„Unterschätze niemals die Einöde“ – Ruin Porn im Weinviertel
„Das verschwundene Weinviertel“ zu finden haben sich Vater und Sohn – Karl und Martin Zellhofer – aufgemacht. Ihre Fundstücke zeigen sie in einem Bildband, der allerdings kein „Vintage Weinviertel“ sein möchte. Schließlich zeige man nicht das Lebendige im Gestern, sondern das Tote im Gegenwärtigen. Wir haben uns mit Sohn Martin über Ziegelofenruinen, aufgelassene Bahnstrecken und das zum Jugendtreff umfunktionierte Milchhaus unterhalten.
BIORAMA: Gemeinsam mit deinem Vater verbindest du die romantische Lust am Ruin Porn mit der Wiederentdeckung des Regionalen. Ihr recherchiert an einem Bildband über „das untergehende Weinviertel“, also über verschwundene oder gerade verschwindende Gasthäuser, Post-Filialen und Ställe und wuchernde Industriebrachen. Wie kam es zu dem Projekt?
Martin Zellhofer: Die Idee dazu hatte mein Vater, der Teile seiner Kindheit und Jugend in den 1960ern in einem kleinen Ort im Weinviertel verbracht hat und den damals beginnenden Wandel in der Landwirtschaft und der Mobilität der Dorfbewohner und das beginnende Verschwinden infrastruktureller Einrichtungen miterlebt hat. Er hat sich schon immer für die Relikte dieses Wandels – alte Stadln, verfallende Keller, Ziegelofenruinen, geschlossene Gasthäuser, Geschäfte und Schulen und so weiter – interessiert. Daraus entstand seine Idee, darüber ein Buch zu machen.
Wobei „Wiederentdeckung des Regionalen“ für unser schlussendlich gemeinsames, mittlerweile zweites Buchprojekt der falsche Begriff ist. Denn wir „entdecken“ bloß das Verschwindende und klammern noch existierende Greißler, kleine Bäcker und so weiter und auch neue, innovative Ansätze aus.
Für Nicht-Weinviertler: Was ist der besondere Reiz dieser Region?
Kommt drauf an, wo du gerade bist und wofür du dich begeistern kannst. Mit touristischen Superlativen kann die Region nicht punkten, aber Hügel ohne Ende, Äcker und Wälder, Schlösser, Weinbau, kleine schmucke Städte und die viele Kirchen können schon sehr reizvoll sein. „Hintaus“ in den Dörfern ist es mitunter echt noch sehr ursprünglich, mit Obstgärten, Hühnern im Garten, alten Schupfen, Kellern und Stadln.
Jede Generation hat ihren eigenen Blick auf Kulturlandschaft. Inwiefern unterscheidet sich denn das Weinviertel deines Vaters von deinem?
In dem Dorf, in dem mein Vater in den 1950ern und 60ern Teile seiner Kindheit und Jugend verbracht hat, liefen Hunde und Gänse durchs Dorf, der Dorfbach war nicht reguliert. Am Abend saßen die älteren Einwohner vor ihren Häusern, für die Kinder war das ganze Dorf ein „Abenteuerspielplatz“. Es gab eine Volksschule, zwei Gasthäuser, zwei Lebensmittelgeschäfte, einen Schuster, eine Tischlerei, eine Milchsammelstelle und eine Bahnhaltestelle, wo der Bedienstete vier Schranken händisch auf- und zukurbelte. Und das alles für knapp 200 Dorfbewohner! All das ist verschwunden, ab 13. Dezember 2015 hält dort auch kein Zug mehr. Ich kenne viele solcher Einrichtungen oder Begebenheiten nur noch aus Erzählungen oder Büchern.
In dem Dorf im Weinviertel, in dem ich aufgewachsen bin, gab es in den 1980ern noch ein Kino, eine Tankstelle mit Fahrradgeschäft, zwei Greißler, einen Fleischer, ein paar Großbauern – alles weg, aber immerhin teilweise durch die spätere Errichtung eines Supermarktes mitten im Ort aufgefangenen. Alle größeren Besorgungen erledigten wir im Zentrum der nächstgelegenen Kleinstadt. Wer heute in bestimmten Regionen im Weinviertel aufwächst, kauft, überspitzt formuliert, weder im Ort noch in der nächsten Kleinstadt – sondern im Shopping Center vor der Stadt und kennt die Tiere aus dem Tierpark. So ändern sich die Bilder…
Die Recherche für solch einen Bildband basiert meist auch auf Hinweisen aus der Bevölkerung. Wessen Verschwinden bewegt denn die Menschen im Weinviertel besonders?
Hinweise aus der Bevölkerung haben wir eigentlich nicht benötigt. Als klar war, dass der Verlag das Projekt annimmt, haben wir uns mittels Zug, Fahrrad und Auto mit offenen Augen durch die Gegend bewegt. Die Vielzahl an Objekten ist enorm. Es gibt kaum ein Dorf ohne verlassenen Gewerbebetrieb, ohne Geschäft, ohne verfallendes Haus, seltener stößt man auch auf ehemalige Kinos oder eingestellte Eisenbahnlinien. Kontakt mit der Bevölkerung ergab sich wenig. Ich habe im nördlichen Weinviertel einmal sonntags über eineinhalb Stunden in einem Dorf fotografiert ohne eine Menschenseele zu treffen. Das ist mir öfter passiert. Oft waren angesprochene Personen misstrauisch, sind aber aufgetaut, wenn ich erklärt habe, was ich hier mache. Heftig bedauert wurde einmal die kürzlich erfolgte Schließung einer Schule…
Habt ihr besondere Muster in der Nachnutzung bestimmter Gebäude erkannt?
Alte Vorratskeller verfallen in der Regel, aus Milch- oder Kühlhäusern wurden Gemeinschaftsräume für die Dorfjugend oder die Feuerwehr. Alte Volksschulen sind oft privat bewohnt. Bei alten Höfen habe ich den Eindruck, dass eher abgerissen und neugebaut als renoviert wird. Geschäftsräumlichkeiten sind oft in Wohnungen integriert worden, da hat das Wohnzimmer jetzt halt eine Auslage. Vieles steht einfach leer.
Sucht ihr noch Anregungen von Weinviertlern oder habt ihr die Recherche abgeschlossen?
Wir sind fertig. Wir hätten genug Material für ein Dutzend Bände zusammengetragen.
Abgesehen von vielen schönen, manchmal vermutlich morbiden Fotos wird es auch Texte geben. Gibt’s dafür einen speziellen kulturhistorischen Anspruch oder treibt euch zuvorderst die Nostalgie?
Der Fokus des Buches liegt hauptsächlich auf den Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sich da aufgrund der Technisierung in allen Lebensbereichen massiv viel getan hat. Diesen Zeitraum bilden sowohl die Fotos als auch die Texte ab. Jedes Kapitel wird mit einem Text, basierend auf einem Zeitzeugeninterview, eingeleitet. Wir haben eine ehemalige Kinobesitzerin, einen Ziegelofenarbeiter, Gasthaus- und Kaufhausbesitzer, Landwirte, einen Eisenbahner und so weiter aufgetrieben. Unser Anspruch war, dass sie uns erzählen, „wie es früher war“, wie ihr Arbeitsalltag und Umfeld in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesehen hat – und warum es ihrer Meinung nach gegebenenfalls jetzt nicht mehr so ist. Wir sind aber nicht nach wissenschaftlichen Kriterien vorgegangen, sondern haben die Leute einfach erzählen lassen.
Gab es Vorlagen und Vorbilder für eure Arbeit? Orientiert ihr euch an „Vintage Vienna“ oder „Vintage Alpen“ und erwartet uns ein „Vintage Weinviertel“?
Die Vintage-Bücher sind cool, aber die Serie zeigt Lebendiges aus der Vergangenheit, wir zeigen Totes in der Gegenwart. Mein Interesse für das Verschwindende kommt von den vielen Berichten über das verfallende Detroit. Zusätzliche Inspiration kommt von den Stadtschriften-Sammlungen oder den 78ern. Institut für Stadterkundung. Mein Vater hat das sich verändernde Weinviertel hautnah und intensiver als ich miterlebt, daher stammt sein Interesse.
Warum recherchiert ihr eigentlich nicht kollaborativ und via Social Media?
Weil das nicht notwendig war. Es gibt beim bloßen Durchfahren der Landschaft so viel zu entdecken, dass zusätzliche Hinweise oder Recherchen nach Bildmaterial nicht nötig waren.
Gibt es etwas, dass du bei der Arbeit an eurem Bildband gelernt hast? Eine besondere Erkenntnis?
Ja: Auch in einem 100-Seelen-Dorf kann man eine spannende Entdeckungsreise unternehmen. Und unterschätze niemals die vermeintliche Einöde: Es gibt überall genug zu sehen – man muss es nur sehen wollen.
Anders als in den angrenzenden Nachbarländern Tschechien und der Slowakei fällt auf, dass es im Weinviertel kaum noch verwaiste Einrichtungen der einstigen lokalen jüdischen Gemeinden gibt, dass nur wenige Gedenktafeln an ihre einstige Existenz erinnern. Habt ihr diesbezüglich Entdeckungen gemacht oder Hinweise erhalten?
Da wir nicht nach jüdischen Spuren gesucht haben, sind wir unseren Zufallsfunden nicht nachgegangen. Ich habe zweimal Gedenktafeln an Häusern gesehen, die davon sprechen – ohne aber näher darauf einzugehen – dass hier bis 1938 XY wohnte. Solche Hinweise könnten ein Indiz auf ehemalige jüdische Bewohner sein. Als mein Vater einen verblassenden Schriftzug an einer Toreinfahrt fotografiert hat, hat ihm ein Passant darauf hingewiesen, dass der Besitzer, der im Schriftzug genannt ist, jüdischen Glaubens war, aber keine weiteren Auskünfte geben können. Bei der Recherche nach einem ehemaligen Geschäft in Mistelbach bin ich im Netz auf ehemalige jüdische Vorbesitzer gestoßen. Explizite Gedenktafeln haben wir allerdings keine entdeckt.
2013 widmete sich die Niederösterreichische Landesausstellung im Weinviertel dem Thema „Brot und Wein“ als landschaftsprägend für die Region. Tun sich „Brot und Wein“ auch bei euch besonders hervor?
Wein gar nicht. Gerade Wein ist ja nach wie vor DAS Aushängeschild der Region. Rund um den Wein gibt es viel, was noch – und wenn es nur wegen der Folklore ist – funktioniert. Auf ehemalige Spuren von „Brot“ stößt man schon eher: Es gibt eine Unmenge stillgelegter oder umfunktionierter Mühlen. Wobei die unser „Industriekapitel“ nicht dominieren, weil wir auch hier sehr viel verschiedene unterschiedliche Sparten finden konnten.
Was meinst du, ist Ruin Porn tendenziell konservativ?
Ist Beschäftigung mit Geschichte, dem Vergangenen, prinzipiell konservativ? Wohl kaum. Zudem Ruin Porn ja auch nichts stilisiert oder irgendeine Vergangenheit glorifiziert. Sondern Dinge vor ihrem Verschwinden – oder, wenn es gut geht, vor der Revitalisierung und Neuinterpretation – zeigt.
Zum Buch:
„Das verschwundene Weinviertel“ von Karl und Martin Zellhofer erscheint im März/April 2016 in der Edition Winkler-Hermaden (€ 19,90) und ist unter info@edition-wh.at vorbestellbar.