Der Nebendarsteller

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Renaturierung Klein Vaduz – nachher
Bild: HYDRA AG St. Gallen

Vor 20.000 Jahren war das Alpenrheintal noch gefüllt mit Eis. Der daraus entstandene Rhein war lange Protagonist des Landschaftsbildes. Heute ist er ein Nebendarsteller – kanalisiert und kontrolliert. Renaturierungen könnten dies ändern.

Wenn man im Rheintal etwas am schlechtem Wetter schätzt, dann ist es das Nebelmeer. Einige Minuten Autofahrt in die Höhe, und es eröffnet sich eine Aussicht, die ihresgleichen sucht. Ungefähr so hat es im Alpenrheintal vor nicht allzu langer Zeit ausgesehen, als das gesamte Tal nicht mit einer Nebel-, sondern mit einer dicken Gletscherschicht bedeckt und unbewohnbar war. Heute leben rund 50.000 Menschen in drei verschiedenen Ländern im Tal: das Land Vorarlberg, die Schweizer Kantone Graubünden und St. Gallen sowie Liechtenstein.

Bis hierher und nicht weiter

Als die ersten Menschen ins Rheintal zogen, um dort zu leben, war der Rhein noch ein reißender Wildfluss. Unbändig und unberechenbar. Er wurde gefürchtet und trotzdem war er essenziell für Mensch und Natur. Heute erinnert so gut wie nichts mehr an diesen mächtigen Fluss. Ruhig, kanalisiert und berechenbar fließt er seine 90 Kilometer vom Bündnerischen Rheinau bis zu seiner Mündung in den Bodensee bei Hard. Keine Kurve zuviel, die meterhohen Dämme schützen die Umgebung vor Hochwasser. Am westlichen Schweizer Ufer verläuft die Rheintalautobahn nur wenige Meter parallel entlang des Rheins als würde sie sagen wollen: »Bis hierher und nicht weiter«. Was die Alpenrheintaler Vorfahren vor rund 150 Jahren begonnen haben und erst heute sozusagen vollendet ist – nämlich eine Kanalisierung und Beschneidung des Rheins zu ihrer Sicherheit –, findet bereits seit mehreren Jahren Kritiker. Den Diskurs gestartet hatte Franco Schlegel. Er propagierte vor 30 Jahren in einer Nachdiplomarbeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich eine Aufweitung und Renaturierung des Rheins. Ein Appell, der Augen öffnete für ein Leben mit dem Rhein, anstatt nur an seinem Ufer.

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Visualisiert: Der Rhein bei Balzers in Liechtenstein vor (links) und nach der Aufweitung (rechts).
Bild: HYDRA AG St. Gallen

Hochwassersicherheit gewährleistet

Die Vorteile einer Aufweitung des Alpenrheins wären vielseitig. »Aufweitungen können Verbesserungen im Bereich Grundwasser und Gewässerökologie bewirken. Mit Aufweitungen kann Eintiefungsprozessen entgegengewirkt und höhere Sohlenlagen ohne ansteigenden Hochwasserspiegel erreicht werden«, so Urs Walser, Projektleiter beim St. Galler Rheinunternehmen. Die Kantone St. Gallen und Graubünden erarbeiten zurzeit ein Aufweitungsprojekt im Gebiet Maienfeld/Bad Ragaz. Aber gerade die Hochwassersicherheit ist ein Grund, weshalb viele Kritiker ihre Zweifel an einer Aufweitung haben. Urs Walser weiß: »Die Rheintalebene wurde dank dem unentgeltlichen und unermüdlichen Einsatz unserer Vorfahren durch den Bau der Rheindämme erst besiedelbar. Die Hochwassersicherheit hat auch heute erste Priorität und wird entsprechend bei der Projektierung eines Aufweitungsprojektes berücksichtigt. Es wird bei der Aufweitung Maienfeld/Bad Ragaz eine gleiche, respektiv leicht höhere Abflusskapazität angestrebt und somit die Hochwassersicherheit gewährleistet.« Der Rhein muss also nicht vollständig kanalisiert sein, um Hochwasser entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Eine Aufweitung würde ihm mehr Platz geben und die Abflusskapazität in weiten Teilen gar erhöhen.

Naherholungsgebiet Alpenrhein

Weitere Profiteure einer Aufweitung sind Flora und Fauna im und um den Rhein. Sie haben dadurch mehr natürlichen Raum, um sich zu entwickeln. »Eine Aufweitung bringt die Menschen näher zum Rhein. Der Alpenrhein wird erlebbar mit all seinen Facetten. Es bilden sich inselverzweigte Gerinne aus mit Pionierstandorten. Es werden Laichplätze geschaffen für Fische, Amphibien und Reptilien«, so Urs Walser.

Für die Menschen im Alpenrheintal würde eine Ausweitung mehr Platz für ein Leben mit dem Rhein bedeuten. Denn heute wird dieser kaum noch als Naherholungsort genutzt, obwohl er prädestiniert dafür wäre. Andrea Matt, Geschäftsführerin der Liechtensteiner Gesellschaft für Umweltschutz (LGU) setzt da an: »Wo immer es geht, weist die LGU auf die Vorteile der Aufweitungen hin und versucht, die Sehnsucht danach in der Bevölkerung zu wecken.« Denn auch sie weiß: »Der Rhein ist Lebensader und für unser gutes Grundwasser von zentraler Bedeutung. In einem naturnaheren Rhein steckt viel Potenzial im Bereich Hochwasserschutz und Naherholung. Zentral gewinnt auch die Natur.«

Ein Jahrhundertprojekt

Die Argumente für eine Renaturierung und Aufweitung des Alpenrheins sind vielfältig – und trotzdem, es bedürfte eines abermaligen Aufwands von mehreren Jahrzehnten. Gemäß dem Entwicklungskonzept Alpenrhein (EKA), welches von den vier Regierungen der Anrainerstaaten im Jahr 2005 verabschiedet wurde, sind bereits zahlreiche Aufweitungen entlang des Alpenrheins angedacht. Mario F. Broggi, der sich in verschiedenen Positionen seit Jahren für den Naturschutz in den Alpen und in anderen Berggebieten einsetzt, beschreibt das nach wie vor bestehende Hauptproblem so: »Da es sich um ein Jahrhundertprojekt handelt, hat es dieses schwer in einer Welt, die nur in Mandatszeiten denkt.« Der Wille ist da, den Rhein vom Nebendarsteller wieder zu einem ebenbürtigen Mitspieler zu machen. Die Frage ist wohl nur, wer Lust, Geld und Zeit haben wird, die Regie zu übernehmen.

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Mario F. Broggi
Bild: privat

»Die landschaftliche Identität des Tals«

Mario F. Broggi, ehemaliger Präsident der Internationalen Alpenkommission (CIPRA), im Kurzinterview.

BIORAMA: Welche Bedeutung hat die Rheinaufweitung für Sie?

Mario F. Broggi: Für mich ist der Alpenrhein die landschaftliche Identität des Tals, seine Aorta, die wir nicht preisgeben dürfen. Im Gegenteil, wir sollten uns dafür einsetzen, den Alpenrhein, wo immer möglich aus seiner Zwangsjacke zu befreien und ihn zum Biotop und Psychotop werden zu lassen.

Es werden verschiedene Projekte von Rheinkraftwerken in Angriff genommen. Was halten Sie davon?

Der Atomausstieg in der Schweiz und Deutschland führt zur Hysterie bezüglich alternativer Energiesuche. Es werden jegliche Bedenken aus der Sicht des Natur- und Landschaftsschutzes beiseite geschoben und es werden wie wild Quersubventionen und Kosten-Nutzenüberlegungen ad absurdum geführt. Dabei steht auch wieder die Wasserkraft im Fokus. Die Schweiz hat bisher 95 Prozent ihres

Wasserkraftpotenzials auch bereits ausgebaut. Es kann sich also nur mehr um das Auspressen der letzten Tropfen handeln. Der Energieverbrauch verläuft immer noch ungebremst. Würde das Rheinkraftwerk (in Liechtenstein, Anm. d. Red.) gebaut, so würde die Energieproduktion am Rhein den Mehrbedarf der Schweiz von etwa sieben Monaten abdecken – und dann? Große Projekte im Millionen- und  Milliardenbereich haben ihre Lobbys und dies wirkt in den Parlamenten. Einsparen und die Nutzung der Sonnenenergie geschieht dezentral und hat entsprechend eine weniger starke Lobby.

Der Rhein hat früher dauernd riesige Landstriche überschwemmt.

Jedes Gewässer braucht Platz, schon alleine, um die Wasserzurückhaltung zu fördern, auf dass nicht alles sehr schnell nach unten läuft. Inzwischen sind viele Fakten gesetzt, die schwer rückgängig zu machen sind. Für den Mensch bedeutet die Wiederbelebung des Rheins eine Verbesserung der naturnahen Erholung und mehr Hochwassersicherheit. Für die Natur bedeutet sie wieder Raum für die Vielfalt, die Landwirtschaft müsste Boden abgeben (das meiste Massenland ist allerdings heute Wald, vieles vom Landwirtschaft ist im öffentlichen Besitz), sie könnte aber über den ökologischen Ausgleich als Landschaftspfleger eingesetzt werden und davon profitieren.

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