Die Zukunft des Fleischessens
In wenigen Jahren könnte Fleischessen ebenso geächtet sein wie Alkohol am Steuer. Während uns die Nahrungsindustrie mit Bildern von Kühen auf grünen Weiden Tierwohl vorgaukelt, findet eine moralische Debatte zum Thema »Fleisch und Verantwortung« statt, bei der es um mehr geht als nur Tierethik und gesunde Ernährung.
Der deutsche Philosoph und Gastrosoph Harald Lemke beschäftigt sich mit Ethik und Ästhetik der Ernährung, so auch in seinem aktuellen Buch »Politik des Essens -Wovon die Welt von morgen lebt«. Für ihn ist der in den Wohlstandsländern übliche massenhafte Fleischkonsum eine gefährlich unterschätzte Supermacht der globalen Politik – und zugleich einer der Hauptfaktoren der Klimakatastrophe sowie der Wasserverschwendung und Umweltzerstörung seitens der industriellen Landwirtschaft und nicht zuletzt auch eine der Hauptursachen für die Krise des Gesundheitswesens, kurz: »unser« tägliches Fleischessen ist die Krise aller Krisen. Aber haben wir nicht auch ein Recht auf unseren Braten? In der öffentlichen Meinung darüber hat sich Entscheidendes geändert: Fleischessen ist nicht länger eine Selbstverständlichkeit, der Konsum von Tieren wird von vielen Menschen nicht mehr als reines Privatvergnügen akzeptiert, sondern immer öfter im Zusammenhang mit ethischen und ökologischen Fragestellungen betrachtet. Laut einer Studie der Universität Jena zur Motivation von Vegetariern verzichten zwei Drittel aus altruistischen Gründen auf Fleisch – in einer durch individuellen Konsum und Genuss geprägten Welt alles andere als selbstverständlich. Die Umwelt zu schützen und die Welt nicht zu gefährden, sind für sie wichtige Leitlinien im Leben. Es sieht so aus, als sei die Idee, fleischlos zu leben, noch nie so weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen wie heute – auch wenn der geschätzte Anteil an Vegetariern in Deutschland noch unter der 5-Prozent-Marke liegt.
Karnismus: Eine Ideologie der Gewalt?
Ähnlich wie der Vegetarismus von Überzeugungen geleitet wird, vermutet ein neuer kritischer Denkansatz auch hinter dem Fleischessen ein unsichtbares weil gewalttätiges Glaubenssystem. »Kann sich eine philosophische Ernährungsethik wirklich über den verbreiteten Hedonismus hinwegsetzen, der es einer Mehrheit von uns kulturell von klein auf angewöhnt hat, ein Stück Fleisch auf dem Teller als eine unentbehrliche Erfahrung eines guten Lebens zu begreifen?«, fragt Peter Singer, der Begründer der modernen Tierethik, in seinem Standardwerk »Wie sollen wir leben?« provokant, ehe er seine Überlegungen in den kategorischen Imperativ einer veganen Lebensweise münden lässt, die allen tierischen Produkten entsagt. Und die amerikanische Psychologin Melanie Joy gibt einer Ideologie des Fleischkonsums in ihrem Buch »Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows« erstmals einen Namen: Karnismus. Was wir essen und was nicht, sei oft keine individuelle Entscheidung, sondern durch Erziehung und Kultur geprägt. Karnismus sei eine gewalttätige Ideologie, und da die meisten Menschen Gewalt ablehnten, hätten wir eine Reihe von emotionalen Abwehrmechanismen entwickelt, die es uns ermöglichten, einige Tiere zu lieben und andere zu essen. Tierproduktion und Schlachthöfe halten sich dabei verborgen, um den immanenten Widerspruch der Ideologie zu vertuschen. Dann sehe man auch nicht mehr Tiere hinter dem Schnitzel, sondern eine Sorte Fleisch, nämlich »Rind« oder »Schwein«. Bei Hunden würde das derzeit nicht mehr funktionieren. Ethisch gibt es für dieses Verhalten auch für Melanie Joy keine überzeugende Rechtfertigung.
Das Leid der Gegessenen
Müssen wir also, um ethisch gut zu essen, wirklich auf Fleisch verzichten? Harald Lemke folgt in der Darlegung seines »gastrosophischen Hedonismus« einer Logik, die einen gewissen Fleischkonsum trotz seiner prinzipiellen moralischen Verwerflichkeit ethisch rechtfertigt. Lemke setzt mit einer Kritik am vegetarischen Moralismus an, indem er nicht nur Tieren, sondern auch Pflanzen ein moralisches Recht auf das Glück eines guten Lebens in Form eines artgerechten Wohlergehens zuerkennt und die Überwindung eines anthropozentristischen Denkens fordert. Wenn wir in jedem Fall – egal ob wir Fleisch essen oder nur Pflanzen – dem Gegessenen immer Leid antun und es töten müssten, um es essen zu können, dann könne eine ethisch gute Ernährungsweise nicht im Verzicht auf den Verzehr dieser Lebensmittel liegen. So gelange man schließlich zum ethischen Grundsatz des gastrosophischen Hedonismus: Dieser besagt, dass wir für all die Lebewesen, die wir töten werden, um sie zu verspeisen, alles tun sollten, damit diese das Glück eines artgerechten Wohlergehens haben, solange wir sie leben lassen. Mit anderen Worten: Wenn schon Fleisch, dann nur von glücklichen Tieren.
Nur lässt sich dieses Vorgabe bei den begrenzten Gegebenheiten nicht einfach durch die weltweite Umstellung von konventioneller auf biologische Tierhaltung erfüllen. Im Gegenteil: Der Fleischkonsum muss in den nächsten Jahrzehnten drastisch weniger werden, um eine größere Verteilungsgerechtigkeit auf der Erde herzustellen. Die entscheidende zukunftsethische Frage lautet für den Gastrosophen Lemke also: Wie viel Fleisch steht jedem Menschen zu? Eine Berechnung von derartigen »Fleischrechten« ähnlich der CO2-Emissionsrechte hätte zu berücksichtigen, dass die weltweite Fleischproduktion nicht länger als Konkurrent des pflanzlichen Nahrungsanbaus auftreten darf. Entsprechend gering fiele nach dieser Regelung das Fleischrecht für jeden einzelnen aus – es ist fraglich, ob es überhaupt für mehr als einen Braten pro Monat reichen würde.
So rät Lemke letztlich dem gastrosophischen Hedonisten neben dem seltenen qualitätsbewussten Fleischgenuss zu einer jahrhundertealten buddhistisch inspirierten Kochkunst, um mit Soja- und Weizeneiweißprodukten wie Tofu und Seitan auch ohne das Fleisch von Tieren in den Genuss von gutem Essen zu kommen.
INTERVIEW HARALD LEMKE
Vor dem Hintergrund der globalen Ernährungskrise bezeichnen Sie in Ihrem neuen Buch die Erste Welt als ein »kulinarisch unterentwickeltes Schlaraffenland«. Welche Entwicklungshilfe benötigen wir?
Wir brauchen einen umfassenden Aktionsplan, der der gesellschaftlichen Bedeutung der Ernährungsfrage einigermaßen gerecht wird. Das beginnt bei der europäischen Welthandels- und Landwirtschaftspolitik, die auf Prinzipien der ökologischen Nachhaltigkeit und globalen Gerechtigkeit ausgerichtet werden müssen. Ein solcher Aktionsplan sollte ebenso die Ernährung zum einem zentralen Thema der schulischen und universitären Bildung machen. Insgesamt denke ich dabei an ein historisches und philosophisches Umdenken unserer Fastfood-Zivilisation.
Kann der gänzliche oder teilweise Verzicht eines Einzelnen, Fleisch zu essen, global etwas bewirken?
Die Menschheit kommt nicht umhin, in Zukunft weniger Fleischprodukte zu produzieren und zu konsumieren. Wir alle wissen das, nur viele stellen ihre Lust auf Fleischgeschmack über ihr moralisches Gewissen. Und leider geht das in unserer Kultur sehr leicht. Wenn diejenigen, die jeden Tag Fleisch essen (was fast ausschließlich aus Tierfabriken kommt), ihre Geschmacksgewohnheiten etwas umstellen würden, hätte diese kleine Aktion bereits enorme Auswirkungen zum Wohle der Welt.
In Ihrem Buch sprechen Sie von einer neuen »gastropolitanen« Bewegung aus Bauern und Aktivisten, die für eine andere Ernährungspolitik kämpfen. Wer ist damit gemeint?
In vielen Ländern sind Kleinbauern oder Landlose politisch organisiert. Die größte internationale Dachorganisation ist zweifelsohne La Via Campesina mit mehreren Millionen Mitgliedern. Aber selbst hochrangige Politiker, wie der UN Sonderbeauftragte für das Menschenrecht auf Nahrung, kämpfen für eine gastrosophische Politik.
Das Zukunftswohl der Menschheit hängt also ganz entscheidend vom gesellschaftlichen Umgang mit der Nahrungsfrage ab?
So ist es. Wir sind gewohnt, die gesellschaftliche Macht des Essens zu unterschätzen. Es ist aber ein Lebensbereich, der sehr viele Realitäten schafft. Gut wäre, wenn wir diese Zusammenhänge verstehen und wahrnehmen lernen. Eine gastrosophische Tischgesellschaft strebt ein gutes Leben an, bei dem die globalen Ernährungsverhältnisse den Prinzipien der ökologischen Nachhaltigkeit, des gerechten Handels, der lokalen Ernährungssouveränität sowie eines kulinarischen Genusslebens entsprechen.
Harald Lemke: »Politik des Essens – Wovon die Welt von morgen lebt« (Transcript, 2012)
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