Die Tropicalisierung der Arbeitswelt
Keine Anwesenheitspflicht, selbstbestimmte Gehälter, Organisation in Kleingruppen und beinahe keine Hierarchie. Was klingt wie die utopische Vision einer romantischen Wirtschaft, ist in einem Unternehmen in Brasilien tägliche Realität.
Die Arbeitswelt ist ungesund: Druck, Stress, Depression und Burn-out nehmen drastisch zu. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die häufigste Ursache für Erwerbsunfähigkeit. Die Flexibilitätsanforderungen erhöhen die Existenzangst und damit die Bereitschaft, schlechte und ungesunde Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Hinzu kommt: Immer weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Arbeit verrichten, und so bleibt schließlich jede Leidenschaft auf der Strecke. Aktuelle Untersuchungen zeigen aber auch, dass es für Unternehmen immer schwieriger wird, herausragende Mitarbeiter zu bekommen bzw. diese auch zu behalten. Geld, Macht und Status motivieren nicht nachhaltig. Die kreativsten Köpfe, die bestausgebildeten Digital Natives, verlangen Entfaltungsfreiheit, wollen direkt nach ihrer Ausbildung Verantwortung übernehmen und möchten selbst etwas gestalten. Dies können traditionelle Unternehmen häufig nicht bieten. Zu hierarchisch, arbeitsteilig und starr sind ihre Strukturen. »Die Wirtschaftskrise, die wir derzeit haben, ist keine Markt-Krise, sondern eine Krise der Manager und Unternehmer«, erkannte der deutsche Zukunftsforscher Gerd Gerken schon in Rezessionszeiten anno 1994.
Kontrolle ist eine Illusion
Einige Jahre zuvor, mitten in einer der schwersten Krisen der brasilianischen Wirtschaft der 80er, übernahm der 21-jährige Ricardo Semler das fast bankrotte Maschinenbau-Unternehmen seines österreichstämmigen Vaters in São Paulo mit mehreren Hundert Mitarbeitern. Semler hatte sich bis dahin eher zum Rockmusiker als zum Manager berufen gefühlt. Seine radikale Unternehmensphilosophie: »Der Zweck der Arbeit ist nicht, Geld zu verdienen. Der Sinn der Arbeit liegt darin, dass Mitarbeiter – gleich ob Aushilfe oder Topmanager – sich wohlfühlen in ihrem Leben.« Sein mutiges Management-Credo dazu: Vertrauen statt Kontrolle, Partizipation statt Hierarchien, Entbürokratisierung, Selbstverantwortung statt Regeln und Vorschriften. Mit der Macht des Alleineigentümers ausgestattet entließ er mehr als die Hälfte der Manager und reduzierte die Hierarchiestufen von zwölf auf drei. Heute wählen die inzwischen 3.000 Mitarbeiter von Semco ihre Vorgesetzten demokratisch, entscheiden selbst über Arbeitszeiten, Gehälter und Neueinstellungen. Eine Personalabteilung gibt es nicht und die Bilanzen und Löhne sind für alle Mitarbeiter transparent. Auch eine Aufteilung von Gewinnen findet regelmäßig statt – immerhin ist das Unternehmen längst hoch profitabel mit einer jährlichen Wachstumsrate von bis zu 40 Prozent. Fluktuationsrate? Weniger als ein Prozent.
Strukturen, die viel zulassen
Semco funktioniert laut Ricardo Semler, der auch mehrere Bücher über seine erfolgreiche Vision des Nicht-Management geschrieben hat, weil bedingungslos in Teams zusammengearbeitet wird, die hierarchisch gesehen flach in drei Kreisen vernetzt sind. Das Prinzip dahinter klingt einleuchtend: »Behandle deine Mitarbeitenden wie Erwachsene, dann verhalten sie sich auch so. Je mehr Freiheiten du ihnen gibst, desto produktiver, zufriedener und innovativer werden sie.« Jede Unternehmenseinheit hat höchstens 150 Mitarbeiter. Wächst die Zelle darüber hinaus, wird sie wieder geteilt. Pro Einheit gibt es sechs bis zwölf Teams zu jeweils zwölf bis 20 Personen, die selbstverantwortlich arbeiten. Ob von zu Hause, einem Cafe oder gar nicht gearbeitet wird, entscheidet jeder Mitarbeiter selbst. Es gibt keine Regeln und Richtlinien, keine fixen Büros oder Arbeitsplätze, keine Kleiderordnung, keine traditionellen Organigramme und Fünfjahrespläne, dafür viel Selbstorganisation und hohe Mitbestimmung. Als wesentliches Regulativ gelten bedingungslose Transparenz und Ergebnisorientierung in den Teams. Jeder bekommt das Gehalt, das er möchte, muss es aber vor den Kollegen rechtfertigen und selbst erwirtschaften. Jeder Mitarbeiter wird periodisch bewertet. Fällt eine solche Bewertung zweimal hintereinander schlecht aus, soll sich dieser freiwillig nach einer für ihn besser geeigneten Aufgabe im Betrieb umsehen. Dabei wird die Leistung nicht an den Arbeitszeiten bzw. der Dauer der Arbeit gemessen, sondern am Erfolg des Projekts. »Wenn man sich bei Semco im Büro umsieht, sind da immer jede Menge leere Plätze. Wo sind all diese Leute? Ich habe nicht die leiseste Idee und es interessiert mich auch nicht«, erklärt Semler. »Ich will nicht, dass meine Mitarbeiter der Firma eine bestimmte Anzahl an Stunden pro Tag geben. Wer braucht eine bestimmte Anzahl Stunden pro Tag? Wir brauchen Leute, die ein bestimmtes Ergebnis abliefern. Mit vier, acht oder zwölf Stunden im Büro, sonntags kommen und montags zu Hause bleiben – es ist bedeutungslos für mich.«
Begeisterung durch Beteiligung
Um die Abhängigkeit von einem einzigen Marktsegment zu verringern, machte Semler nach und nach aus einem Metallbetrieb eine Holding mit mehreren Tochter-Unternehmen. Es begann mit einem kleinen Team von Ingenieuren, die vom Tagesgeschäft völlig losgelöst waren. Sie konnten sich frei im Unternehmen bewegen und sich ihre Arbeit selbst suchen. Die meiste Zeit waren sie damit beschäftigt, neue Produkte zu erfinden bzw. bestehende zu verbessern, Produktionsabläufe zu optimieren oder komplett neue strategische Geschäftsfelder zu entdecken. Heute ist Semco u.a. als High-Tech Venture, in der Kommunikationsbranche, dem Facility-Management sowie der Finanz- und Umweltberatung tätig. Im Laufe der Zeit entstanden so selbstständige Entwicklungs- und Produktionseinheiten, die ohne zentrale Steuerung auf eigene Rechnung sowohl Aufträge für Semco als auch für Kooperationspartner ausführen. Sie arbeiten in den Gebäuden und mit den Anlagen von Semco, die sie vom Konzern leasen oder mieten. Damit war das selbstverantwortliche Unternehmen geboren: Der Großteil der Mitarbeiter arbeitet inzwischen mit Teilzeitverträgen oder zur Gänze als selbstständige Unternehmer.
Eine Studie hat vor einigen Jahren festgestellt, dass die Mitarbeiter bei Semco eine gesündere Balance zwischen Privatleben und Beruf haben, sich mehr Zeit für Beziehungen, Kinder und Hobbys nehmen, aber gleichzeitig auch ungewöhnlich hohen Einsatz und bemerkenswerte Leistungen im Beruf zeigen – nicht trotz, sondern wegen der Freiheiten. Für Ricardo Semler ist das wenig verwunderlich: Menschen müssen sich eben entfalten können, um ihr Potenzial optimal einzubringen – seine Unternehmensphilosophie hat sich erfüllt. Damit das auch so bleibt, ist der 94-Prozent-Eigentümer nur mehr äußerst selten im Firmensitz anzutreffen. Und die in Heerscharen nach São Paulo pilgernden Manager aus aller Welt werden von ihm ob ihrer ständig geäußerten Zweifel, dass das alles bei ihnen zuhause nicht möglich sei, gerne mit folgendem Vergleich »tropicalisiert«: In Brasilien tickten die Uhren eben anders – die Führungskräfte bei Semco hätten sich selbst überflüssig gemacht.
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