Rohmilch: Von der rohen Lust aufs Leben
Lassen sich bei Milch und Käse auch das Terroir, die Rasse und die Haltungsform der Tiere herausschmecken? Ja, meint der Käsesachverständige und Rohmilchaktivist Karl M. Fraißler.
Ende Oktober trifft sich die Crème de la Crème der handwerklichen Milchverarbeitung in Valencia. Dort findet im Rahmen einer Tagung der europäischen Hofkäsereien die erste internationale Rohmilchkonferenz statt. Wozu?
Karl M. Fraißler: Das Paradies ist dort, wo Milch und Honig fließen, heißt es so schön in der Bibel. Das Originelle des Weines kommt durch die Sorte, das Anbaugebiet, die Lage, den Boden und durch die Arbeit der WinzerInnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Käse. Das Besondere bekommt man durch die Beachtung von Tierrasse und Tierhaltung, Örtlichkeit und Terroir sowie TierhalterIn und KäserIn. Als typisch anerkennen wir Camembert aus der Normandie, gemacht aus der Milch des Normanne-Rindes, oder Parmesan aus der Region Emilia-Romagna, hergestellt mit der italienischen Rinderrasse Bianca Modenese. In Österreich galt lange Zeit das Montafoner Braunvieh als die Rasse zur Beweidung der Almen und zur Erzeugung des besten Bergkäses. Diese Besonderheiten können aber nur hervorgekehrt und den KonsumentInnen schmackhaft gemacht werden, wenn die Milch naturbelassen bleibt. Europaweit sind wir durch die vorherrschende Milchindustrie im Begriff, diese Besonderheiten zu vergessen und zu verlieren.
Für die einen ist Rohmilch als unbearbeitetes und lebendiges Rohprodukt besonders gesund. Andere sehen darin ein unnützes Risiko, weil dadurch auch Keime und Krankheitserreger am Leben bleiben. In Valencia steht auch die Sicherheit von Rohmilch auf der Agenda. Was ist der Stand der Diskussionen?
Werner Georg Kollath, ein deutscher Bakteriologe und Hygieniker, betonte immer wieder den Kernsatz »Das Ganze ist mehr als die Summe der Bestandteile« und daraus ergebend wird in Valencia an einer weiteren Hervorhebung der Vorteile von Rohmilch gearbeitet und ein besonderer Fokus auf Hygiene gelegt. Fakt ist, dass wir beim Konsum von Rohmilch durch die hohe Betriebshygiene auf den Höfen von einem geringen Risiko ausgehen können. Im Jahr 2015 wurden in Deutschland insgesamt 384 lebensmittelbedingte Krankheitsausbrüche gemeldet. Mindestens 2072 Erkrankungen und 224 Hospitalisierungen standen mit den Ausbrüchen in Zusammenhang. Todesfälle sind nicht aufgetreten. Man beachte, dass in Deutschland fast 83 Millionen Menschen leben, trotzdem arbeiten wir weiter am Rohmilchsicherheitssystem. Andererseits wissen wir aus vielen wissenschaftlichen Dokumentationen, dass Rohmilch besonders widerstandsfördernd und körperstärkend wirkt. Die Frage ist bei allen roh genossenen Lebensmitteln gleich zu stellen. Geschichtlich sprechen wir ohnehin erst kurze Zeit von »Rohmilch«, ursprünglich gab es »Milch« und »molkereimäßig behandelte Milch«, der Einfluss der Milchindustrie brachte den Begriffswandel. Die Entscheidungsfrage ist hier: Wollen wir auf immer mehr natürliche Lebensmittel verzichten und damit den Jungbrunnen der Natur außer Kraft setzen und immer mehr der lückenhaften und vermeintlichen Sicherheit folgen?
Schwangeren, Alten, Säuglingen und Kleinkindern sowie Menschen mit geschwächtem Immunsystem wird vom Verzehr von Rohmilchprodukten abgeraten. Ist dieses Schwarz-Weiß-Denken noch zeitgemäß?
»Das Bakterium ist nichts, das Milieu ist alles.« Natürlich werden Risikogruppen abwägen, ob sie mit natürlichen Lebensmitteln versorgt werden können oder besser auf bearbeitete Nahrungsmittel umsteigen sollten. Säuglinge sind klarerweise als solche zu behandeln und alles andere als Muttermilch ist fremd, auch abgekochte oder pasteurisierte Milch von Tieren. Menschen, die dauerhaft Magenschutzmedikamente einnehmen, sollten bei allen rohen Nahrungsmitteln berücksichtigen, dass durch die pH-Wert-Veränderung die bakterielle Wirksamkeit der Magensäure nur mehr eingeschränkt besteht. Schwangere gefährden ihre Gesundheit in gleichem Ausmaß, wenn sie ungewaschenes Obst, rohes Gemüse oder rohes Fleisch essen. Apropos Statistik: Die Statistiken weisen keine Unterschiede in der Gefährdung durch Rohmilchprodukte und pasteurisierte Milchprodukte auf, die Risiken sind nur andere. Wer Angst hat oder ein Risiko in der Konsumtion von Nahrungsmitteln sieht, sollte sich merken: »Wash it or peel it or heat it!«
Es gibt unterschiedliche Risikokulturen. Gibt es Länder, die besonders ängstlich sind im Umgang mit Rohmilch?
Rohmilchverbote gibt es in Europa nicht, jedoch in den USA. Die Rohmilchfreundlichkeit hängt sehr eng mit der entwickelten Milchwirtschaft und der Milchindustrie zusammen. Je größer die Betriebe, desto unüberschaubarer ist das Risiko und je mehr Milchindustrie, desto mehr Gefahren lauern durch die Zulieferung und desto längere Haltbarkeiten muss man garantieren. Österreich und die Schweiz erfreuen sich einer langen Rohmilchtradition, aber auch Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und die osteuropäischen Länder gehören zu den rohmilchbegeisterten Milch- und Käseproduzenten. Vielleicht sollte man hier auch sagen, dass der Rohmilchkonsum geschichtlich kaum in Diskussion war, denn Milch hat man einfach abgekocht oder schonend erhitzt, Sauermilchprodukte und Käse aller Art wurden jedoch aus natürlicher Milch erzeugt und durch die Wirkung der Milchsäurebakterien und Reifezeit war das Risiko gegen null.
Worin liegt denn aus Sicht bäuerlicher Betriebe und Hofkäsereien der besondere Reiz von Rohmilch?
Käse aus Rohmilch kann nur in überschaubaren Einheiten erzeugt werden und daraus ergibt sich, dass diese Art von Milchprodukt dem bäuerlichen Betrieb ein Alleinstellungsmerkmal mit Rinderrasse, Lage, Bodenbeschaffenheit, Pflanzenvielfalt und menschlichen handwerklichen Fähigkeiten verleiht. So können einzigartige, originelle Produkte entstehen. Außerdem besitzt diese Art von Produktion einen großen ökologischen Vorteil auch in Bezug auf den Klimawandel. Das Pasteurisieren und Standardisieren der Milch am Anfang der Produktion würde die Einzigartigkeit der Bakterienflora, Aromastoffe und Vitalstoffe zerstören und damit könnte nur mehr ein Standardprodukt mit Standardbakterienkulturen entstehen. Machen Sie einen Vergleich mit einem Fastfoodlokal und einem Sternelokal: Beides hat seine Berechtigung, der Unterschied ist jedoch auch erkennbar.
Milch ist ein Produkt der Lust auf das Leben, nicht umsonst verdoppelt ein Neugeborenes innerhalb kürzester Zeit sein Gewicht.«
Karl M. Fraißler, Käsesachverständiger
Milch wird selbst in ihrer ultrahocherhitzten und länger haltbaren Form als Naturprodukt vermarktet. Zu Recht?
Ein Sprichwort sagt: »Es ist nicht der Hof, der den Bauern ausmacht – sondern die Liebe, die harte Arbeit und der Charakter!« – so ist es auch mit der Milch!
Direktvermarktung wird vor allem im bäuerlichen Bereich immer wichtiger. Wie groß ist der Rohmilchanteil am gesamteuropäischen Milchmarkt?
Der Anteil bewegt sich je nach Land im einstelligen Prozentbereich. Es ist natürlich leichter und einfacher, Arbeitsteilung zu machen. LandwirtInnen produzieren die Milch und die Molkerei verarbeitet und vermarktet das Produkt. Das europaweite Bauernsterben zeigt aber, dass dies auch nicht die alleinige Lösung des Problems sein kann. Immer mehr Menschen suchen daher nach ursprünglichen bäuerlichen Produkten und viele junge Menschen sehnen sich nach sinnstiftender, erfüllender Arbeit und gehen im Sommer auf Almen zu Vieh und Käsereien oder erwerben einen Bauernhof, um in einem bescheidenen Leben der heute so irrrationalen hektischen Welt zu entkommen.
Erkennt ein Fachmann wie Sie geschmacklich immer, ob ein Käse aus Rohmilch oder aus einem pasteurisierten Grundprodukt hergestellt wurde?
Der Unterschied ist je nach Käseart kleiner oder größer, aber ein Unterschied ist erkennbar. Der Duft, der Geruch des Käses bildet seine Seele, er vermittelt uns ein lebendiges Produkt, das eng mit der Lebenskraft des Käsers oder der Käserin verbunden ist. Das Käseverkaufen hat sehr viel mit persönlicher Bindung an seine Arbeit und Beziehung zu dem mit den Händen geformten Käselaibchen oder Käselaib zu tun. Es klingt irgendwie sehr romantisch, ist jedoch ein Hinweis darauf, dass der Käse erst durch das Handwerk lebendig wird. Diese Verlebendigung beginnt beim Umgang mit den Wiesen, mit dem Futter, mit den Tieren, mit der Milch und endet im Reiferaum und erfordert anschließend entsprechende Achtung dem Produkt gegenüber. Der Duft weckt das Verlangen nach dem Käse, bis wir unwiderstehlich zugreifen und im Mund den vollen Geschmack – durch die Körperwärme und den Speichel aufschließend, mit den Geschmacksknospen erfassend – genießen. Ab jetzt versteht man, warum Rohmilchkäse wirklich anders sein muss.
Die Konferenz endet – das klingt köstlich – mit einer »Raw Milk Cheese European Party«, bei der mehr als 50 europäische Käsesorten und Milchprodukte aus Rohmilch verkostet werden können. Wie können wir uns so eine Party vorstellen?
Die ideale Verbindung ist Käse mit Wein. Käse wie Wein sind ein komplexes Geschenk der Natur, kultiviert durch menschliches Können. Milch kommt aus der geduldigen Kauarbeit unserer Rinder, Schafe und Ziegen, sie geben uns das, weil wir ihnen dafür vieles – wie Fürsorge, Schutz, Zärtlichkeit und Liebe – geben können. Daraus machen wir mit Handwerkskunst wunderbaren Käse. Milch ist ein Produkt der Lust auf das Leben, nicht umsonst verdoppelt ein Neugeborenes innerhalb kürzester Zeit sein Gewicht. Wein ist ein Getränk, das den Menschen aus dem Alltag nimmt und ihn leicht und frei macht. Ich wüsste nicht, was mehr nach einer Party riecht, als Käse mit Wein verheiratet einen Abend lang zu genießen.
1. Internationale Rohmilchkonferenz in Valencia
Im Rahmen der 11. Europäischen Tagung der Hofkäsereien und handwerklichen Milchverarbeiter laden das Farmhouse and Artisan Cheese & Dairy Producers European Network (FACE network) und der Verband für handwerkliche Milchverarbeitung (VHM) vom 23. bis 25. Oktober 2019 zur erstmalig stattfindenden »International Scientific Conference on Raw Milk« nach Valencia (Spanien).