Sperrzone Tschernobyl: Was nach der Katastrophe bleibt

„Sperrzone Tschernobyl. Verschwunden 1999.“ – Die Folgen dieser Atomkatastrophe werden in der aktuellen Ausstellung von Fotografin Nadja Gusenbauer thematisiert.

Sperrzone Tschernobyl. Bild: Nadja Gusenbauer.

Nach dem 26. April 1986 wurde das Gebiet rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl zur Sperrzone. Die Nuklearkatastrophe hatte und hat bis heute katastrophale Folgen für Mensch und Natur. Der Vorfall im Reaktor 4 in Tschernobyl war der erste, der in die höchste Kategorie der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse eingestuft wurde: „Katastrophaler Unfall“. Auch wenn die Verstrahlung sich Tausende Kilometer weit ausgewirkt hat, das Gebiet um das Kraftwerk bis heute am Stärksten von den Folgen gezeichnet. Nun liegt das Ereignis über 30 Jahre zurück und mittlerweile kann das Gebiet zumindest für kürzere Zeitspannen betreten werden. Nadja Gusenbauer fotografierte 2017 mehrere Bildreihen in der 30-Kilometer-Ausschlusszone um das ehemalige Atomkraftwerk und macht die unsichtbaren Folgen dadurch auf ihre Art sichtbar. Nicht ohne Grund wird die Ausstellung als „Extremtourismus in die Vergangenheit“ beschrieben, denn offiziell existieren die 55 Ortschaften in der Sperrzone seit 1999 nicht mehr.

Tschernobyl-Tourismus

Was viele nicht wissen: Das Betreten der Zone rund um das AKW ist seit einiger Zeit legal möglich. Der Tschernobyl-Tourismus wird von der ukrainischen Regierung gefördert und die Touren locken Jahr für Jahr mehr Besucher und Besucherinnen an. „Die Bewegung innerhalb der 30-Kilometerzone ist streng reglementiert und wird durch Sicherheitskräfte überwacht. Es gelten ziemlich einfache Sicherheitsregeln: keinen Staub aufwühlen, außerhalb der bewohnten Gebäude nichts essen und trinken, keine „Andenken“ mitzunehmen“ erklärt Fotografin Nadja Gusenbauer. Die radioaktive Strahlung im betroffenen Gebiet ist heute allgemein sehr gering, trotzdem gibt es innerhalb der Zone gefährliche und risikoreiche Hot-Spots.

„Music School.“ Abandoned City of Pripyat. Bild: Nadja Gusenbauer.

Nicht nur Touristen bewegen sich heute innerhalb des Gebiets, einige Menschen haben ihre ehemaligen Häuser wieder bezogen und leben in der Sperrzone – mittlerweile werden sie auch von der Regierung geduldet. Orte die nicht von Menschen bewohnt sind, gehören der Tierwelt. In der menschenleeren Zone leben zum Beispiel zahlreiche Wildschweine, Wölfe, Rehe, viele Vogelarten und sogar einige Wildpferde. Die Natur erholt sich nach und nach, aber die Spuren der Katastrophe sind trotzdem bis heute präsent.

Harte Kontraste

Nadja Gusenbauer fängt auf ihren Fotos die kühle, befremdliche Stimmung der Orte ein, die vor drei Jahrzehnten noch lebendig waren. Die harten Schwarz-Weiß Kontraste betonen die surreal wirkenden Überreste der Dörfer und die Grenze zwischen Ruine und Natur scheint mehr und mehr zu verschwimmen. Beim Betrachten der Bilder wird deutlich, welche Einschnitte der Mensch in der Natur hinterlässt und wie lange diese bestehen bleiben – auch wenn sich die Natur letztendlich ihren Weg zurückbahnt. Die Fotostrecke zeigt ein Hin-und-Her aus brutaler Leere und Überresten aus dem Leben der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner.

„Concert Grand.“ Abandoned City of Pripyat. Bild: Nadja Gusenbauer.

Nadja Gusenbauer will mit ihren Werken weniger über Zustände und Tatsachen informieren, als vielmehr eine Geschichte von den Orten erzählen, die 1999 offiziell aus den Registern gelöscht wurden. Ihre Bilder leben demnach nicht nur von der harten Ästhetik des verlassenen Sperrgebiets – Nadja Gusenbauer hat BIORAMA von den Hintergründen der Ausstellung erzählt:

Was fasziniert die Menschen ihrer Meinung nach an verlassenden Orten wie der Sperrzone Tschernobyl?

Verlassene Orte haben immer etwas Mystisches und Geheimes an sich, es gibt selten Fakten, sondern Vermutungen über das Geschehen und die Geschichte des Ortes. Alles, was mit Mythen umrankt ist, wo Missverständnisse aufgrund der Geheimnisse auftreten und alles was Debatten und Diskussionen auslöst, ist für kritisch denkenden Personen äußerst interessant. Damit würde ich die Faszination der verlassenen Orte erklären. Meine Intention war, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Was verbinden Sie emotional mit diesem Ort?

Ich bin in Kiew geboren und aufgewachsen. Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist ca. 100 km Luftlinie vom Tschernobyl Atomkraftwerk entfernt. Zur Zeit der Katastrophe war ich 18 Jahre alt und studierte an einer der Kiewer Universitäten. Zehn Jahre später verließ ich das Land und lebe seither in Österreich. Die Atomkatastrophe offenbarte die alten Probleme des kommunistischen Regimes und die Doppelmoral der Gesellschaft. Wichtige Entscheidungen wurden nicht von Fachleuten, sondern von einer politischen Elite getroffen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Nach der Reaktorexplosion herrsche in der Stadt eine gewisse Unsicherheit und das Gefühl, nicht die Wahrheit hören zu dürfen.

„Summer Rain.“ Tschernobyl Town. Bild: Nadja Gusenbauer.

Sogar Jahrzehnte nach dem Atomunfall kam die Katastrophe immer wieder zu mir zurück – zum Beispiel in Gestalt des Geflügels im Lebensmittelgeschäft aus den Staatsreserven stammend, eingefroren im Mai 1986. Oder als Erkenntnis darüber, wie mit radioaktiv verschmutzten landwirtschaftlichen Erzeugnissen im Jahr 1986 umgegangen wurde, sei es meine eigene Gesundheit betreffend oder manipulierte Informationen über alles, was die Katastrophe betrifft.

Wie entstand die Idee diese Fotoserien in Tschernobyl zu machen?
Die Idee kam relativ spontan, eher als Serendipity-Moment. Ich wusste, ich will die Zone betreten und es gab auch eine Gelegenheit dafür. Als Verarbeitung meiner eigenen Erfahrungen entstand eine Serie von Bildern, einige davon sind jetzt in der Leica Galerie Wien zu sehen. Als Kind war ich mit den Eltern im Wald wandern, heutzutage liegt diese Gegend innerhalb des Sperrgebietes. Da meine Eltern ein Fachinteresse am Atomkraftwerk hatten, haben sie damals überlegt, weiter nach Prypjat zu fahren – letztendlich fanden sie die junge Stadt doch nicht interessant genug und wir kamen an diesem Tag nicht nach Prypjat. Zehn Jahre später kam es zu einer Explosion in dem Atomkraftwerk. Wir haben an die Waldwanderung gedacht und wussten, dass wir die Stadt Prypjat nie besuchen werden. Es kam in meinem Leben allerdings anders als gedacht.

Wie lief das Fotografieren vor Ort ab, welche Sicherheitsvorkehrungen gab es?

Es ist seit einigen Jahren möglich, einige Gebiete der Sperrzone legal zu besuchen. Die Bewegung innerhalb der 30-Kilometerzone ist streng reglementiert und wird durch Sicherheitskräfte überwacht. Es gibt außerdem sehr gefährliche Plätze in der Zone. Im Keller des Krankenhauses, wo noch immer die Kleidung der Menschen liegt, die unmittelbar neben dem explodierten Reaktor mit den Explosionsfolgen gekämpft haben und größtenteils kurz danach ihr Leben verloren haben, ist die radioaktive Strahlung noch immer sehr hoch und kann für die Gesundheit gefährlich sein. Das gleiche gilt für den sogenannten roten/verrosteten Wald und die Territorien, wo die Explosionsinhalte zu Boden gingen. Gefahr aufzuspüren war nicht das Ziel der Reise, deswegen habe ich solche Plätze vermieden.

Es gelten ziemlich einfache Sicherheitsregeln: keinen Staub aufwühlen, außerhalb der bewohnten Gebäude nichts essen und trinken, keine »Andenken« mitnehmen. Innerhalb der Sperrzone wohnen Schichtarbeiter und angeblich tausende Leute, die auf eigenes Risiko ein einfaches, meist selbstversorgtes Leben führen. Die Familie einer meiner Freunde hat sich auch entschieden, ihr altes Haus im Grenzgebiet der Zone zu bewohnen. Beim Fotografieren kamen Emotionen hoch, hervorgerufen von Gedanken über das Schicksal der Betroffenen.

„Chair. “ Nuclear Power Plant. Bild: Nadja Gusenbauer.

Was wollen Sie mit den Bildern kommunizieren, geht es rein um Ästhetik oder auch um informative Komponenten?

Die Bilder der Ausstellung sind nicht als Reportage oder Informationsträger gedacht. Für mich steht Ästhetik in Vordergrund und die innere Auseinandersetzung mit meiner eigenen Vergangenheit. Es ist die Melancholie, die wie die Fotografie selbst auf die Vergangenheit ausgerichtet ist. Meine Tschernobyl-Serie liegt der Schwermut, der Wehmut und dem Schwarzsehen nah. Der Name der Ausstellung weist auf Fakten hin, etwa, dass bis Ende 90er Jahren mehrere Gebäude in Prypjat noch benutzt wurden und in intaktem Zustand waren. Im Jahr 1999, entsprechend eines behördlichen Beschlusses, wurden die Ortschaften der Sperrzone aus den offiziellen Registern entfernt und gelten seither als verschwunden.

„The Wall in the Concert Auditorium.“ Abandoned City of Pripyat. Bild: Nadja Gusenbauer.

„Richytsa.“ Exclusion Zone. Bild: Nadja Gusenbauer.

Sperrzone Tschernobyl. Bild: Nadja Gusenbauer.

Nadja Gusenbauer wurde 1967 in Kiew geboren und studierte dort an der State University of Technologies & Design. Sie eröffnete im Jahr 2010 das Atelier LIK in Wien und verlegt und gestaltet seit 2012 die Fotozeitschrift FOTOCULT zusammen mit Eric Berger. Die Werke der Ausstellung „Sperrzone Tschernobyl. Verschwunden 1999.“ von Nadja Gusenbauer sind noch bis zum 4. September in der Leica Galerie im 1. Bezirk in Wien ausgestellt.

VERWANDTE ARTIKEL