Grünzeugs aus Grauzonen
Urban Gardening boomt. In Europa ist es vor allem Ausdruck eines gesundheitsbewussten oder ökologischen Lebensstils. Für viele der 800 Millionen Menschen weltweit, die städtische Landwirtschaft betreiben, aber eine Frage des ökonomischen Überlebens.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, 2030 werden es laut Schätzungen der UN bereits fünf Milliarden Menschen sein. Damit steigt auch der Bedarf an Lebensmitteln in städtischen Gebieten. Während in vielen ländlichen Regionen der Welt, auch in Europa, Formen von Subsistenzwirtschaft anzutreffen sind, sind Stadtbewohner primär auf den Kauf von Nahrungsmitteln angewiesen. Die Wirtschaftskrise, die sich in schwankenden Lebensmittelpreisen und hoher Arbeitslosigkeit und damit sinkender Kaufkraft manifestierte, hat die Versorgungssicherheit dieser Gruppe besonders stark beeinträchtigt. Die FAO schätzt, dass aufgrund der hohen Lebensmittelpreise die Anzahl chronisch hungriger Menschen um 100 Millionen auf über eine Milliarde angestiegen ist.
Von Urban Agriculture, vor allem in Afrika, Lateinamerika und der Karibik erhofft sich die FAO eine deutliche Verbesserung der Ernährungssicherheit und der Ernährung selbst. Kuba, wo der Pro-Kopf Verzehr von Obst und Gemüse sogar die Empfehlungen der FAO übersteigt, gilt als Musterbeispiel städtischer Landwirtschaft: In Havanna allein gärtnern rund 90.000 Menschen und 60 Prozent aller Gartenbauprodukte stammen aus (sub-)urbaner Produktion. Welchen Einfluss die wohl bevorstehende wirtschaftliche Erholung in Kuba auf die städtische Landwirtschaft haben wird, ist indes offen. Gelingt es nicht, neben vorwiegend ökonomischen auch andere Motive mit Urban Farming zu verknüpfen, könnte es auch zu einem deutlichen Rückgang kommen.
Gärtnern bis der Bagger kommt
Im China der 60er Jahre versuchte man, die urbane Landwirtschaft bewusst in der Städteplanung zu berücksichtigen. So stammt heute rund die Hälfte des in Peking verbrauchten Gemüses aus den Gärtnereien der Stadt selbst. Nicht überall in China funktioniert städtische Landwirtschaft allerdings so planvoll. Etwa in Chongquing, wo der Fotograf Markus Sepperer Urban Agriculture dokumentierte: »Die Stadt ist voller improvisierter Gärten. Überall finden die Leute Zwischennutzungsräume, um Salat und Gemüse anzubauen. Es gibt Gärten unter U-Bahn-Bögen, Autobahnkreuzen, aber auch auf den Dächern der hässlichen 60er-Jahre-Blockbauten. Dort halten die Leute auch Hühner oder Schweine.« Die knapp 30 Millionen Einwohner zählende Metropolregion am Zusammenfluss von Jangtsekiang und Jialing beschreibt er als Urbanitätswucherung. »Man kann dabei zusehen, wie Geschichte geschrieben wird, wie Ackerflächen verschwinden und sich die Stadt entwickelt. Die Schnittstelle zwischen Stadt und Land ist immer in Bewegung«, sagt er.
Viele der Menschen, die in der Stadt Gemüseanbau betreiben würden, seien Bauern, die unfreiwillig zu Städtern wurden und aufgrund der Urbanisierung ihre Einkommensgrundlage verloren haben. Andere würden aus Gegenden wie Szechuan stammen und seien ihren Kindern, die in der Stadt arbeiten, nachgefolgt. Viele der oft älteren Herren misstrauen dem Essen aus den Supermärkten – was in Anbetracht der völlig unkontrollierten Anbaubedingungen des eigenen Gemüses schwer nachzuvollziehen ist – oder pflegen ihre Gärten, um aktiv zu bleiben. Wie in vielen anderen Städten sich entwickelnder Länder dient die Ernte zur Versorgung des eigenen Haushalts oder schafft durch ihren Verkauf ein Zusatzeinkommen.
Anders als bei vielen Urban Gardening-Projekten im Westen spielt der Gemeinschaftsgedanke dabei keine Rolle: »Die Menschen organisieren sich nur soweit, dass sie sich nicht gegenseitig das Gemüse wegnehmen: Wenn es wächst, dann gehört es dir. Das gilt solange, bis die Bagger kommen«, so Sepperer. Davor werde aber in vielen Fällen mit Hinweistafeln gewarnt: »Bitte räumen sie ihr Gemüse weg. In zwei Wochen kommt der Bagger.«
Urban Gardening in Europa: Lifestyle oder Pragmatik?
Wenn in Europa gegärtnert wird, und das wird es immer öfter, dann ist eher von Urban Gardening als Farming die Rede. Ökonomische Gründe stehen weniger im Vordergrund – häufig trifft man auf Verknüpfung aus ökologischen, gesundheitlichen und Gemeinschaftsaspekten. Die Motivationen hinter solchen Bewegungen würden sich aber nicht nur regional, sondern auch individuell unterscheiden, wie Axel Timpe, Landschaftsarchitekt und Urban Agriculture-Experte an der RWTH Aachen im Rahmen eines Forschungsprojekts festgestellt hat: »Im Nordwesten Europas ist Urban Gardening vor allem eine Lebensstil-Frage«, sagt er. Oftmals würden sich »Recht auf Stadt«-Initiativen und Aspekte wie Community-Building an solche Projekte knüpfen. »In Südeuropa und Irland gab es aber auch ganz klar die Aussage, dass es ein Versuch ist die Krise zu bewältigen«, so der Experte.
Eine Kleingarten-Kultur, wie man sie in Deutschland kennt, habe es dort vorher nicht gegeben. Die Projekte sind regelrecht aus dem Boden geschossen: In Lissabon allein soll es mittlerweile rund 70.000 Gemüsegärten geben. Die Anlagen sind dabei weniger von Zäunen, Hecken und Zierbeeten geprägt als die klassische deutsche Kleingartenkolonie oder die Schrebergärten. Der Erschließung alternativer Möglichkeiten zur Nahrungsmittelversorgung stünde dort aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation stärker im Vordergrund. Menschen würden in diesen Projekten angesichts hoher Arbeitslosigkeitsraten auch sinnvolle Beschäftigung und damit Selbstbestätigung finden. Der Mehrfachnutzen ist für Timpe auch ein essentieller Bestandteil von Urban Gardening: »Die Menschen, die wir in Sofia getroffen haben, sagten, wir machen das nicht nur für uns und nicht nur aus ökonomischen Gründen. Wir machen das hier in der Plattenbausiedlung, um den Ort zu verändern und einen zu erschaffen, an dem wir etwas gemeinsam machen können.«
Keimzelle einer gerechteren Gesellschaftsordnung?
Egal in welcher Konstellation städtische Landwirtschaft betrieben wird, ein Bezug zum Wirtschaftssystem scheint aber immer gegeben: das Urban Gardening der wohlhabenden Regionen versteht sich auch als Kritik am bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, während das Urban Farming in jenen Regionen, die stärker von Armut oder den kapitalistischen Krisen betroffen sind, als Reaktion auf diese gelten kann. Urban Agriculture kann ein effektives Instrument sein, um die Folgen jener Krisen abzufedern. Vielleicht sogar noch mehr: Die Saat eines ökologisch wie ökonomisch nachhaltigeren und nicht zuletzt gerechteren Wirtschaftssystems, das solche Krisen nicht mehr kennt.