Friedliche Wildnis im Schatten der Kanonen
Im Herzen des Niederösterreichischen Waldviertels läuft ein – in dieser Größenordnung für Österreich einzigartiges – Verwilderungsexperiment: Am Truppenübungsplatz Allentsteig hat sich auf Grund der Jahrzehnte langen Sperre durch das Militär ein faszinierender Naturraum entwickelt. Nun wird über die Zukunft dieses Ökoparadieses im Schatten der Panzer diskutiert: Nutzungsansprüche, Heeresreform und Naturschutz-Interessen vermengen sich in einer komplizierten Debatte.
Vom Flugzeug aus gesehen, ist das Waldviertel eigentlich eher ein Fleckerlviertel: Waldstücke wechseln sich ab mit Feld- und Wiesen-Flächen. Helle und dunkle Rechtecke, scheinbar planlos über das flache Land gestreut. Doch inmitten der landwirtschaftlich frisierten Kulturlandschaft fällt ein ungeordneter Bereich auf: strukturlose braun-grüne Flächen, ungeordnete Baum-Häufchen – eine fremdartig aus den Fugen geratene Zone. Diese „Prärie“ im Herzen des Waldviertels hat einen Namen: Truppenübungsplatz Allentsteig, auch kurz TÜPL genannt. Seit dem Jahr 1938 ist hier das Militär zu Hause und es wird scharf geschossen: Zunächst (1938) durch die Deutsche Wehrmacht, seit 1957 durch das Österreichische Bundesheer.
Der TÜPL ist ein historisch schwer belastetes Gebiet. Ursprünglich umfasste der Schießplatz fast 200 km² und war der größte seiner Art in Europa. 6.800 Menschen wurden dafür von den Nazis in vier Tranchen vertrieben: Einigen wurden Ersatzgrundstücke angeboten. Wer aber nicht freiwillig gehen wollte, hatte das Nachsehen. Die Reichsanleihen, die die Bauern damals für den Grund bekamen, wurden auf ein Sperrkonto gelegt und durften nur für Grundstücksankäufe verwendet werden. Grund war aber bald keiner mehr verfügbar, und die Anleihen waren nach dem Krieg nichts mehr wert. Nach dem Ende der Hitler-Diktatur war zwar vorgesehen, den TÜPL wieder zu besiedeln. Aber die russischen Besatzer übernahmen 1946 nach der Konferenz von Potsdam sämtliches deutsches Eigentum in ihrer Zone – und somit auch den TÜPL. Nach deren Abzug (1955) scheiterte die Wiederbesiedelung erneut: Das Bundesheer wollte den ganzen Übungsplatz erhalten. Auch sämtliche Anträge auf Restitution wurden abgelehnt, mit Ausnahme der Windhagschen Stipendienstiftung: 1959 erhielt diese, auf Betreiben der Niederösterreichischen Landesregierung, den südlichen Teil des Übungsplatzes zugesprochen. (Quelle: www.doellersheim.at)
Von den einst 42 Ortschaften zeugen heute nur mehr überwucherte Ruinen: Zerschossen durch Geschütze, geplündert in der Besatzungszeit und dem Verfall preisgegeben. Lediglich die alte Kirche von Döllersheim wurde wieder in Stand gesetzt: In der nunmehrigen „Friedenskirche Döllersheim“ findet jährlich zu Allerseelen eine Gedenkmesse statt. Der Verein der Freunde der alten Heimat kümmert sich um die Gedenkstätte. Vereinsobmann Bernhard Lehr hat den Schlüssel zur Friedenskirche. Oben, am liebevoll restaurierten Kirchturm eröffnet sich ein weiter Blick auf das waldige Land. „Döllersheim“, erläutert Lehr, „gab es seit mehr als 800 Jahren, bevor es für den Schießplatz durch die Wehrmacht ausgelöscht wurde.“
Warum Allentsteig?
Warum hat Hitler ausgerechnet hier einen derart riesigen Schiessplatz errichten lassen? In Döllersheim lebte seine bitterarme Großmutter Maria Anna Schickelgruber. Sie gebar vor ihrer Ehe mit Johann Georg Hiedler ein uneheliches Kind: Aloys Schickelgruber, Adolf Hitlers Vater. Aloys wuchs beim Bruder seines Stiefvaters, Johann Nepomuk Hiedler, auf und wurde erst nach dem Tod Johann Georg Hiedlers als Alois „Hitler“ legitimiert: Aus Schickelgruber wurde Hitler. Die im Waldviertel lebende Autorin Ilse Krumpöck deckt in ihrem Buch „Hitlers Grossmutter“ auf, dass Hitlers Großvater Adolf von Pereira-Arnstein hieß. Der war der Sohn des jüdischen, zum katholischen Glauben konvertierten Dienstherrn Anna Maria Schickelgrubers im Schloss Wetzlas im Waldviertel, Heinrich von Pereira-Arnstein, bei dem sie als Köchin beschäftigt war. Hitler mit jüdischen Ahnen und der TÜPL als Versuch seine wahre Herkunft zu verwischen?
Der TÜPL birgt noch andere dunkle historische Geheimnisse. Bernhard Lehr zeigt auf den Wald hinter dem mit Gras und Moos überwachsenen Friedhof von Döllersheim. Es wird vermutet, dass in der Gegend zwischen Zwettl und Döllersheim zu Kriegsende in Schiessereien etliche Wehrmachts-Deserteure und russische Soldaten erschossen worden waren. Dieses düstere Kapitel ist aber kaum historisch aufgearbeitet.
Abseits der Gedenkstätte Döllersheim ist der TÜPL bis heute eine verbotene Zone: Im Inneren des 157 km² großen Areals lebt kein Mensch mehr und Zivilisten haben da auch nichts zu suchen. Wenn gerade wieder für den militärischen „Konfliktfall“ geübt wird, ist auch die durch den TÜPL führende Landesstraße 75 gesperrt. Dann sind die Soldaten in ihren Panzern mit den Tieren und Pflanzen in der gesperrten Zone allein.
Besonderes Natur-Refugium im Schatten der Panzer
Die Natur hat sich auf erstaunliche Art und Weise mit den Militärs arrangiert und ist eine unerwartete Koexistenz eingegangen: Fast die Hälfte des TÜPL ist heute verwildertes Kulturland in dem sich viele, sonst in Österreich verschwundene Tier- und Pflanzenarten, wieder eingenistet haben. Die Anwesenheit des Heeres und die Schiessübungen scheinen Seeadler, Wachtelkönig, Birkhuhn, Biber, Elch und Co. aber wenig zu stören. Im Gegenteil: Der militärische Übungsbetrieb sorgt dafür, dass die ausgedehnten Brachflächen nicht mit Fichten zuwachsen. Die sogenannten „Offenflächen“ sind eine Voraussetzung für die einzigartige Artenvielfalt des TÜPL: Grasland und Feuchtwiesen, mit Büschen und einzelnen Föhren. In den Niederungen wachsen sumpfige Erlenbruchwälder ungestört vor sich hin und die Bäche schlängeln sich, verschont vom menschlichen Begradigungs- und Regulierungsdrang, durch die meist einsame Gegend. Munitionsmüll, Schiesslärm, schwere Kettenfahrzeuge – das alles scheint die Natur nicht nachhaltig zu beunruhigen.
„Die militärischen Übungen sind ein guter Garant dafür, dass sich die ökologische Situation nicht verschlechtert,“ argumentiert Ministerialrat Wolfgang Mattes vom Umweltbundesamt. Der Naturschutz-Experte weiß wovon er spricht, war er doch einst selber als Kompaniekommandant am TÜPL stationiert und ist Mitglied in der Kommission für Umweltschutz beim Bundesministerium für Landesverteidigung. „Der TÜPL ist eine Zone unter Ausschluss der Öffentlichkeit und das Heer geht sehr sorgsam mit dem Naturerbe um. Um den Seeadlerhorst etwa wurde eine Horstschutzzone rund um den Horstbaum eingerichtet. Da gibt es sogar für die Soldaten ein Betretungsverbot. Und das Monitoring bezahlt das Bundesheer.“
Wolfgang Mattes führt sogar den direkten Zusammenhang zwischen der Präsenz der Armee und der Stärke von gefährdeten Tierpopulationen ins Treffen: „Es kam am TÜPL zu einem Rückgang der Birkhuhnpopulation als die Milizarmee reduziert wurde. Ohne Heer müssten aufwändige Pflegemaßnahmen durchgeführt werden, etwa die Flächen extensiv zu beweiden, um ein Zuwachsen zu unterbinden. Das Geheimnis der Artenvielfalt ist die intermediate disturbance, die unregelmäßige Unterbrechung der monotonen Struktur,“ unterstreicht Mattes.
Die Präsenz von Panzer und Kanonen haben in Teilen des TÜPL dafür gesorgt, dass die Zeit regelrecht stehen geblieben ist: Entlang der alten Strassen aus der Vorkriegszeit wachsen Alleen mit alten, sonst längst verschwundenen Obstbaumsorten, seltene Blumen gedeihen in verwilderten Obstgärten in den (freilich zerstörten) Ortschaften. „Ein sensationelles Genpotential,“ betont Mattes, „diese Reste alter Kulturlandschaft haben einen außerordentlichen Wert!“
Auch bei anderen Militär-Übungsplätzen seien Naturrefugien durch den Ausschluss kommerzieller Nutzungs-Ansprüche entstanden, berichtet Mattes. Aber: „Wenn das Militär abzieht, dann ist oft kein Geld mehr da, um den Naturschutz zu managen.“ Lediglich in Deutschlands größtem Buchen-Naturwald, dem „Hainich“, sei es, unter großen Mühen, gelungen nach dem Rückzug des Militärs einen Nationalpark zu verwirklichen. „Aber sonst wurde die Nutzung stets intensiviert, als das Militär ging.“
Nationalpark statt historisch belastetem Schießplatz
Wäre auch der TÜPL Nationalpark-würdig? Wolfgang Mattes äußert Skepsis, ob in Zeiten von Sparpaketen ein Nationalpark auf dem Areal des TÜPL finanzierbar wäre. Genau das wird aber von verschiedenen Seiten eingefordert – auch als symbolträchtige Geste angesichts des historischen Leids und Unrechts, das mit dem TÜPL in Verbindung steht. Es soll endlich Frieden einkehren am ehemaligen Schießplatz von Adolf Hitler. Auch Bernhard Lehr bestätigt, dass die Nationalpark-Idee in der Gegend durchaus zahlreiche Anhänger hat.
An vorderster Front pochen die Grünen auf einer Nationalpark-Lösung. Im Februar brachten sie dazu einen Antrag im Niederösterreichischen Landtag ein, der allerdings sogleich von ÖVP, SPÖ und FPÖ abgelehnt wurde. Emmerich Weiderbauer, Sicherheitssprecher der NÖ-Grünen, forderte im NÖ Landtag: „Gebt den Menschen das Land zurück. Seit 1957 leistet sich Österreich den größten Truppenübungsplatz Mitteleuropas – das ist im Herzen eines friedlichen Europas und eines neutralen Österreichs eindeutig nicht mehr zeitgemäß.“ Die Grünen wollen die Region touristisch und wirtschaftlich ankurbeln, der TÜPL würde dem im Weg stehen: „Die Bevölkerung vermisst ein Erholungsgebiet, Landwirten fehlt ihr Land und Unternehmen sind durch die tageweise Sperre der Straße LH 75 stark behindert.“ Sie wollen den TÜPL in drei Teile gliedern: einen für Übungen (inklusive eines integrierten Sicherheitszentrums für Feuerwehr und Zivilschutz), einen für Landwirtschaft und einen dritten als Nationalpark. Auch die Grüne Abgeordnete Tanja Windbüchler-Souschill, sie ist auch Mitglied des Landesverteidigungsausschuss, will dass der Truppenübungsplatz Allentsteig für die Zivilbevölkerung geöffnet wird, um die Region touristisch und wirtschaftlich zu stärken: „Ein Nationalpark für Groß und Klein hat mit Sicherheit mehr Vorteile für die Region als eine erhöhtes Aufkommen von Panzern und Granaten.“
Gefährlicher Kriegsmüll
Christian Kubitschka, Leiter der Heeresforstverwaltung in Allentsteig, zeigt Zurückhaltung bezüglich der Nationalpark-Idee. Und: Er warnt vor den Gefahren des Kriegsmülls: „Das Heer sorgt ja für den besten Schutz der Natur. Die Blindgänger am TÜPL sind ein immenses Gefahrenpotential. Da liegt jede Menge an alter Munition herum. In der Innenzone können nicht einmal wir mehr mit den Forstmaschinen arbeiten. Auf einer Breite von 3-4 Metern und einer Länge von 400 Metern haben wir zwischen 200 und 400 Funde gehabt. 40 Prozent davon sind Kriegsrelikte, die sind besonders gefährlich. Da weiß man nie, wann die losgehen. Viele sind mit Moos bewachsen, und sind daher nicht erkennbar.“ Den ganzen TÜPL zu säubern wäre zu teuer, erläutert Kubitschka. Der Entminungsdienst lasse jedes Jahr große Flächen absuchen. Durch dem Winterfrost würden aber viele Blindgänger wider aus tieferen Bodenschichten herausgedrückt. Ein ungeregelter Besucherverkehr sei daher undenkbar.
Undenkbar ist für die bäuerlichen Pächter der Felder im Bereich des TÜPL jedenfalls eine Anhebung der bislang sehr billigen Pacht. Die Flächen sind deswegen so günstig, weil die Flurschäden durch Militär-Übungen nicht entschädigt werden. Derzeit zahlen die Pächter zwischen 60-120 Euro pro Hektar, je nach Bodenqualität und „Übungsdruck“ – also der Wahrscheinlichkeit, dass Panzer durch das Feld pflügen. Zwischen 300 und 500 Euro pro Hektar gibt es außerdem an nationalen und EU-Förderungen, berichtet ein Kenner der Situation.
Aufstand der Wutbauern
Bei den Bauern war Feuer am Dach, als das Ansinnen des (roten) Ministeriums für Landesverteidigung bekannt wurde, die Verwaltung der land- und forstwirtschaftlichen Flächen des TÜPL aus Effizienzgründen auszulagern – und zwar an die Bundesforste. Insider vermuteten, dass auch lukrative Jagd-Interessen hinter dem Deal stecken würden. Die (schwarzen) Bauernvertreter, unterstützt von Niederösterreichs Finanzlandesrat Wolfgang Sobotka (VP), befürchteten den Verlust der billigen Pacht-Flächen durch den Bundesforste-Deal – und schossen scharf zurück: Wenn die Pacht erhöht wird, dann kommt eine Klage gegen die Republik Österreich auf Restitution der von den Nazis seinerzeit enteigneten Flächen. Am 2. Mai einigte man sich schließlich darauf, die Pachtverträge nicht in Frage zu stellen und den aktuellen Pachtzins beizubehalten. Der offensichtlich auch parteipolitisch ausgetragene Konflikt wurde somit vertagt.
Entspannung zeichnet sich auch an einer anderen Front ab: 3,6 Millionen Euro wollte das Verteidigungsministerium bis zum Jahr 2016 durch eine Ausgliederung der Heeresforste an die Bundesforste einsparen. Externe Gutachter hatten die Heeresforstverwaltung durchleuchtetet und mit einer Projektgruppe einen Plan zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit ausgearbeitet. Außerdem, so argumentierte das Ministerium, wäre es gesetzlich ab 1. Jänner 2013 nicht mehr zulässig, die Mitarbeiter der Heeresforstverwaltung (so wie bisher) in privatrechtlichen Dienstverhältnissen anzustellen. Die Heeresforste waren über die Auslagerungspläne naturgemäß wenig erfreut. Neben der Bundesforste-Variante liegt nun offenbar auch eine GmbH-Lösung und die Eingliederung der Heeresforste in das Kommando Allentsteig am Tisch. Und es wird verhandelt.
Naturparadies Allentsteig: Wie geht es weiter?
Derzeit scheint der TÜPL Allentsteig wohl kein Nationalpark werden zu wollen. Bisher wurde das Thema TÜPL von den großen Naturschutz-Organisationen auch nicht sonderlich beachtet – wenn man von punktuellen Vorstößen der Grünen absieht. Aber: Solange das Bundesheer am TÜPL übt, scheint die üppige Natur im Natura 2000-Vogelschutzgebiet „Truppenübungsplatz Allentsteig“, so paradox das klingen mag, auf seltsame Art und Weise gut aufgehoben. Doch was geschieht mit Seeadler, Wachtelkönig und Co., wenn sich das Militär – etwa aus Einsparungsgründen oder auf Grund militärstrategischer Änderungen – eines Tages zurückziehen sollte? Wird die letzte große Wildnis Österreichs außerhalb der Alpen auch ohne den Schutz martialischer Kriegsmaschinen bestehen können? Es wird dann wohl zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen kommerziellen Nutzungsansprüchen und Naturschutz-Interessen kommen. Und es bleibt sehr zu hoffen, dass es einer (ausreichend starken) Bewegung dann gelingt, diese erfreuliche Wildnis – geboren im Schatten ganz und gar nicht erfreulicher und unfriedlicher Umstände – zu retten.
Ad Personam
Matthias Schickhofer ist seit 2008 als freiberuflicher Kampagnenberater, Fotograf und Journalist tätig. Zuvor 17 Jahre bei Greenpeace CEE und international beschäftigt (u.a. als Kampagnendirektor). Er ist in Zwettl/Waldviertel in direkter Nachbarschaft des TÜPL aufgewachsen.
Weiterführende Links:
Historisches zum TÜPL, zu Döllersheim und zum Waldviertel:
www.doellersheim.at
Historische Ansichten von Döllersheim:
http://www.doellersheim.at/doellersheim/Das_Buch/Ruinenland/ruinenland.HTM
http://www.doellersheim.at/doellersheim/Das_Buch/Dollersheim/dollersheim.HTM
Hitlers Großmutter – das Buch:
http://www.steinverlag.at/dev/index.php?artikeldetail=1180
Eine Buchkritik:
http://kulturzeitschrift.at/kritiken/literatur/jedes-zweite-wort-ist-wahr-2013-201ehitlers-grossmutter201c-von-ilse-krumpoeck
Naturschutz und Militär – Artikel von Wolfgang Mattes:
http://www.bmlv.gv.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?id=697
Infos zum Natura 2000 Vogelschutzgebiet „Truppenübungsplatz Allentsteig“:
http://www.noe.gv.at/Umwelt/Naturschutz/Natura-2000/Natura_2000_Vogelschutzgebiet_Truppenuebungsplatz_Allentsteig.wai.html