Strahlengeschädigte in zweiter Generation
30 Jahre sind seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vergangen. Die Aktion „Erholung für Kinder aus Belarus“ holt jährlich bis zu 200 Kinder nach Österreich. Mittlerweile schon die zweite Generation.
Menschliches Versagen und vertuschte Baumängel führten am 26.April 1986 zu einer der größten Katastrophen in der Geschichte der Atomkraftwerke. Schon während des Testlaufes sollte es zu einer riesigen Explosion kommen. Das massive Dach des Reaktor 4 wurde weggesprengt. Tonnen radioaktiven Materials in die Atmosphäre geschleudert. Eine tödliche Wolke rollte über weite Teile Weißrusslands und Europa. Das nur zwei Kilometer entfernte Prypjat sowie viele weitere Orte in der Todeszone wurden in aller Eile geräumt. Zwei Tage zu spät. In dieser Zeit nahmen die ahnungslosen Einwohner radioaktiv verseuchte Nahrung zu sich.
Die Gefahr ist noch lange nicht gebannt
Die Explosion setzte mehr als 100 radioaktive Elemente frei. Manche zerfielen nach wenigen Stunden. Die gefährlichsten von Ihnen wie Jod, Strontium-90 und Cäsium-137 haben eine deutlich längere Halbwertszeit(die Zeit die es benötigt bis sich die Radioaktivität eines Isotops halbiert). Jod, das vor allem von Kindern zu dieser Zeit über kontaminierte Milch zu sich nahmen, hat eine Halbwertzeit von 8 Tagen und verursacht Schildrüsenkrebs. Strontium und Cäsium hingegen erreichen diese Zeit erst nach 29 Jahren. Sie sind immer noch deutlich messbar.
Abgesehen von den Stoffen die damals in die Umwelt gelangten, geht auch vom Reaktor selbst noch erhöhte Gefahr aus. Der Sarkophag der gleich nach der Explosion unter Einsatz tausender Menschleben über den Kernreaktor gezogen wurde ist undicht und zerfällt. So gelangt radioaktiver Staub nach draußen aber auch Regenwasser kann sich im Inneren sammeln. Das verseuchte Wasser droht in der Erde zu versickern und das Grundwasser zu verseuchen.
Arbeiten an einer neuen Schutzhülle haben, nur wenige hundert Meter vom stark verstrahlten Kraftwerk, bereits vor ein paar Jahren begonnen. Die 45.000 Tonnen schwere Konstruktion soll Ende 2017 fertiggestellt und auf Schienen über den Reaktor geschoben werden. Dort soll sie die Ruine weitere 100 Jahre vor der Außenwelt abschirmen.
Das Leben im verseuchten Gebiet
Maria Hetzer, Leiterin des Projektes „Erholung für Kinder aus Belarus“, saß gerade in einem Hotelzimmer in Minsk, als uns ihr Rückruf erreichte. Sie war als Sprecherin zur Konferenz anlässlich des 30. Jahrestages der Tschnernobyl Katastrophe geladen. Dort war sie mit mehr als 50 anderen Staatsmännern und Vertretern internationaler Organisationen wie der WHO(World Health Organisation). Sie alle waren zusammengekommen um den Ist-Zustand zu besprechen. Denn auch wenn seit dem Vorfall drei Jahrzehnte vergangen sind, die Strahlungsdosis ist noch immer lebensbedrohend hoch. Trotzdem kehren viele der Evakuierten in das Gebiet zurück. Die Älteren zum Sterben und die Armen aus Mangel an Optionen. Dabei setzen sie sich täglich der radioaktiven Strahlung aus. Offiziell ist die Rückkehr in die Sperrzone nicht erlaubt. Von Soldaten werden die Familien jedoch geduldet. Zum Teil auch mit lebenswichtigen Dingen, wie Batterien, versorgt. Die Schriftstellerin Alina Bronsky hat diese postapokalyptische Stimmung in dem Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ verarbeitet.
Auf Urlaub von den Strahlen in Österreich
Seit nunmehr 22 Jahren holt die Sozialarbeiterin Maria Hetzer Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion zum Erholungsurlaub nach Österreich. Bis zu 150 Kinder jährlich über einen Zeitraum von 2-3 Monaten. Früher waren es noch wesentlich mehr. Als die Katastrophe noch aktueller war. Da gab es auch noch Gratisflugplätze. Jetzt freut sich Maria Hetzer schon wenn sie verbilligte Tickets bekommt. Der Großteil der Kinder muss jedoch mit Bussen nach Österreich geholt werden. Die Kosten dafür übernehmen die Gastfamilien freiwillig. Heuer sind es EUR 130 pro Kopf. „Wenn ich schlecht kalkuliere oder zu wenig Gastfamilien finde, zahle ich das aus meiner eigenen Tasche“, meint die Projektleiterin im Gespräch. Maria Hetzer ist auf sich allein gestellt. Selbst während eines Krankenaufenthaltes kooridiniert sie das Projekt vom Patientenbett aus.
Messbarkeit und Erfolgsgeschichten
Zugegebenermaßen kennt die Niederösterreicherin nicht alle Kinder und Gastfamilien persönlich. Bei dieser Größenordnung fast unmöglich. Mit vielen aber hält sie sogar jetzt noch Kontakt, auch nach Erreichen des 18. Lebensjahres und dem damit verbundenen Ausscheiden aus dem Programm. Zahlreiche bewegende Einzelschicksale, darunter auch zwei Erfolgsgeschichten an die sich Frau Hetzer gerne erinnert. Zwei Mädchen. Eines das zu einer Gastfamilie ins Waldviertel kam. Dort wurde ihr musikalisches Talent gefördert. Sie wurde eine bekannte Pianistin. Lebte eine Zeit in Wien, bevor sie wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Das andere Mädchen war sprachbegabt. Lernte in kürzester Zeit die Deutsch und studierte anschliessend Fremdsprachen an der Universität. Jetzt arbeitet sie als Dolmetscherin in einer Organisation vor Ort die und hilft selbst dabei Kinder auf Erholungsurlaub zu schicken. Langjährige Studien zum Erfolg dieses Projektes gibt es nicht. Ein Verein aus Vorarlberg konnte in Zusammenarbeit mit einem privatfinanzierten Strahleninstitut einen Wert erheben. Nach einer Messung vor und nach einem Erholungsaufenthalt stellte man eine deutliche Verbesserung fest.
Die wahren Opfer von Tschernobyl sind noch nicht geboren
Die Kinder von damals sind nun erwachsen. Schicken wenn möglich ihre eigenen Kinder mit dem Programm nach Österreich. Denn ihre Lage vor Ort hat sich kaum verändert. Diesen Kindern merkt sieht man ihr Leben in den verstrahlten Zonen nicht an. Die regelmäßigen Bluttests und ihre Immunschwäche. Ganz banale Erkältungen enden für sie nicht selten mit einem Aufenthalt im Krankenhaus. Ein Thema sind auch der radikale Anstieg an Fehl- und Missgeburten in den betroffenen Dörfern, die der Katastrophe in Tschernobyl zugeschrieben werden.
Als wir das Telefonat mit Frau Hetzer beenden fragen wir was sie sich für die Zukunft des Projektes „Erholung für Kinder von Belarus“ wünscht. Für sie steht fest, dass das Projekt mit ihr aussterben wird „Ich würde mir wünschen, dass ich die das noch so lange wie möglich machen kann und das sich in dieser Zeit die politische Situation so zum besseren verändert, dass irgendwelche Visa oder bürokratische Hürden nicht mehr bestehen und wir Kindern einfach einladen können.“
Das in St. Pölten beheimatete Projekt sucht auch heuer wieder Gastfamilien aus ganz Österreich für die Kinder aus Belarus. Sie sind dringend auf Hilfe angewiesen. Mehr Informationen und die Anmeldung finden sich hier.