pansen liegt bei 7,3. Ganze 33,7 Kilogramm Milch hat sie am Vortag gegeben, und gelaufen ist sie 750 Schritte, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von 47 Prozent im Boxenlaufstall. Connie lebt auf dem Bauernhof der Familie Siebers am Niederrhein. In der Nähe liegt ein Ort namens Rindern. 750 Milchkühe geben auf dem Hof zusammen ungefähr 20.000 Kilogramm Milch, jeden Tag. Ein Kilogramm Milch – das entspricht fast einem Liter.
In einem deutschen Supermarkt bekommt man einen Liter Milch im September 2017 ab 63 Cent. Das „Preiseinstiegssegment“ – so nennt der Einzelhandel das untere Ende der Preisskala – beginnt bei 1,5 Prozent Fettgehalt. Für eine Vollmilch mit 3,5 Prozent Fettgehalt sind fünf Cent mehr zu berappen. Immer noch sehr wenig. Für die ultrahocherhitzten haltbaren Varianten wird jeweils derselbe Preis verlangt. Eine Alpenmilch, auf deren Verpackung saftiges Gras in Großaufnahme und der Schädel einer grasenden Kuh zu sehen sind, ist schon deutlich teurer: 95 Cent pro Liter. Und ein Liter Biovollmilch kostet sogar stolze 1,59 Euro. Das Milchangebot in einem durchschnittlichen Supermarkt ist groß. H-Milch, Vollmilch, Alpenmilch, Wiesenmilch, Heumilch, faire Milch, Milch aus der Region, fettarme Milch, laktosefreie Milch, Milch in Pulverform. Die weiße Flüssigkeit aus dem Euter von Kühen wird in unterschiedlichsten Preisklassen mit Differenzen von mehr als 100 Prozent angeboten. Wer eher durchschnittlich viel mit Milch zu tun hat, verliert da schon einmal den Überblick und denkt sich: „Ich will doch einfach nur Milch.“
Die Zeiten, in denen Milch „einfach nur Milch“ war, sind längst vorbei. „Es ist wie bei Darwin“, beschreibt Aart Jan van Triest die Entwicklung im Dokumentarfilm „Das System Milch“. Er ist Marketingchef der niederländischen Großmolkerei Friesland-Campina. „Wer sich nicht weiterentwickelt, stirbt. Wir müssen uns also ständig verändern und wachsen, um innovativ zu bleiben und weiter investieren zu können.“ Dem Filmemacher Andreas Pichler gewährte der Milchvermarkter einen überraschend offenen Einblick in das Geschäft international tätiger Großmolkereien: „Wir sagen immer, bei uns geht es vom Gras ins Glas. Wir haben die Kühe, die Produktion, den Verkauf und die Produkte. Man kann uns am ehesten mit einer Raffinerie vergleichen. Wir produzieren mit unserer Milch eine extrem breite Produktpalette.“
Mehr Milch, weniger Bauern
Während die Produktpalette immer breiter wird, geben europaweit Jahr für Jahr tausende Milchbauern ihre Betriebe auf. In Deutschland sinkt die Zahl der Milchbetriebe jedes Jahr um zwei bis vier Prozent. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der deutschen Milchbetriebe fast halbiert. Heut gibt es noch rund 67.300 Milchbetriebe, die gemeinsam über vier Millionen Milchkühe halten. In Österreich ist die Zahl der Milchbauern von 134.000 im Jahr 1980 auf 30.000 im Jahr 2015 gesunken. Gleichzeitig steigen die durchschnittlichen Betriebsgrößen. In immer weniger Ställen stehen immer mehr Milchkühe, lautet der allgemeine Trend. Um als Produzent im Milchgeschäft zu bestehen, gibt es verschiedene Strategien. Milchviehhalter können wachsen und ihre Betriebe auf Leistungsfähigkeit trimmen. Sie können aber auch biologisch produzieren und ihre Milch teurer anbieten. Sie können den Weg der Selbstvermarktung wählen oder konsequent auf Regionalität setzen. Leicht ist keiner dieser Wege.
Milchkuh Emma tritt um halb sieben am Morgen zum Melken an, auf dem Hof der Familie Höck in Lohmar. Bei den rund 100 Rindern dauert das ungefähr zwei Stunden. 2.500 Kilo Milch kommen so täglich zusammen. Kuh Emma gibt zwischen 6.000 und 10.000 Kilo Milch pro Saison. Eine Saison – das ist die Zeitspanne, in der eine Kuh nach dem Kalben Milch gibt und gemolken werden kann. Sie dauert etwa zehn Monate. Zweimal am Tag wird beim Familienbetrieb Höck gemolken. Ein Teil der Milch landet nicht im Tankwagen der Molkerei, sondern in der Milchtankstelle. Die besteht aus einem Automaten, der in einer Gartenhütte nahe der Hofeinfahrt steht. Hier gibt’s für einen Euro einen Liter Rohmilch ab Hof.
Selbstvermarktung und Bio
Wenn die Milchpreise, die von den Molkereien gezahlt werden, für längere Zeit im Keller sind, dann sehen sich viele Bauern nach alternativen Vertriebswegen um. Das kann Antje Hassenpflug vom deutschen Verband der Milchdirektvermarkter bestätigen: „Das Hauptargument für die Direktvermarktung ist die Unabhängigkeit von den Molkereien im Preis. Wenn der Preis sehr niedrig ist, dann versuchen natürlich mehr Landwirte, in die Direktvermarktung zu gehen.“ Ein Rohmilch-Automat, wie er auf dem Hof Höck steht, das ist nur der Einstieg in die Direktvermarktung im kleinen Stil. Wer seine Milch direkt in den Handel bringen will, der muss besondere Hygienestandards erfüllen und zunächst einmal in eine eigene Abfüllanlage investieren, erklärt die Schleswig-Holsteinerin Hassenpflug: „Die Investitionen liegen in aller Regel so zwischen 270.000 und zirka einer Million Euro. Wenn man die Tetra-Pak-Abfüllung wählt, ist das schon wahnsinnig teuer.“ Günstiger ist das Mehrwegsystem. Die Kombination von Produzieren, Abfüllen und Vermarkten von Milch mache allerdings nicht für jeden Betrieb Sinn, gibt Antje Hassenpflug zu bedenken: „Was man auf jeden Fall haben muss, ist Freude am Kontakt mit Menschen, weil man in der Direktvermarktung eben an den Endverbraucher vermarktet. Wenn einem das nicht so liegt, dann sollte man nicht in die Direktvermarktung gehen.“ Immerhin: Wer als Landwirt die Molkereien aus dem Spiel lässt, kann zum Teil deutlich höhere Preise für seine Milch erzielen. Von den Mitgliedern des Verbands der Milchdirektvermarkter weiß Antje Hassenpflug, dass Literpreise zwischen 1,20 und 1,80 Euro realistisch sind. „Man kann das ja nur machen, wenn es sich lohnt. Wenn kein Euro übrig bleibt, dann muss man es sein lassen. Man kann nur wenig aus Idealismus machen, wenn man von der Landwirtschaft leben muss.“
„Der Markt für Biomilch ist ein ganz eigenständiger Milchmarkt.“
Für Idealismus steht vor allem die Bio-Landwirtschaft. Dabei hat sie auch ganz ökonomische Vorzüge. Denn für einen Liter Biomilch zahlen Molkereien mehr als für einen Liter. konventioneller Milch. Besonders deutlich wurde das während der letzten Jahre. Während der Literpreis für konventionelle Milch teilweise auf 26 Cent abstürzte, hielt der Preis für Biomilch ein Niveau von über 40 Cent. Und der Marktanteil von Biomilch wächst. Beim Bio-Erzeugerverband Bioland führt Rüdiger Brügmann eine Statistik über die Entwicklung des Biomilch-Preises, den Landwirte erzielen. „Der Erzeugerpreis für Biomilch ist seit mehreren Jahren stabil auf dem Niveau, das die Bauern brauchen“, ist er überzeugt. Natürlich gibt es europaweit Unterschiede, erklärt Brügmann: „Die Preise für Biomilch in Europa liegen natürlich nicht himmelweit auseinander. Aber im deutsch-österreichischen Vergleich zum Beispiel gab es in den letzten Jahren immer drei bis fünf Cent Unterschied. In Österreich wurde lustigerweise meist weniger für Biomilch gezahlt, obwohl für konventionelle Milch in Österreich mehr gezahlt wird als in Deutschland.“ Nicht jeder Landwirt ist von der Bio-Landwirtschaft überzeugt. So mancher Bauer befürchtet sinkende Erträge und Umsatzeinbußen.
High-Tech im Stall
Milchkuh Nr. 71 bestimmt selbst, wann sie gemolken wird. Denn auf dem Biohof von Andreas Driller in Altenbeken erledigt ein Roboter das Melken der 65 Tiere. Kuh Nr. 71 kommt derzeit dreimal täglich zum Melken. Der Roboter lockt sie durch Biokraftfutter in den Stall. Das gibt es auf der Weide, wo sie die meiste Zeit verbringt, nicht. Bis zu 8.000 Kilo Milch melkt der Roboter jährlich bei Kuh Nr. 71. Biobauer Driller sagt, der Roboter sei im Prinzip der wichtigste Mitarbeiter auf dem Hof. Dementsprechend teuer ist so eine Hightech-Investition. Ein vollautomatischer Melkroboter, der 24 Stunden am Tag im Einsatz ist, kostet allein in der Anschaffung um die 150.000 Euro.
Mit Kosten ist auch das ständige Erhöhen der Produktionsleistung durch immer mehr und immer leistungsfähigere Tiere in der konventionellen Landwirtschaft verbunden. „Die Milchbauern stehen oft mit dem Rücken zur Wand“, hat Andreas Pichler bei den Recherchen zu seiner Dokumentation festgestellt. „Durch den Kreislauf von Neuinvestitionen zur Effizienzsteigerung und Schulden sind sie oft gezwungen, in der Spirale weiterzumachen.“ Der Umstieg auf Direktvermarktung oder Bio-Landwirtschaft wird so für viele Milchbauern zur Hürde. Und manche Landwirte spekulieren ganz einfach auf hohe Milchpreise. Denn solange der Milchpreis ein hohes Niveau hat, lässt sich von konventioneller Milchproduktion gut leben. Phasen niedriger Milchpreise können so zum Teil finanziell abgefangen werden.
Die Milchkühe Connie, Emma und Nr. 71 stehen für drei unterschiedliche Stile von Landwirtschaft. Connie lebt in einem Großbetrieb, Emma in einem konventionellen Familienbetrieb. Nr. 71 lebt auf einem Biohof. Für das Datenjournalismus-Projekt „Die Superkühe“ des Westdeutschen Rundfunks wurden die drei Tiere mit Sensoren ausgestattet und einen Monat lang durch ihren Alltag im Stall und auf der Weide begleitet. Ziel des aufwendigen Projekts war es, Transparenz in den Alltag von Milchkühen zu bringen, um zu zeigen, was die unterschiedlichen Arten, Milch zu produzieren, für die Tiere bedeuten. Und diese Transparenz ist nötig.
Denn auch wenn Milchkaufen keine Politik ist: Wer vor dem Milchregal steht, hat die Wahl zwischen verschiedenen Formen von Landwirtschaft. Und auch wer nur auf den Preis achtet, trifft damit eine Entscheidung für einen und gegen andere Stile der Milchkuhhaltung. Wer eine Vorstellung davon hat, was hinter den unterschiedlichen Einzelhandelspreisen für einen Liter Milch steckt, kann beim Einkaufen eine bewusste Entscheidung