Vertikale Anarchie – Die Geschichte des „Torre de David“
Die Wohnungsnot in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, bewog über 1.000 Familien aus den umliegenden Armenvierteln in ein nie fertiggestelltes 190 Meter hohes Finanz- und Bürogebäude umzuziehen. Mythen ranken sich seither um die Geschehnisse im Inneren des Wolkenkratzers, der nach dem Unternehmer und Erbauer David Brillembourg benannt ist – jetzt wird das Gebäude geräumt.
Die Stadt platzt aus den Nähten
Über 150 Gebäude der Millionenstadt Caracas sind besetzt von Menschen, für die kein Wohnraum zur Verfügung stand. Das wohl Bekannteste ist der „Torre de David“ oder offizieller „Torre de Confinanzas“. Er gilt als größter vertikaler Slum und beherbergt eine Gemeinschaft von über 3000 Menschen. Nun ist ihr Leben dort Geschichte. Die venezuelanische Regierung begann Anfang letzter Woche mit der Umsiedelung der Bewohner.
Anfang der 1990er Jahre startete das ehrgeizige Bauvorhaben mitten im Geschäftszentrum von Caracas – es sollte ein Zeichen des Aufstiegs und des Erfolges werden. Doch der Bauherr starb, eine Wirtschaftskrise überrollte das Land und die Bauarbeiten wurden eingestellt. Im Jahr 2007 begannen von Armut betroffene Stadtbewohner das Gebäude illegal zu besetzen und eroberten es Stockwerk für Stockwerk – sie wurden von der Regierung geduldet.
Per Moto-Taxi in den zehnten Stock
Lift gibt es keinen, dennoch sind 28 der 45 Stockwerke bewohnt. Für umgerechnet einen Euro werden die Bewohnerinnen und Bewohner per Mopedtaxi bis in den zehnten Stock gefahren, von dort aus müssen sie zu Fuß weiter. Die 78-jährige Margó erzählt im Videoblog Studio Mexiko sie habe zwei Tage gebraucht, um in ihre Wohnung zu gelangen und würde wohl in ihrem Leben die Stadt unten nie mehr betreten.
Mythen über Angst und Terror
Der Torre de David ist nicht nur Symbol der kreativen Selbstorganisation seiner Bewohner, sondern auch Symbol einer gescheiterten Stadt. Vom menschenfressenden Krokodil im Keller, Vergewaltigungen und Heimat von Gangs und Kriminellen ist die Rede. „In diesem Turm leben die Bösen, alles Verbrecher“, meint der Anwohner Carlos Julio Rojas. Sogar Polizisten würden sich weigern, dort hineinzugehen. Auch die US-Serie „Homelands“ prägte ein negatives Bild, die den Torre de David als Drehort nutzte.
Improvisation, Selbstorganisation und Gemeinschaft
Die Turmgemeinschaft ist gut organisiert: Von Sicherheitsleuten an den Eingängen bis zur Hausverwaltung, einem Friseur im dritten Stock, einem Lebensmittelladen im 18. und einem Zahnarzt in der 22. Etage. Es ist eine lebendige Gemeinschaft, die Leute kennen sich, Kinder spielen in den ausgemalten und sauberen Gängen. Am Eingang der zehnten Etage hängt der Gebäudereinigungsplan. Für einen kleinen Beitrag von 200 Bolivars werden die Bewohner mit Wasser und Strom versorgt. Mittlerweile verfügen alle Wohnungen über Fließwasser, das in selbstverlegten Rohren und mit Hilfe von Pumpen nach oben gelangt. In mühevoller Kleinarbeit haben es sich die Menschen hier wohnlich gemacht. Thais Ruiz ist Mutter und fühlt sich drinnen sicher „im Vergleich zu dem was draußen passiert“. Gregorio Laya, 36, ist Koch und vor drei Jahren eingezogen: „Die Elendsviertel bieten auch keine Annehmlichkeiten und sind weit weg von allem. Hier ist direkt vor der Tür eine Bushaltestelle und in fünf Minuten erreiche ich meinen Arbeitsplatz.“
>>> Eindrücke zur Lebensrealität im Torre de David von Jorge Silva und Alejandro Cegarra (Foto-Blogs) und noticiaaldia, dezeen (Fotos/ Nachrichten). Die Autoren des Bildbandes „Torre David: Informal Vertical Communities“ haben ein Jahr lang die soziale und räumliche Organisation des Ortes untersucht und dokumentiert.
Der Torre de David als Labor der Stadtforschung
Die Stadtforscher der ETH Zürich, Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner, erhielten auf der Architekturbiennale 2012 den „Goldenen Löwen“ für die Suche nach architektonischen Lösungen der Städte der Zukunft. „Im Torre David gibt es eine 1600 Watt Gesellschaft.“ bestätigt Klumpner. „In der Schweiz möchte man eine 2000 Watt Gesellschaft erreichen.“ Im Torre de David lebt man mit einem Minimum an Energie und Ressourcen und einem Maximum an sozialem Zusammenhalt.
>>> Filmtrailer: „Torre David: The World’s Tallest Squat“
Schließung und Umsiedelung
Am Dienstag, den 22. Juli, begann die Räumung der ersten vier Etagen des Torre de David. Bis zum Ende der Woche sollen 160 der 1.156 Familien in Sozialwohnungen 60 Kilometer südlich von Caracas, in die Stadt Zamora, Los Valles del Tuy umquartiert werden, bis September alle weiteren. „In dem Turm ist selbst ein Minimum an Sicherheit und Würde nicht gewährleistet.“ so Ernesto Villegas, Minister für die revolutionäre Umgestaltung des Großraumes von Caracas im Interview. Die Umsiedelung sei mit den Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinsam beschlossen worden und erfolge freiwillig, so Miguel Rodriguez Torres aus dem Ministerium für Inneres, Recht und Frieden. Der Urban Think Tank (UTT) rund um die Stadtforscher Brillembourg und Klumpner möchte die Umsiedelungen beobachten.
#torredavid eviction: home of 1’200 families and social #utopia transformed to a commercial center and office tower? http://t.co/nJGEqzQ4Nf — Iwan Schauwecker (@Iwan____) 24. Juli 2014
Nos quedará el recuerdo de tantas historias y de la cara más fea de estos años…#TorreDavid pic.twitter.com/u8WbisraWg — Alvin Martinez G. (@alvinmartinezg) 24. Juli 2014
„Uns wird die Erinnerung an die vielen Geschichten und dem hässlichsten Gesichts dieser Jahre bleiben.“
Wie geht es weiter?
Nach der Umsiedelung der Bewohner soll die Bausubstanz des Torre de Confinanzas, geplant vom Architekten Enrique Gomez, nach seiner Tauglichkeit überprüft werden, um dann endlich fertiggestellt zu werden. Der genaue Verwendungszweck ist noch nicht entschieden. Minister Ernesto Villegas bestätigt, dass die Sozialistische Regierung humanitäre und nicht Geschäftsinteressen in den Vordergrund stellt. Von anderen Seiten hört man, das Gebäude sei an chinesische Investoren verkauft worden.
Torre David – Informal Vertical Communities
Alfredo Brillembourg and Hubert Klumpner,
Urban-Think Tank Lehrstuhl für Architektur
und Städtebau, ETH Zürich (Hrsg.)
16,5 x 24 cm, 416 Seiten
406 Abbildungen, Hardcover
ISBN 978-3-03778-298-9, Englisch