Was steckt hinter „agraprofit“? Interview mit Hassaan Hakim

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Im Internet sorgt ein Kurzfilm für Aufsehen, der die Guerilla-Aktion „agraprofit“ dokumentiert. Als fiktives Agrarunternehmen getarnt, versuchten Mitarbeiter der Agentur YOOL, Billiglebensmittel an die Besucherinnen und Besucher eines deutschen Wochenmarktes zu bringen. Damit sollte im Rahmen der Kampagne „Öko + Fair ernährt mehr!“ von „Naturland“ und dem „Weltladen-Dachverband“ auf die Rolle der Verbraucherinnen und Verbraucher bei den Produktionsbedingungen von billigen Lebensmitteln hingewiesen werden. BIORAMA hat sich ausführlich mit Hassaan Hakim, Geschäftsführer von YOOL, über die Aktion unterhalten.

BIORAMA: Welcher Gedanke stand hinter der provokanten Guerilla-Aktion im September?

Hakim: Die Idee für die Aktion entstand im Zusammenhang mit der Frage, wer eigentlich die Verantwortung für die ausbeuterischen Produktionsbedingungen für Billiglebensmittel trägt? Die Antwort liegt scheinbar auf der Hand: Verantwortlich ist natürlich die Profitgier der Lebensmittelindustrie. Die großen Konzerne agieren rücksichtslos und beuten Menschen sowie Tiere aus. So oder so ähnlich legen wir uns die eigene Realität gerne zurecht. Doch seien wir ehrlich, im Grunde genommen kennen wie die Wahrheit hinter dem Preis. Im Zweifelsfall haben wir eine Vermutung, woher die Eier kommen und wie es möglich ist, dass 10 Stück davon nur 99 Cent kosten. Und trotzdem greifen wir zu. Tagtäglich treffen wir Kaufentscheidungen für eine konventionelle Lebensmittelwirtschaft, die damit geradezu genötigt wird, unsere Lust nach Billigwaren zu bedienen. So stellten wir uns die Frage, was wäre, wenn wir schon am Point of Sale informiert würden, wie „billig“ zustanden kommt. Wie niedrig muss der Preis sein, sodas unser schlechtes Gewissen beginnt Fragen zu stellen, die der eigene gesunde Menschenverstand beantworten kann. Sprich, wo liegt unsere moralische Preisschmerzgrenze.

Agraprofit ist im Grunde genommen unsere eigene zu Marke und Marktstand manifestierte Einkaufsmoral mit dem Unterschied, dass uns diese Bewusstseinsversion frontal mit der Warenrealität konfontiert. Natürlich ist sie uns wohlgesonnen, dynamisch und beschwingt. Eine ehrliche sympatische Stimme, die uns freundlich und zuvorkommend bedient.

BIORAMA: Wie war euer Eindruck? Waren die meisten Kundinnen und Kunden schockiert oder sind den meisten die Realität der globalisierten Lebensmittelwirtschaft ohnehin bekannt?

Hakim: Die Bilder und Informationen, die wir am Markstand präsentierten, waren keine großen Unbekannten. Wir alle sind doch aufgeklärte Menschen: schauen Fernsehen, lesen Zeitungen oder durchleben Lebensmittelskandale, welche die  Massenmedien für kurze Zeit zum Anlass nehmen, den Moloch zu beleuchten. Wir kennen die Bilder von Legebatterien, gerodetem Regenwald oder arbeitenden Kindern.

Unsere Aufsteller waren zweiseitig angelegt. Auf der Vorderseite waren die Produktinfo und der Preis abgebildet. Auf der Rückseite die Schockbilder: Lastentragende Kinder, Pestizideinsatz,  Regenwaldvernichtunsgszenario. Wir ließen es langsam angehen und empfingen die Kunden zunächst nur mit der Front, merkten allerdings relativ schnell, dass die von unseren Verkäufern beigesteuerten Infos keine bewegende Wirkung zeigten. In der zweiten Konfrontationsphase drehten wir unsere Schilder um und die Kunden bekamen die Wahrheit direkt und visuell präsentiert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass das, was wir zeigten, für die Besucher völlig überraschend und unbekannt war. Das publikum war interessiert, teilweise irritiert von der Art, wie Agraprofit auftrat, konfrontativ mit einer skrupellosen Selbstverständlichkeit. Die meisten waren sichtlich verunsichert von der positiven Negativität, die von unserem Marktstand und seinen Verkäufern ausging. Teufelskerle verkaufen Teufelszeug in schöner Hülle, ziemlich offen und ziemlich ehrlich. Dieser skurile Mix war für einige schwer zu verdauen.

BIORAMA: Gab es am Marktstand auch vehementen Protest, von dem im Video nichts zu sehen ist?

Hakim: Es gab durchaus heftige Diskussionen. Das Meiste konnten wir im Film leider nicht verwenden, da das Material nicht freigegeben wurde. Die ‚vehmenten Proteste‘ hielten sich jedoch in Grenzen.

BIORAMA: Wie genau habt ihr die Produkte ausgewählt? Ihr habt vor allem Schokolade, Bananen etc. angeboten. Sind das besonders ausbeuterische Produkte, oder besser Rohstoffe?

Hakim: Es waren verschiedene  Produkte im Gespräch. Auch ob wir Gemüse mit ins Angebot nehmen sollten, wurde ausdiskutiert. Hauptauswahlkriterium für die Produkte war natürlich der Fairtrade- und Biogedanke, den das Produkt kommunizieren sollte. Es gibt Lebensmittel, die einen sehr hohen problematischen Anteil transportieren. Die wollten wir ins Angebot nehmen. Am Ende entschieden wir uns für Kaffee, Schokolade, Bananen, Wurst und Eier – alles Produkte, die auf unterschiedliche Problemthemen in der Landwirtschaftsdebatte hinweisen. Doch es gab auch noch andere Faktoren, die wir versucht haben zu berücksichtigen. Zum Einen war es uns wichtig, dass die Produkte zu einem Wochenmarktstand passen, wir also mit unserem Angebot nicht völlig aus den Rahmen fallen. Zum Anderen sollten es Produkte sein, die wir verköstigen konnten, denn dadurch war es möglich, Menschen an den Stand zu locken und mit ihnen in Kontakt zu treten. Wir konnten im Vorfeld schwer einschätzen, ob der günstige Preis genug Anziehungskraft haben würde, um auf uns aufmerksam zu machen. Im Nachhinein stellten sich unsere Bedenken als unbegründet heraus, denn unser Preis war definitiv ein Publikumsmagnet. Mit den kostenlosen Proben hatte es jedoch noch etwas anderes auf sich. Unsere Absicht war es auch zu sehen, welche sichtbaren Spuren die mit Informationen gefütterten Häppchen beim Probieren hinterließen.

BIORAMA: Innerhalb der Europäische Union zählen die Deutschen zu denen, die durchschnittlich am wenigsten Geld für Nahrung ausgeben. Der Preis ist das wichtigste Kaufkriterium. Habt ihr festgestellt, dass sich das ändert, wenn man die Menschen mit den Produktionsbedingungen konfrontiert?

Hakim: Dass der Preis in Deutschland eine so wichtige Rolle spielt, ist nicht verwunderlich. Wie so oft und so gerne kann man, wenn man möchte, auch hier das Postkriegstrauma der Deutschen für ihre Sparsamkeit bei Lebensmitteln verantwortlich machen. Das deutsche Volk ist durch extreme Zeiten der Entbehrung gegangen, was wahrscheinlich ein ausgeprägtes Preisbewusstsein für Lebensmittel hinterlassen hat. Das Positive daran: die Deutschen sind auch die kaufkraftstärkste Nation Europas, was die Möglichkeiten eines qualitativen Wandels grundsätzlich begünstigt. Die Bedingungen und das Potential für einen Lebensmittelparadigmenwechsel sind in Deutschland vorhanden.

Es ist schwer zu sagen, wie nachhaltig unsere Aktion gewirkt hat. Wir Menschen haben effektive Wege entwickelt um nicht zu verhungern. Die Fähigkeit zu vergessen gehört sicherlich zu einer jener Überlebensmechanismen. Vieles, was wir über Lebensmittel in den Medien erfahren oder auch wissen, verbannen wir gerne schnell wieder aus unserem Gedächtnis. Ganz einfach um uns nicht bei jedem Happen übergeben zu müssen. Doch was sehr wohl eine Reaktion hervoruft, das haben bei unserem Experiment erleben dürfen, war die Verknüpfung von Bildern und Informationen mit Esserfahrungen. Dass die Atmosphäre, also das Gefühl, das wir beim Essen haben, einen starken Einfluss auf uns hat, ist keine neue Erkenntnis. Die Vorstellung, dass diesem süßen Stückchen Schokolade im Mund Versklavung , Kinderarbeit und Leid anhaften, hinterlässt einen auch für Außenstehende warnehmbaren (zart)bitteren Beigeschmack beim Verköstigen. Ob diese konkrete Erfahrung bei dieser Person dazu führt, dass sie ab jetzt nur noch Bio- und Fairtrade-Schokolade einkaufen wird, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube nicht, dass eine provozierte Agraprofit-Marktstanderfahrung das Kaufverhalten bei unseren Besuchern unmittelbar und langfristig verändert hat. Wandel, vor allem der des Bewusstseins, vollzieht sich plötzlich oder schrittweise, aber meistens unkontrollierbar und immer individuell.

Allerdings spüre ich, dass unser Film etwas bewirken kann, da er eine Metawahrnehmungsebene anspricht. Menschen sprechen darüber, tauschen sich zum Thema aus und reflektieren ihr eigenes Kaufverhalten. Es ist ein Dokument, das uns allen einen Spiegel vorhält. Darin sehe ich sein transformierendes Potential.

BIORAMA: Wurden eure Erwartungen auf dem Wochenmarkt bestätigt oder wart ihr eher schockiert über die Reaktionen der Kundinnen und Kunden?

Hakim: Wie bei jedem Experiment hatten auch wir eine Hypothese. Wir haben  damit gerechnet, dass es einige Standgäste geben würde, die unsere Produkte widerstandlos kaufen würden. Doch waren wir auch davon überzeugt, dass wir mit massiver Gegenwehr konfrontiert werden würden. Auch im Hinblick auf die dramaturgische Gestaltung des Filmes, dem ein wenig Action nicht schaden würde, erhofften wir uns beide Szenarien erleben zu dürfen. Letzlich waren wir sehr überrascht, dass die kritiklose Kaufentscheidung von Kunden überwog. Worüber ich mich jedoch am meisten wunderte, waren die Reaktionen danach. Wir hatten drei Kameras: zwei versteckte am Stand sowie ein mobiles Kamerateam, welches dem Kunden folgte, nachdem dieser den Stand verlassen hatte, um noch einige Fragen zu stellen und um am Ende über die Aktion aufzuklären. Einige Käufer waren trotz der eindeutigen Aufklärungversuche unserer zwei Verkaufstalente immer noch der Meinung, sie hätten mit dem Kauf der Produkte etwas Gutes für Mensch, Tier und Umwelt getan. Bestimmte Informationen schienen ihren Weg nicht ins Bewusstsein gefunden zu haben. Triggerbegriffe wie ‚fair‘ und ‚kontrolliert‘ rutschten durch, alles andere wurde wegselektiert. Dieser Umstand beunruhigte mich sehr.

BIORAMA: Was glaubt ihr, wieso funktionieren Billigprodukte so gut, trotz Aufklärung über die Produktionsbedingungen?

Hakim: Grundsätzlich erscheint mir unsere Konsumpriorität ziemlich verschoben. Wir geben gut und gerne unser ganzes Erspartes für Neuwagen, Flachbildschirme, Mobiltelefone und anderen sinnlosen Krimskram aus. Geknausert wird aber bei Lebensmitteln; Dingen, die wir zu uns nehmen, in uns aufnehmen, die uns am Leben erhalten. Diesen Irrwitz muss man erst mal verdauen. Erstaunlich ist ja, dass Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten der Billigmentalität zum Opfer fallen. Meist scheitert es nicht an finanziellen Mitteln, sich den ethisch korrekten Produkten zuzuwenden. Vielmehr überwiegt bei vielen der Zwang einen guten Deal zu machen. Das Gefühl kennen wir alle: Es ist toll, etwas Gutes günstig erworben zu haben. ‚Gut‘ ist ein anderes Wort für Qualität. Konsumenten werden Ihnen ganz unterschiedliche Qualitätskriterien nennen können. Speziell bei Lebensmitteln gibt es jedoch etablierte Werte: z.B. Hygiene, Geschmack, aber auch Verpackung, Design und die damit gestaltete Lebenswelt. Leider haben es ‚gute‘ Produktionsbedingungen noch nicht in die Qualitätsoberliga geschafft. Das lässt sich auch nicht über Nacht verändern, da es einen Wertewandel voraussetzt. Fest steht: Fair Trade- und Bioprodukte haben eindeutig mehr zu bieten als konventionelle. Und bis die breite Masse von selbst darauf kommt, müssen wir deren Mehrwert intelligent und kreativ kommunizieren.

BIORAMA: Was ist euer Eindruck? Funktionieren billige Preise weiterhin oder werden die Menschen immer sensibler?

Hakim: Sie funktionieren natürlich nicht. Das momentane Preis/Leistungs-System ist hochgradig instabil. Ich persönlich denke, dass in den nächsten 10 Jahren der Anteil von Bio- und Fairtrade- Lebensmitteln exponentiell anwachsen wird. Es wächst eine neue Generation an mündigen Konsumenten heran, die für sich, für andere und für ihre Umwelt die Verantwortung übernimmt. Die Unternehmen  werden sich anpassen und natürlich die neuen Konsumentenbedürnisse bedienen. Speziell in der Lebensmittelbranche werden die Auswirkungen dieses Wertewandels massiv zu spüren sein. Ich schaue zuversichtlich und hoffnungsvoll nach vorne.

BIORAMA: Euer Film ist Teil der Kampagne „Öko + Faier ernährt mehr!“. Was steckt dahinter?

Hakim: Naturland und der Weltladen-Dachverband fordern mit der gemeinsamen Kampagne eine globale Agrarwende. Sie machen auf Alternativen zu den ungerechten Produktions- und Handelsbedingungen aufmerksam und zeigen, dass Öko-Landbau und Fairer Handel der Schlüssel zu einer wirklich zukunftsfähigen Welternährung sind. Soviel in aller Kürze. Mehr unter www.oekoplusfair.de. Es lohnt sich draufzuschauen.

www.agraprofit.de

www.yool.de

 

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