Wieso sind 2016 schon so viele Pottwale in der Nordsee verendet?

Ein Abstecher in die Nordsee endet für Pottwale meist tödlich. Bild: Richard Humphrey, CC BY 2.0

Allein seit Anfang des Jahres sind 28 Pottwale an den Ufern der Nordsee verendet. Wir haben den Walexperten Garrit Graumann nach den Gründen gefragt.

Wie ein Goldfisch im Glas muss sich ein Pottwal vorkommen, wenn er in der Nordsee landet. Nicht nur zu klein, sondern auch viel zu flach ist das Schelfmeer. Im Durchschnitt nur 94 Meter. Durch Klicklaute tauschen sich Pottwale untereinander aus, orten Hindernisse und wissen normalerweise, wo sie lang schwimmen müssen. Dass das nicht immer klappt, hat man schon im 16. Jahrhundert gemerkt. Damals wie heute verenden immer wieder Wale an den südlichen Nordseeküsten:

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Trauriger Anblick – eine Gruppe Pottwale verendet in der Nordsee (Jänner 2015).

Weshalb junge Walbullen auf ihren Streifzügen Richtung Süden oberhalb Schottlands falsch abbiegen und zwischen den britischen Inseln, Dänemark und der deutsch-niederländischen Nordseeküste landen, können auch Wissenschaftler nicht mit Sicherheit sagen. Kommen die Tiere aus Neugier vom rechten Weg ab? Haben Offshore-Gas- und Ölförderung Schuld daran, dass sich die Wale verschwimmen? Knurrte den männlichen Jungtieren einfach nur der Magen? Oder ist es zuletzt die Macht der Sonne? Wir haben derzeit kursierende Theorien zusammengefasst und Garrit Graumann um Rat gefragt.

Biorama: Herr Graumann, Ihr Kollege Klaus Vanselow geht davon aus, dass verstärkte Sonnenaktivitäten das Erdmagnetfeld verändert und damit den Ortungssinn der Pottwale gestört haben. Was halten Sie davon?

Die Annahme, dass eine Störung des Erdmagnetfeldes auch Auswirkungen auf die Wanderrouten der Meeressäuger hat, ist durchaus plausibel. Verstärkte Sonnenaktivität zeigt sich zyklisch etwa alle 11-12 Jahre. Zufälligerweise steigt während diesen Phasen auch die Zahl der Strandungsevents an. In den Körpern einzelner Pottwale und Delphine wurden nämlich Magnetit nachgewiesen. Wissenschaftler glauben, dass das Eisen den Tieren, ähnlich einer Kompassnadel, den Weg weist.

Oder war’s doch der Mensch? Könnten Signale von Bohrkränen und Schiffen die Wale verwirrt haben?

Unterseelärm ist einer der größten Einflussfaktoren auf Meereslebewesen. Schon stürmischer Regen erzeugt aufgrund der akustischen Leitfähigkeit von Wasser auf der Meeresoberfläche einen nicht zu unterschätzenden Lärmpegel. Grundsätzlich wirken sich Unterseebohrungen und vor allem Sprengungen oft irreperabel auf den Gehörsinn der Wale aus. Kommen sie den Turbinen großer Handels- und Kreuzfahrtschiffe zu Nahe, können die Tiere massive Schäden am Innenohr davontragen. Das kann sich auch auf die Orientierung einer ganzen Herde auswirken. Da es sich bei den gestrandeten Pottwalen aber um eine Gruppe von Jungbullen handelt, die nur zeitlich bedingt miteinander schwimmt, halte ich Unterseelärm als Strandungsgrund für unwahrscheinlich. Außerdem konnte auch die Obduktion der Tiere keine Hinweise auf Schädigungen bestimmter Sinne oder Organe liefern.

Das Institut für Ozeanforschung in Kiel und die Aquatische Wildtierforschung Hannover gehen mittlerweile davon aus, dass Meeresstürme die Pottwale auf der Suche nach Beute in die Sackgasse Nordsee trieben. Kann das sein?

Die Untersuchung von Inhalten der Pottwalmägen ergab in der Tat den Nachweis auf Tintenfischarten, die zu den Grundnahrungsmitteln der Wale gehören und nur als Gäste in der Nordsee vorkommen. Es kann daher durchaus sein, dass die Tiere ihrer Nahrungsquelle nachschwommen und dadurch in die flachen Wasser gerieten. Die meisten Walarten sind nur bedingt an Ebbe und Flut gewöhnt. Strandungen sind in diesem Zusammenhang nicht untypisch.

Die Riesensäuger verenden kläglich an den Ufern der Nordsee. Bild: Richard Humphrey, CC BY 2.0

Tierarzt und Walexperte Jan Herrmann denkt, es könne reine Neugierde der Jungbullen auf Neues gewesen sein. In ihrem „jugendlichen Leichtsinn“ würde es immer mal wieder vorkommen, dass sie die falsche Abbiegung nehmen. Was denken Sie, hatten die Wale ein Wahl?

Grundsätzlich kann man eigentlich nicht von einer falschen „Abbiegerichtung“ sprechen, da die Wanderroute gen Süden zunächst stimmt. Vielmehr ist die trichterförmige Erscheinung der Nordsee den Pottwalen zum Verhängnis geworden. Richtung Ärmelkanal wird die Nordsee nämlich zusehends flacher – dabei kann es gut sein, dass die „Rückwärtsorientierung“ der wandernden Wale nicht mehr funktionierte. Weil junge Wale viele Dinge, wie etwa Jagdmethoden oder Sozialverhalten, erst von älteren Tieren erlernen, kann man durchaus annehmen, dass sie sich in ihrer Unwissenheit verschwommen haben. Wissenschaftlich belegt ist eine solche These aber nicht!

Nach mühsamer Zerlegung der Kadaver werden die Walskelette nun präpariert und zu wissenschaftlichen Zwecken weiterverarbeitet. Allerdings waren nicht alle der 28 Pottwale zum Zeitpunkt der Strandung bereits tot. Walrückführaktionen kennen wir vor allem aus Hollywood Blockbustern. „Schieb’ den Wal zurück ins Meer“ – wäre so etwas bei tonnenschwere Pottwalen überhaupt denkbar? Könnte man die Tiere, bliebe genügend Zeit, zurück in den Atlantik bringen?

So etwas halte ich für unmöglich. Noch lebende Pottwale sterben bei Strandungen binnen weniger Stunden, da ihr Eigengewicht die inneren Organe zerquetscht und durch den enormen Druck das Blutsystem unterbrochen wird. Solche Faktoren sind irreperabel und würden bei überlebenden Tieren vermutlich zu derart starken Einschränkungen führen, dass die Wale früher oder später ohnehin verenden.

Zudem spielt der Stressfaktor eines solchen erdachten Transportes eine erhebliche Rolle. Eine diatechnische Umsetzung würde die Tiere unter Umständen wiederum in ihrem Orientierungssinn beeinflussen und zu erneuten Strandungen führen. Dies ist übrigens auch der Grund, weshalb in Gefangenschaft gehaltene oder auch gezüchtete Meeressäuger sich nicht wieder auswildern lassen.

Garrit Graumann M.Ed. ist Zoologe an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist außerdem am Zoologischen Museums der CAU tätig und hat das Projekt „Vielfalt auf Augenhöhe“, das Kindern und Jugendlichen die Welt der Wale näherbringen soll, ins Leben gerufen.

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