Summ summ summ, Pferdchen lauf herum!
Warum es Pferde unter freiem Himmel braucht, um Wacholder hochkommen und Wildbienen zurückkehren zu lassen.
Es ist eine Idylle wie aus einem güldernen Bilderrahmen. Weiche Hügel, Pferde in satten Brauntönen, stolze Föhren, Dornengebüsch und weites Grasland wie von Ferdinand Georg Waldmüller ins warme Abendlicht gerückt. Tobias Schernhammer beugt sich über den Elektrozaun und deutet auf den staubigen Boden. »Wo sich Pferde wälzen, gibt es lockere Sandflächen«, sagt er. Der Blick des Biologen ist wenig empfänglich für Biedermeierkitsch. »Das ist spannend für viele Insektenarten, die im Boden brüten. Und die Dungkäfer brauchen die Pferdeäpfel«, sagt Schernhammer.
Dass hier im Naturschutzgebiet in diesem Jahr wieder Pferde weiden – das erste Mal seit vielen Jahrzehnten – ist sein Verdienst. Als Betreuer des Europaschutzgebiets Sandberge Oberweiden hat er sich dafür eingesetzt, dass zumindest ein kleiner Teil der Gesamtfläche von 128 Hektar, die alle im Eigentum der Gemeinde sind, wieder beweidet werden. »Ich war sehr skeptisch«, gesteht Erich Konlechner, einer der beiden Pächter. Er schreckte vor dem Aufwand zurück. Doch im August brachte der Besitzer des einstigen Rothschild-Gestüts erstmals acht seiner edlen Warmblutpferde vom Ortsgebiet in die Sanddünen hinaus; auf unebene Flächen, die schwer zu mähen sind, die als besonders artenreiche Steppenlandschaft gemäß der Vorgaben der Naturschutzabteilung des Landes aber gemäht werden müssen. Bislang wurden sie nur sporadisch gemäht und von der Dorfjugend für Motocrossfahrten heimgesucht. Auf den leicht zu mähenden Flächen macht Konlechner seit vierzig Jahren Heu für seine insgesamt 60 Pferde. Auch für die acht glücklichen Rösser war die Freiheit unter freiem Himmel anfangs ungewohnt. »Das war eine große Umstellung aus der Stallhaltung«, sagt der Landwirt. »In einem völlig neuen Umfeld musste erst eine neue Rangordnung ausgemacht werden. Das dauerte ein Monat, hat sich aber gut eingespielt«. Im September war Ruhe eingekehrt. »Ich bin zuversichtlich, dass wir die Beweidung beibehalten werden«, sagt Konlechner. Auch im Ort hat sich die anfängliche Aufregung gelegt. Vor allem die JägerInnenschaft war skeptisch gewesen, hatte befürchtet, dass die Neuankömmlinge das Wild beunruhigen könnten und Wildwechsel stören. »Nichts davon ist eingetreten«, sagt der Bauer. »Die Vorbehalte haben sich alle in Wind aufgelöst.« Ende Oktober kehrten die Pferde, allesamt Jungtiere oder trächtige Mutterstuten, zurück in den Stall. »Nächstes Jahr wird alles leichter«, meint Erich Konlechner, »dann kommen ein paar bereits erfahrene Tiere mit einigen Neuen hinaus auf die Weide. Wir müssen erst herausfinden, wieviele Tiere die Fläche wirklich verträgt. Sie werden nicht gefüttert und fressen nur, was sie finden.«
Weniger Wind, weniger Wildbienen
Warum es für die Artenvielfalt wichtig ist, dass hier im Naturschutzgebiet Tiere weiden, hat eine im Frühsommer veröffentlichte Studie am Beispiel von Wildbienen gezeigt. Im »Journal of Insect Conservation«wiesen WissenschafterInnen des Wiener Naturhistorischen Museums (NHM) und der Universität für Bodenkultur nach, wie stark die Wildbienenbestände in den Sandbergen Oberweiden in den vergangenen 100 Jahren zurückging. 164 von ursprünglich 289 hier nachgewiesenen Wildbienenarten konnten seit über 50 Jahren überhaupt nicht mehr nachgewiesen werden. Brisant sind diese Zahlen nicht nur weil sie aus einem Naturschutzgebiet stammen, sondern weil es selten derart weit zurückreichende, seriös vergleichbare Daten und Aufzeichnungen für ein und denselben Ort gibt. »Im Gegensatz zu anderen Studien, die den Rückgang der Artenvielfalt in den letzten fünf Jahrzehnten aufgezeigt haben, konnten wir Veränderungen der Wildbienenfauna und ihrer Lebensräume über 100 Jahre hinweg analysieren«, erklärt Erstautorin Dominique Zimmermann vom NHM. Erstaunt waren die ForscherInnen von Zweierlei: Dass der erste massive Rückgang der Wildbienenvielfalt bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkbar ist – also Jahrzehnte vor der wirklichen Intensivierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Das dürfte auf den Erfolg des 1880 gegründeten Marchfelder Aufforstungskommitees zurückzuführen sein. Um den Boden zu stabilisieren und den Flugsand zurückzudrängen, wurden tausende Schwarzföhren und eine Vielzahl von Windschutzgürteln gepflanzt. Das dämmte die Erosion ein, vereinfachte den Ackerbau, machte die Landschaft aber auch weniger attraktiv für Wildbienen und Sandwespen, die den warmen Sand als Brutschrank nutzen. Ebenfalls erstaunlich: Den zweiten massiven Rückgang gab es in den vergangenen Jahrzehnten – obwohl sich die Landnutzung in den Jahren zwischen 1966 und 2018 kaum veränderte. Zwar ging der Anteil der Steppe geringfügig zurück und mancherorts verwaldeten Flächen. »Das kann den Rückgang aber nicht plausibel erklären«, meint Wildbienenforscherin Zimmermann. »Unsere Schlussfolgerung ist deshalb, dass sich die Qualität des Steppenrasens verändert hat.« Der einzige wirkliche Unterschied in der Nutzung der Flächen: Wo früher beweidet wurde, wird seit Jahrzehnten maschinell gemäht. »Wir wissen: Es macht für Bienen und Insekten einen riesigen Unterschied, ob Beweidung oder Mahd stattfindet«, sagt Zimmermann. »Maschinelle Mahd tötet flächendeckend und wirkt sich verheerend auf Insekten aus. Rotationsmäher töten und mit einem Schlag sind riesige Flächen kurz. Flächendeckende Effizienz ist für die Natur aber eine Katastrophe.«
Zwar ist es besser, Naturschutzflächen werden selten, aber doch gemäht. Doch: »Mahd ist die schlechteste der guten Landnutzungsformen«, sagt Tobias Schernhammer. Genau deshalb hat der Biologe den Pferdebauern im Ort überzeugt, seine Tiere heraus auf die Sandberge zu bringen.
Welchen Unterschied die Anwesenheit der Pferde macht, zeigt ein Blick auf die andere Seite des Elektrozauns. »Man sieht: gemähte Flächen sind monoton, beweidete Flächen nicht«, erklärt Schernhammer. »Die Pferde bringen eine tolle Struktur in die Landschaft.« Auf der Koppel wachsen immer wieder Wacholderpflänzchen zwischen dem kurzgefressenen Gras. »Wacholder ist ein klassischer Beweidungszeiger. Beim Mähen wird er immer wieder umgeschnitten. Die Pferde verschmähen ihn aber und er wachst Jahr für Jahr höher.« In wenigen Jahren wird die Beweidung so für eine abwechslungsreiche Landschaft mit vereinzelten Sträuchern, Bäumen und Baumgruppen gesorgt haben. Ein wertvoller Lebensraum nicht nur für Wildbienen, sondern auch für Vögel, Amphibien und steppentypische Pflanzen wie die seltene Sandnelke, die lückigen Sand braucht, um zu gedeihen. Noch braucht es einen kundigen Blick, um den Unterschied zwischen beweideten und maschinell gemähten Sanddünen zu sehen. In ein paar Jahren werden die beweideten Hügel nicht mehr mit den gemähten Wiesen zu vergleichen sein.
Dann sollen zumindest ein paar Hektar der Sandberge Oberweiden wieder aussehen wie sie bis Ende des 19. Jahrhunderts ausgesehen haben – und damals auch das restliche Marchfeld rundum. Denn das Marchfeld als Kornkammer Wiens ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und der landwirtschaftlichen Spezialisierung auf »Körndlbauern« im fruchtbaren Osten und tierhaltende »Hörndlbauern« im alpinen Österreich.
Das Marchfeld, einst Weideland
»Was die Alten hier erzählen, stimmt einfach nicht«, sagt Tobias Schernhammer. »Hier wurde früher überall beweidet.« Die kollektive Erinnerung würde dafür aber nicht weit genug zurück reichen. »Alte Aufzeichnungen aus dem Jahr 1869 zeigen, dass der damalige Bezirk Marchegg jener mit dem zweithöchsten Bestand an Großvieheinheiten pro EinwohnerIn war«, weiß Schernhammer. Auf jede Person kamen statistisch 1,18 Großvieheinheiten. Das heißt: Gemessen an der Bevölkerung gab es fast nirgendwo in Niederösterreich so viele Rinder, Pferde und Schafe wie im Marchfeld.
Wie sich die Landschaft damals zusammensetzte, lässt sich bislang nur erahnen. Wildbienenforscherin Dominique Zimmermann möchte das ändern; zumindest für die Botanik. Denn der historischen Insektensammlung des Naturhistorischen Museums lässt sich mit modernen Analysemethoden (und dank finanzieller Unterstützung der Hotelgruppe Arcotel) neues Wissen abgewinnen. Auf den alten, in Schiebeladen aufgespießten Bienenexponaten des NHM finden sich nämlich noch Pollen der seinerzeitigen Marchfeldflora. »Anhand von Wildbienenarten, die nicht auf eine einzige Pflanze spezialisiert sind, kann ich mit Pollenspektrenanalyse rekonstruieren, wie die für Wildbienen relevante Offenlandschaft früher botanisch ausgesehen hat.«
Die Wiederansiedlung von lokal ausgestorbenen Arten ist bei Insekten zwar nicht üblich. »Das wäre aber schon denkbar«, sagt Zimmermann. »Es gibt Versuche, die zeigen, dass eine Population großer Bienenarten mindestens 50 weibliche Tiere und 924 Blühpflanzen braucht«, weiß sie. Eine Voraussetzung dafür wären also im ersten Schritt vermutlich: größere Weideflächen, mehr Pferde.
Das kann sich womöglich sogar Erich Konlechner vorstellen, denn, so erklärt er: »Die Sandberge sind ein Naturjuwel, das unbedingt erhalten werden muss.« Dafür ließe sich auch der Mehraufwand für ihn – etwa das tägliche Kontrollieren der Zäune und die Versorgung mit Wasser – rechtfertigen. Sorgen macht sich der Bauer aber um andere potenzielle Rückkehrer in die Kulturlandschaft: »Wenn Wölfe kommen, dann stelle ich die Beweidung wieder ein, sonst fressen mir die meine Fohlen. Wir sind hier nahe an der slowakischen Grenze. Wirklich ausschließen kann man das also nicht.«
Ein Weidetier, dass in einer gänzlich anderen Landschaftsform zurechtkommt und dort die Artenvielfalt fördert, ist der Wasserbüffel. Darüber haben wir bereits an dieser Stelle geschrieben.