Seeigel erobern die Küchen – zu Recht.
In Japan weiß man Seeigel seit Langem als Delikatesse zu schätzen. Welche der 900 Arten sind essbar?
Seeigel sind eine besondere Delikatesse und tief in der kulinarischen DNA Japans verankert. In den meisten Sushi-Bars in Kyoto oder Tokio werden sie als Höhepunkt eines mehrgängigen Menüs präsentiert. Das liegt daran, dass die Intensität von Geschmack und Aroma kaum zu überbieten ist. Seeigel am Teller bedeuten stets konzentrierte Meeresfrische am Gaumen. Natürlich ergeben sich dabei auch verschiedene Fragen. Schmecken Seeigel aus verschiedenen Meeren oder gar von verschiedenen Küstenabschnitten unterschiedlich? Falls ja, warum ist das so? Sind die Bestände intakt und die Populationen gesund? Kann man Seeigel züchten? Und gibt es Seeigel in Bioqualität? Eine Suche nach Antworten auf dem Fischmarkt in Tokio und an den Küsten Hokkaidos, dem Kernland der Seeigelkultur.
»いらっしゃいませ! 世界一のウニ料理店で«
»Willkommen im besten Seeigelrestaurant der Welt.«
Yuna-san, Restaurantbesitzer am Fischmarkt in Tokio.
Halb sechs Uhr morgens, am Tsukiji, dem alten Fischmarkt in Tokio. Vor einiger Zeit übersiedelte der gewerbliche Teil des Marktes an einen anderen Standort. Mit ihm die spektakulären Thunfischauktionen und die Sushi-Bars, in denen man um vier Uhr morgens so frische Sushi bekam, dass sich eine halbe Stunde später vor den Lokalen bereits eine Warteschlange von 20 bis 25 Menschen gebildet hat, die auf einen freien Platz an der Theke warten. Was blieb ist der kleinere und ältere Teil des Marktes. Darin befinden sich kleine Fischhändler, Messerschmieden und jede Menge Leute, die auf kleinen Gasgrillern Street- und Fingerfood anbieten. Und dann gibt es, in einem unscheinbaren Hinterhof, noch die Bar Uni-Tora Kurau Naka-Doriten. Ein Restaurant, das sich auf Uni, also auf Seeigel, spezialisiert hat. Yuna-san, der Chef hinter der Bar, freut sich über die üppige Bestellung. Aber immerhin geht es darum, die Frage zu klären, ob es bei Seeigeln so etwas wie Terroir, also eine sensorisch klar erkenn- und zuordenbare Herkunft gibt. Yuna-san hat sich die Frage drei Mal übersetzen lassen. Dabei war das Problem kein sprachliches. Es war eher so, als stellte der Autor die Frage, ob man einen Unterschied zwischen Äpfeln und Bananen schmecken kann. Die Kurzfassung: Die fünf Seeigel kamen alle von den Küsten Hokkaidos und unterschieden sich in Farbe, Textur, Konsistenz, in der Oberfläche, in der Intensität des Aromas und im Geschmack. Also in so gut wie allen kulinarischen Aspekten. Das Exemplar aus Nemuro, vom östlichsten Punkt der Insel, war füllig, weich, fast grell gelblich, überraschend zart im Geschmack und auch subtil im Aroma. Der Hamanaka-Seeigel, nur 40 Kilometer südlich war im Aroma deutlich prägnanter und ausgeprägter, dafür aber noch weicher in der Textur. Spannend war, dass das Exemplar von Cape Ochiishi, das genau zwischen Nemuro und Hamanaka liegt, geschmacklich und auch farblich zwischen Proben von diesen beiden Orten liegt. Die beiden Sorten, die am Schluss verkostet wurden, kamen von den kleinen Inseln Rebun und Rishiri. Praktisch die nördlichsten Inseln Japans und dem russischen Kamtschatka viel näher als Tokio. Diese Exemplare waren die intensivsten, das Aroma am stärksten ausgeprägt und wuchtig nach Jod und Meersalz schmeckend. Die ›cool climate‹-Igel, wenn man so will.
Der Appetit auf Algen
Es gibt etwa 900 Arten. Die wenigsten davon sind kulinarisch von Bedeutung. In Japan ist es gar nur eine Handvoll. Die häufigsten sind Ezobafun-Uni und Murasaki-Uni (oft auch Kitamurasaki-Uni). Der Unterschied zwischen beiden ist augenscheinlich. Ezo steht in der Sprache Japans für den Norden, für Hokkaido. Bafun für Pferdemist. Ezobafun-Uni sind also autochthone Seeigel Hokkaidos mit eher kurzen Stacheln, die dadurch eher pummelig wirken. Sie schmecken aber hervorragend. Das, was von Kitamurasaki-Uni auf dem Teller landet, also die Geschlechtsdrüsen, ist deutlich heller als die ihrer Ezobafun-Verwandten. Sie werden in Japan oft auch als »weißer Seeigel« bezeichnet. Der Geschmack ist leichter, feingliedriger und eleganter als beim Bafun. Ein weiterer Unterschied im Geschmack ergibt sich durch die Nahrung. Seeigel, egal welcher Sorte, ernähren sich von Algen. Diese Vorliebe für Algen ist Fluch und Segen gleichermaßen. Segen, weil sich an den Küsten Hokkaidos die besten Algenernteriffs Japans befinden. Das bedeutet, dass sich die Seeigel an den Kombu-Algen zu schaffen machen, die das Fundament der japanischen Küche ausmachen. Kombu sind Makroalgen, die vor den Küsten Hokkaidos ganze Algenwälder bilden. Da der Hauptbestandteil ihrer Nahrung aus Meeresalgen besteht, ist es naheliegend, dass intensiv schmeckende Seeigel vor allem in Regionen zu finden sind, die für ihre Meeresalgenqualität bekannt sind. Der daraus resultierende Widerspruch auf den Punkt gebracht: Seeigel von der nördlichsten Insel Japans sind deshalb so wertvoll, weil sie sich von den besten Algen ernähren, die man bekommen kann. Ein Dilemma, weil die JapanerInnen die Algen als Umami-Lieferanten für Dashi, die Suppe, die das Rückgrat der japanischen Küche bildet, brauchen. Der Kampf zwischen Algen und Igeln ist ein epischer. Ganze Armeen von Seeigeln fallen über Algenwälder her, wachsen dabei in unglaublicher Geschwindigkeit und fressen alles an Algen, was auf ihrer Route liegt. Der Gegenschlag, den die Alge entwickelt hat, ist perfide. Sie hat sich eine Waffe zugelegt, die sich die Landwirtschaft später zum Vorbild für die Schädlingsbekämpfung mit Pheromonfallen gemacht hat. Sie produziert ein Protein, das weibliche Seeigel glauben lässt, ihre Eier wären befruchtet. Damit hören die Seeigel zwar nicht zu fressen auf, aber der Wunsch, Nachwuchs zu produzieren, ist erst einmal vom Tisch. Die Algen haben dadurch das Populationswachstum dieser Fressfeinde verzögert und sich Zeit verschafft.
Der Mensch hat die Finger im Spiel
Bis ins 17. Jahrhundert kämpften Menschen an der Seite der Algen. Taucher sprangen ins Wasser und holten tonnenweise Seeigel von den Algenblättern. Dann entdeckten Fischer aus der Region Hokuriku im Norden der Hauptinsel Honshu¯, dass man die Seeigel auch essen kann, und dass sie eigentlich ziemlich gut schmecken. Der erste Schritt – oder besser der erste Bissen – auf dem Weg zum Weltmarkt war getan.
In anderen maritimen Regionen konnte kein Gleichgewicht entstehen, die Zusammenhänge sind andere und die Folgen verheerender. Überfischung führt dazu, dass den Seeigeln die Fressfeinde ausgehen. Die dadurch rasch wachsende Population (auch nicht essbarer Seeigel) führt zu einer massiven Gefährdung der Riffe und Korallen etwa im Indischen Ozean.
Zurück nach Japan. Hier ist noch beides intakt: Die Seeigel-Population ebenso wie die Bestände an Algen. Die beste Jahreszeit für Seeigel ist stark abhängig von der Art und der Region. Alle in Japan bevorzugt befischten Arten variieren über das Jahr so sehr, dass ganzjährig Uni in guter Qualität gegessen werden kann. So ist beispielsweise die Saison von Ezobafun-Uni vom Frühling bis zum Herbst und die Saison von Kitamurasaki-Uni dagegen im Winter. Seeigel gefangen an den Küsten Europas, der Vereinigten Staaten und Kanada sind besonders intensiv während der Wintermonate. In Hokkaido werden sogar Fangzeiten festgelegt. In Hakodate im Süden der Insel wird nur von September bis November geerntet, die Bafun-Ernte um Rishiri und Rabun im Norden geht dagegen von Juni bis August über die Bühne. Seeigel, die außerhalb der Saison gefischt wurden schmecken unappetitlich und bitter. Das liegt daran, dass diese Monate Paarungs- und Brutzeiten sind, in denen die Geschlechtsorgane (und das sind schließlich die einzigen essbaren Teile der Seeigel) übermäßig stark beansprucht werden.
Um 2003 wurden die ersten Versuche gestartet, Seeigel in Aquakulturen zu züchten. Verantwortlich waren vor allem zwei Gründe. Erstens der Schutz der Algen, zweitens die Möglichkeit, Einfluss auf die Qualität (und Sauberkeit) der delikaten Gonaden zu nehmen. Beides hat zwar funktioniert, durchgesetzt hat sich die Idee aber noch nicht ganz.
Angebot und Nachfrage
Betrachtet man den Markt etwas genauer, erkennt man, dass die weltweite Fangmenge bis in die 70er-Jahre von Japan dominiert wurde. 80 Prozent der weltweit gefangenen Seeigel wurden von japanischen FischerInnen aus dem Meer gefischt. Dann explodierte die Fangmenge, stieg Mitte der 90er-Jahre auf 100.000 Tonnen. Allerdings blieb die Quote in Japan recht konstant bei 20–30.000 Tonnen. Mittlerweile hat sich die globale Fangmenge bei etwa 60.000 Tonnen eingependelt. Der Anteil Japans daran beträgt etwa 15 Prozent. Ungefähr gleich hoch ist auch der Anteil an Seeigeln, die in Aquakulturen gezüchtet werden. Also ungefähr 10.000 Tonnen. Was nicht konstant blieb, war der Appetit der JapanerInnen nach Uni. Der Großteil der Weltproduktion fand seinen Weg nach Japan. Da allerdings die Verarbeitung von Seeigeln ein traditionelles und uraltes Handwerk ist, wurden Seeigel im Ganzen nach Japan geliefert, dann nach Hokkaido gebracht wo die Gonaden herausfiletiert und in präsentable Holzboxen verpackt wurden. Dann gingen die Kisterln zurück an den Fischmarkt Tsukiji, wo sie zu horrenden Preisen an Restaurants und Einzelhändler verkauft wurden. Die Herkunft der Seeigel: Australien, Neuseeland, Kalifornien. Die Preise waren nicht zuletzt dadurch so hoch, dass die Wertschöpfungskette aufgeteilt und die Logistik so komplex war. Das änderte sich, als ein amerikanischer Unternehmer die Seeigel aus Südkalifornien und Maine nicht mehr im Ganzen nach Japan schickte, sondern zwei Dutzend kambodschanische ImmigrantInnen darin ausbildete zu tun, was bisher nur die FischerInnen in Hokkaido taten: aufbrechen, filetieren, reinigen und fein säuberlich in Holzkistchen schlichten. Und diese Boxen wurden dann nach Japan exportiert. Seeigel werden im Übrigen lebend gefangen, beim Transport zur Verarbeitung am Leben gehalten und Sterben beim Aufbrechen, beziehungsweise durch das Herausschneiden der Geschlechtsdrüsen. Das klingt martialisch und brutal, es gilt aber als gewiss, dass die Tiere dabei keinen Schmerz spüren. Es sind Stachelhäuter, bei denen in ihrer Physiognomie nichts vorhanden ist, das eine Empfindungsfähigkeit ermöglicht.
Und Ezobafun und Murasaki? Die schaffen es kaum aus Japan raus. Ein guter Teil der von FischerInnen der Insel gefangenen Seeigel landet in noblen oder auf Uni spezialisierten Restaurants in Tokio. Ein anderer (ebenfalls nicht geringer) Teil schafft es nicht einmal aufs Festland. Hin und wieder tauchen Uni-Boxen in den Instagram-Kanälen europäischer Top-Restaurants auf. Das ist auch nicht verwunderlich. Nicht nur die Seeigel von den Küsten Japans sind beliebt in den Küchen. Auch in anderen Ländern an anderen Meeren gilt Seeigel als Delikatesse.
BIORAMA hat hier mehr zum prekären Zusammenspiel von Seeigelpopulationen und Algenwäldern verfasst.