Unter dem Schirm der Hyäne
Äthiopischen LandwirtInnen mangelt es an Boden. Die Zucht von Austernpilzen könnte helfen, ihr Einkommen flächenunabhängig zu vergrößern. Doch so einfach ist das leider nicht.
Anfang 2019 hat sich der 26-jährige äthiopische Bauer Bekele Gebissa auf den Weg in die Kleinstadt Gojo in der Region Jeldu gemacht. Die Hilfsorganisation Menschen für Menschen (MfM) hatte LandwirtInnen wie ihn eingeladen. Es ging um eine Möglichkeit, ihr Einkommen zu vergrößern. Seit einer umfassenden Landreform Mitte der 1970er-Jahre stehen äthiopischen LandwirtInnen maximal zehn Hektar Land zur Nutzung zu. Seither haben sich die Parzellen durch Erbteilung vielfach noch einmal deutlich verkleinert. Wollen LandwirtInnen ihre Fläche erweitern, geht das nur, wenn sie die Flächen von Familienmitgliedern, die alt sind oder Arbeit außerhalb der Landwirtschaft gefunden haben, mitbewirtschaften.
Wer das Einkommen erhöhen möchte, muss den begrenzten Boden effizienter nutzen. Bekele Gebissa setzt beim Anbau von Kartoffeln und Gerste deshalb auf Kunstdünger. Helfen könnten auch flächenunabhängige Kulturen und Anbaumethoden. Und genau darum ging es in Gojo. Professor Asefa Keneni von der Universität Ambo war ins Hochland gekommen, um die Bäuerinnen und Bauern mit der Zucht von Austernpilzen vertraut zu machen. Bekele und 28 weitere LandwirtInnen waren der Einladung zum Workshop gefolgt. Der Anbau von Austernpilzen ist in der Region kaum verbreitet. Dabei lassen sie sich auf unterschiedlichsten Substraten, zum Beispiel auf gehäckselten Zweigen, Stroh oder Gras, züchten. Voraussetzung ist, dass das Substrat durch langes Kochen pasteurisiert wurde, also von Keimen und anderen unerwünschten Pilzsporen befreit ist. Das haben die Bäuerinnen und Bauern im Workshop gemeinsam gemacht, in großen Fässern mit heißem Wasser.
Die Anzucht der nötigen Pilzkulturen, z. B. auf Sorghum-Körnern, also das Anziehen der sogenannten Körnerbrut, ist da schon schwieriger und muss unter sterilen Bedingungen stattfinden. Diese Anzucht soll Professor Asefa Keneni zukünftig für die Bäuerinnen und Bauern übernehmen, um sie dann mit den angezüchteten Pilzkulturen zu beliefern. Bei den LandwirtInnen könnten dann die weitere Aufzucht und die Ernte der Pilze erfolgen. Das Interesse der Workshop-TeilnehmerInnen an der Pilzzucht ist groß. »Das scheint mir ein sehr einfaches Geschäft zu sein, das auch in kleinem Maßstab funktioniert«, erklärt Bekele. »Es entstehen auch keine hohen Kosten. Denn Stroh als Substrat für die Pilze haben wir ja genug.«
Der kommende Boden?
Ein halbes Jahr nach dem Workshop steht Professor Asefa Keneni in seinem Biologieinstitut in der Universität von Ambo und schwärmt von den Pilzen, die in Äthiopien auch Hyänenschirm genannt werden: »Austernpilze zuzubereiten ist sehr simpel. Man brät sie und fügt ein paar Kräuter hinzu. Man kann durch die Pilze auch in sehr klassischen Gerichten Fleisch ersetzen.«
»Das scheint mir ein sehr einfaches Geschäft zu sein, das auch in kleinem Maßstab funktioniert, es entstehen auch keine hohen Kosten.«
Bekele Gebissa
Die Attraktivität der Pilze spreche sich inzwischen herum. »Vor fünf Jahren, als wir hier begonnen haben, uns mit den Pilzen zu beschäftigen, war unser Interesse rein wissenschaftlich. Während der Arbeit kamen wir darauf, dass der organische Müll, der überall anfällt, verwertet werden kann, indem er zum Substrat für die Pilze wird.« Und so treten neben die kulinarischen Vorzüge die ökonomischen. Auch unter den Studierenden auf dem Campus der Uni Ambo hat sich das verbreitet. In einem kleinen Schuppen, der mitten auf einer Grünfläche zwischen den Institutsgebäuden steht, haben der Professor und seine Studierenden die Pilze schon auf unterschiedlichsten Substraten angebaut. »Am Anfang gab es dafür kein besonders großes Interesse. Inzwischen ist es so, dass jeder einzelne Pilz aus unserem Pilzhaus von den Studierenden eingesammelt wird. Denn inzwischen wissen alle, dass Pilze sehr gute und gesunde Nahrungsmittel sind. Neulich hat mir sogar jemand erzählt, dass sein Arzt ihm Pilze für das Verdauungssystem verschrieben hat.« Der Biologe sieht eine große Zukunft für die Sporengewächse: »In zehn Jahren werden wir in Äthiopien Pilze und ihre Bedeutung für die Lebensmittelversorgung genauso wertschätzen wie Kartoffeln, Zwiebeln oder andere Produkte unserer Landwirtschaft – wenn nicht sogar so sehr wie Kaffee.«
Ganz ähnlich sieht das auch Tesfaye Disasa am nationalen Zentrum für Agrarforschung in Holeta, nahe der Hauptstadt Addis Abeba. Der Agrarwissenschaftler hat Zeit für ein ausführliches Gespräch, denn viel tun können er und seine KollegInnen gerade nicht. Der Strom ist mal wieder ausgefallen. Kühlungen, Zentrifugen, elektronische Mikroskope und andere Gerätschaften stehen still. Auf die Frage, ob er Potenzial in der Zucht von Pilzen sieht, beginnt er zu lachen. »Aber natürlich. Da gibt es gar keinen Zweifel. Alle an meinem Institut wären interessiert, sich stärker mit Pilzen zu beschäftigen. Bisher liegt unser Schwerpunkt allerdings bei Getreide.« Auch Disasa glaubt, dass der äthiopischen Landwirtschaft ein Pilzboom bevorsteht. Wenn so ein Boom in Äthiopien Fahrt aufnimmt, heißt das allerdings noch lange nicht, dass die Bäuerinnen und Bauern davon sofort profitieren.
An den Universitäten von Addis Abeba und Dire Dawa sowie am Forstwissenschaftlichen Zentrum in Addis Abeba haben Woldemedhin Getachew, Seifu Zemedu und Wassie Eshete 2016 untersucht, wo die Wertschöpfung entlang äthiopischer Pilzlieferketten abfällt. Sie stellten fest, dass an den Lieferketten in aller Regel fünf verschiedene AkteurInnen beteiligt sind: PilzbrutzüchterInnen, ProduzentInnen, HändlerInnen, verarbeitende Betriebe und schließlich die Konsumierenden. Das Geschäft mit den Pilzen biete für Männer und Frauen unterschiedlichster Bildungsgrade gleichermaßen Betätigungsfelder. Die große Verfügbarkeit von Pilzbrut sowie der nötigen Substrate zum Anbau und das wachsende Bewusstsein für den Nährwert von Pilzen kämen dem Geschäft zwar entgegen, allerdings würden hohe Preise für Sporen und Substrate in Kombination mit dem beschränkten Marktzugang für viele ProduzentInnen das Geschäft auch erschweren.
»Am Anfang gab es dafür kein besonders großes Interesse. Inzwischen ist es so, dass jeder einzelne Pilz aus unserem Pilzhaus von den Studierenden eingesammelt wird.«
Asefa Keneni
»Der Pilz- und Sporenmarkt konzentriert sich bei den PilzbrutzüchterInnen. Das beschädigt die Funktionalität des Markts. Dadurch werden viele PilzproduzentInnen ausgebeutet und entmutigt«, schreiben die StudienautorInnen. Der mangelnde Marktzugang der ProduzentInnen rührt auch daher, dass Pilze sich nur schwer lagern lassen. Ware, die wegen mangelnder Mobilität oder anderer Markteintrittshürden nicht schnell genug auf den Markt gelangt und verdirbt, wird deshalb entsorgt. Ein Verlustgeschäft für viele Bäuerinnen und Bauern. Wo Pilze angebaut, aber nicht vermarktet werden können, endet die Wertschöpfungskette. Die PilzbrutzüchterInnen sind dann die einzigen ProfiteurInnen des Pilzgeschäfts. Gleichzeitig, so stellten die WissenschaftlerInnen fest, seien es auch die PilzbrutzüchterInnen, die am stärksten in die Vermarktung der Pilze involviert seien. Die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die Sporen und Substrate kaufen müssen, um Pilze zu produzieren, bleiben das schwächste Glied in der Wertschöpfungskette.
Ein Start-up und Hemmnisse
Bekele Gebissa wartet dennoch darauf, endlich mit der Pilzproduktion beginnen zu können. Er ist zuversichtlich und hat sich auch schon Gedanken zur Vermarktung von Pilzen in seinem Heimatort gemacht. Allerdings kann Professor Asefa Keneni die versprochene Pilzbrut zurzeit nicht liefern. Die notwendigen sterilen Bedingungen werden in seinem baufälligen Labor an der Universität Ambo einfach nicht erreicht. »Sein Labor ist infiziert. Das ist ein Problem«, erklärt auch Gebeyehu Seyoum, Projektleiter von MfM in der Region Jeldu, der sich deshalb nach alternativen Quellen für Pilzbrut umsieht, um die wartenden Bäuerinnen und Bauern endlich damit ausstatten zu können.
Dabei ist er auch auf Kalkidan Sileshi in Addis Abeba gestoßen. Kalkidan ist eine derjenigen, die gleich an mehreren Stellen an der Pilzwertschöpfungskette beteiligt sind. Die junge Biologin züchtet in einem Labor Pilzkulturen. Die setzt sie 15 Tage lang in einer Dunkelkammer auf einem Substrat, um sie dann päckchenweise an LandwirtInnen zu verkaufen. Die produzieren daraus mehrere Kilogramm Austernpilze. Nach der Ernte kauft Kalkidan Sileshi den Bäuerinnen und Bauern ihre Pilze ab, um sie mit Gewinn an Hotels und Restaurants in der Hauptstadt zu verkaufen. Nicht zuletzt die große chinesische Community in Addis Abeba schafft eine Nachfrage nach Pilzen. Die 29-jährige Wissenschaftlerin und Start-up-Gründerin ist Äthiopiens erste kommerzielle Pilzbrutzüchterin. Ermöglicht hat ihr das ein Kredit des Ethiopian Climate Innovation Center (ECIC).
Bäuerinnen und Bauern fehlt meist der direkte Zugang zu AbnehmerInnen in der Hauptstadt. Und auf ländlichen Märkten sind Pilze weitgehend unbekannt. So auch in der Region Jeldu, wo Bauer Bekele zuhause ist. Dafür, dass Kalkidan und Bauern wie er, der endlich Pilze anbauen will, nicht zueinanderfinden, um das Geschäft ins Laufen zu bringen, gibt es einen einfachen Grund, wie Bekele erklärt: »Mir die Pilzbrut aus Addis Abeba zu besorgen ist eine gute Idee. Aber das kann ich mir einfach nicht leisten. Allein der Transport ist teuer. Aber sobald ich erst einmal begonnen habe, mit den Pilzen Geld zu verdienen, ist das natürlich eine Option.« Dass nötiges Startkapital fehlt, lähmt ambitionierte junge LandwirtInnen wie Bekele Gebissa.
Gemeinsam als Chance
Fast fünftausend Kilometer nordwestlich der Kleinstadt Gojo haben Manuel Bornbaum und Florian Hofer den Schritt, den Bekele so gerne machen würde, schon 2015 unternommen. Sie haben sich unter dem Namen Hut & Stiel selbstständig gemacht und sind als Urban Farmer in Wien in die Produktion von Austernpilzen eingestiegen. Ihr Substrat ist nicht Stroh, wie bei den Bäuerinnen und Bauern in Jeldu, sondern Kaffeesatz aus Wiener Kaffeehäusern. Stromausfälle sind hier, anders als im Institut von Professor Asefa oder im Forschungszentrum von Tesfaye Disasa, selten. Und auch sonst herrschen hier beste Bedingungen für die Produktion. »Pilze wachsen auf landwirtschaftlichen Abfallprodukten, die es überall gibt. Und sie brauchen superwenig Platz. Man kann auf einem Quadratmeter Fläche pro Woche ein Kilogramm Pilze anbauen. Das ist ein wahnsinnig hoher Flächenertrag«, erklärt Bornbaum, »pro Hektar 500 Tonnen pro Jahr«.
Und das bei einer hervorragenden Klimabilanz. Um erfolgreich Austernpilze zu kultivieren, sei allerdings eine gewisse Basisinfrastruktur notwendig. Zum Beispiel Maschinen, um das Substrat zu häckseln und durch Dampf zu pasteurisieren. Eines sei daneben jedoch entscheidend: „Das Wichtigste ist, dass man das Myzel, also die Pilzbrut, in einer guten und stabilen Qualität bekommt. Nur dann kann man stabile Erträge erzielen.« Die Stadtbauern von Hut & Stiel beziehen ihre Pilzbrut von einem erfahrenen Unternehmen. Und doch geht die Zucht der Pilze immer wieder einmal daneben. Das gehört dazu, trotz all der gesammelten Erfahrungen und des mehrjährigen Know-hows.
»Es würde Sinn machen, wenn die zentrale Stelle eine gemeinnützige ist, damit der Großteil der Gewinne bei den Bäuerinnen und Bauern bleibt.«
Manuel Bornbaum, Hut & Stiel
Für den Wissensaustausch unter PilzzüchterInnen sind die Gründer von Hut & Stiel dem europäischen Mushroom Learning Network (MLN) beigetreten, das den Open-Source-Gedanken verfolgt, die freie und gemeinnützige Weitergabe von Pilzwissen. Gemeinnützigkeit empfiehlt Manuel Bornbaum auch den angehenden PilzproduzentInnen Äthiopiens: »Es wäre vermutlich sinnvoll, eine zentrale Stelle einzurichten, wo das Substrat produziert wird und die Inkubation des Substrats mit Pilzbrut stattfindet. Erst dann sollten die Pilze zu den LandwirtInnen gelangen, um bis zur Ernte zu wachsen.« Ansonsten drohe, dass die Bäuerinnen und Bauern am Ende kaum von den Pilzen profitieren: »Das ist bei den Pilzen leider wie überall in der Agrarwirtschaft. Es würde Sinn machen, wenn die zentrale Stelle eine gemeinnützige ist, damit der Großteil der Gewinne bei den Bäuerinnen und Bauern bleibt.«
Das weiß auch die NGO Menschen für Menschen, die beim Bezug der Pilzbrut deshalb auf die Zusammenarbeit mit der Universität Ambo setzen möchte statt auf kommerzielle AnbieterInnen. Ohne deren Marktzugang könnte es jedoch schwierig werden, ein Pilzgeschäft zu etablieren. Doch Bekele Gebissa ist zuversichtlich: »Vor ein paar Jahren waren auch Kartoffeln hier in Jeldu nicht verbreitet. Als wir Kartoffelbäuerinnen und -bauern begonnen haben, sie zu vermarkten, haben wir die Dorfältesten eingeladen, um Werbung dafür zu machen. So werden wir es mit den Pilzen auch machen.«
BIORAMA #62