Der Whistleblower

Bild: Michèle Pauty

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Mit seinen Büchern – beide Aufreger wie Bestseller – hat der Biologe Clemens G. Arvay Bewegung in die Bio-Branche gebracht. Wer ist der Mann, der sich mit Edward Snowden solidarisch erklärt und sich mit Geflügelzüchtern und der »Bio-Industrie« angelegt hat?

Vielleicht werde ich das Schinkenbrot bestellen«, überlegt er laut, während wir beide die Speisekarte studieren. Das ist bemerkenswert. Denn nichts auf der Karte ist bio – und Clemens G. Arvay immerhin der vielleicht gnadenloseste Bio-Propagandist des Landes. »Wie handhabst du das, wenn du wo essen gehst, wo kein Bio angeboten wird?«, fragt er mich. »Isst du dann prinzipiell kein Fleisch?« – Eher nicht. Also nicht prinzipiell keines, nein, antworte ich, leicht irritiert. Ausnahmen gibt es, ganz wenige, aber es gibt sie. Also auch bei Arvay. Ganz ehrlich: Das hätte ich nicht erwartet.

Eigentlich hätte er eine andere Buschenschank bevorzugt. Weil die geschlossen war, sind wir mit seinem alten Opel Frontera, einem Pick-up, durch die Weinberge gebrettert. Haben wir bei dem von ihm gepachteten Acker Halt gemacht: einem ehemaligen Weingarten, dem er heuer eine Saison Brache gönnt, damit sich der Boden erholt und die Humusschicht regeneriert, damit nach dem Winter die Kürbisse, Zucchinis und Paradeiser gedeihen. Schließlich haben wir etwas abseits von Bildein, der kleinen Ortschaft, in der sich Arvay im Stockwerk eines Zinshauses eingemietet hat, einen Heurigen gefunden, bei dem »ausg‘steckt is«. Die Sonne verschwindet hinter den Hecken, wir beißen in belegte Brote, trinken sauren Most und irgendwo ganz in der Nähe sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Schinkenbrot hat Arvay doch keines bestellt. Obwohl der Bauer in der Karte ausgewiesen hat, dass alles Fleisch aus eigener Landwirtschaft stammt, die Tiere ganz in der Gegend geschlachtet werden und auch die Futtermittel weitestgehend selbst angebaut werden. Nein, bio ist das natürlich nicht. Aber: »Selbst produzierte Futtermittel und eine Schlachtung in der Nähe sind nicht einmal in der Bio-Landwirtschaft vorgeschrieben«, betont Arvay. Konventionelle Bio-Produkte sind da oft bedenklicher, soll das heißen.

Ansichten eines Insiders

Ginge es nach ihm, dann wäre das ohnehin anders. Arvay ist davon überzeugt, dass der moderne, oftmals längst industriell betriebene Bio-Landbau die Bewegung ausgehöhlt und die Absichten der Öko-Altvorderen pervertiert haben. In seinen beiden Büchern »Der große Bio-Schmäh« (2012) und »Friss oder stirb« (2013) kritisiert er nicht nur die verschleiernden Praktiken der großen Produzenten. Er prangert darin auch die Handelskonzerne (Rewe, Hofer, Spar) und die Praxis hinter deren Eigenmarken (Ja! Natürlich, Zurück zum Ursprung, Natur pur) an. Industriell bewirtschaftete Anbauflächen, Massentierhaltung oder der durchaus problematische Einsatz von schlecht bezahlten, osteuropäischen Erntehelfern lassen sich beim großflächigen Biolandbau nicht leugnen. Dass in der Vermarktung der dabei entstandenen Produkte ein Bauernidyll von anno dazumals weichgezeichnet wird, ist zwar fragwürdig, aber auch bei konventioneller Ware üblich – und einer der Hauptangriffspunkte des investigativ arbeitenden Autors. Seine kompromisslose Kritik hat Arvays Arbeit glühende Befürworter wie Widersacher eingebracht. »Akribisch und kunstvoll seziert Clemens G. Arvay die industrielle Landwirtschaft, die in grüner Gestalt auftritt«, äußerte sich etwa Wilfried Huismann, dreifacher Grimme-Preisträger und Autors des »Schwarzbuch WWF«. Auch Karoline M. Jezik, die Leiterin der Abteilung Gartenbau an der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku) sieht wie Arvay »die eigentlichen Ansprüche der Bio-Landwirtschaft durch Konzerninteressen gefährdet«. Dennoch bleibt als Faktum: Ihren hoch entwickelten Bio-Markt verdanken die Österreicher zu einem nicht unbeträchtlichen Teil dem Umstand, dass die großen Handelsketten Bio als lukratives und ihrem Image zuträgliches Marktsegment entdeckt und sich ernsthaft engagiert haben. Dass jeder fünfte Bauer in Österreich heute biologisch wirtschaftet, wäre ohne die von Arvay angefeindete Bio-Industrie kaum denkbar.

Bild: Michèle Pauty

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Gar nicht wenige kleine Biobauern und Produzenten sehen in Arvay dennoch einen Mitstreiter. Auch wenn keine seiner Enthüllungen wirklich neu ist: Seine Schilderungen von Geflügelfarmen und die Reportagen aus Schlachthöfen wirken auch durchaus überzeugend. Mich haben sie dazu gebracht, im Supermarkt gar kein Geflügel und auch Schweine- oder Rindfleisch nur mehr in Ausnahmefällen zu kaufen. Und ich werde nicht der einzige sein. 14.000 Mal hat sich »Der große Bio-Schmäh« bislang verkauft. Die Fortsetzung »Friss oder stirb« hält bei bereits knapp 10.000 Exemplaren.

Vieles, das Arvay anprangert, fordert dennoch zum Widerspruch heraus. »Seine Kritik an der Bio-Landwirtschaft fußt meist weniger auf Fakten als auf nicht erfüllten persönlichen Erwartungshaltungen. Was die Bio-Landwirtschaft leistet und garantiert, steht in der EU-Bio-Verordnung und nicht im sozialromantischen Klischeebilderbuch«, meint Reinhard Gessl vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau. Dennoch schaffe er es »mit seinem Krawalljournalismus punktgenau, jene Bereiche offenzulegen, die die Bio-Landwirtschaft medial gerne umschifft. Die Bio-Landwirtschaft arbeitet auch ohne Herrn Arvay an der Lösung der Schwachstellen.« Vielleicht versöhnlich gemeinter Nachsatz: »Womöglich beschleunigt die Offenlegung ein wenig die Umsetzung«. Arvay selbst, der vor seinem Biologiestudium eine Buchbinderlehre abgeschlossen hat, sieht sich in der Tradition des investigativen Journalismus und sieht in Aufdeckern und »Whistleblowern« wie Edward Snowden Gleichgesinnte. »Menschen, die nach ethischen Grundsätzen handeln, werden kontrolliert und kriminalisiert, weil sie den ökonomischen und politischen Verschleierungstaktiken entgegenarbeiten. Wir haben aber einen gesellschaftlichen Entwicklungsauftrag.«

Bild: Michèle Pauty

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Der Aufdecker als Aktivist

Dass Arvay in den wunden Punkten des Bio-Booms bohrt, steht außer Frage. Ob seine Lösungsvorschläge – eine kleinstrukturierte Bio-Landwirtschaft, lokale Strukturen und eine weitestmögliche Abkehr vom Prinzip Supermarkt – allerdings fürs 21. Jahrhundert taugen oder ob aus ihnen ein reaktionärer Romantiker spricht, bleibt umstritten. Wenn Arvay betont, dass er bei aller Kritik an der Massentierhaltung niemals von »Tier-KZs« sprechen würde und auch niemals auf den Einsatz von Traktoren verzichten wollte, dann zeigt das zwar, in welchem Dunstkreis er sich bewegt. Allerdings auch, dass er eben doch nicht der »Fundi« ist, der er manchmal zu sein scheint. Dennoch macht er es seinen Kritikern manchmal leicht, wenn er nicht nur als Autor, sondern auch als Aktivist auftritt – etwa auf den Facebook-Seiten der großen Handelskonzerne. Einen an der Grenze zum Aktionismus agierenden »Troll« kann man einfacher als weltfremden Spinner abtun als sachlich vorgetragene Kritik.

Bild: Lukas Beck

Sagen gemeinsam »Leb wohl, Schlaraffenland«: Das Buch von Roland Düringer und Clemens G. Arvay widmet sich dem »Rückzug aus dem System«. Es erscheint im November.
Bild: Lukas Beck

Seine Recherchen im weit verzweigten Bio-Universum haben jedenfalls nicht nur für Aufruhr in der Biobranche, sondern bei dem 33-Jährigen auch für ein Umdenken gesorgt. »Seit ich mit 13 das Buch »Tiere als Ware« gelesen habe, bin ich Vegetarier, meist ernähre ich mich sogar rein pflanzlich. Mein Vegetarismus weicht sich allerdings auf, seit ich bei meinen Recherchen viele Biobauern getroffen habe, die wirklich artgemäße Tierhaltung betreiben«, erzählt er. Sollte sich sein eigener Lebensstil etwas weiter »settlen« und er in absehbarer Zeit weniger reisen, dann reizt ihn auch die Haltung von Altsteirer oder Sulmtaler Hühnern. Dass ihn an diesen alten, sogenannten »Zweinutzungsrassen« neben den Eiern auch ihr Fleisch interessiert, daran lässt er keinen Zweifel. Im Supermarkt wird man ihn aber auch künftig nur treffen, wenn er seinen Lieblingswein, einen ungarischen Muskat-Ottonel kauft. Der kommt zwar aus der Gegend, aber zu bekommen ist er dennoch nur im Supermarkt. Unnötige Kilometer möchte er mit seinem Diesel-Geländewagen – »Ein wunder Punkt, ich sollte längst auf altes Speiseöl als Treibstoff umgestiegen sein« – vermeiden. Nach Graz, wo er am FH Joanneum ökologische Landwirtschaft unterrichtet, pendelt er mit der Bahn. Nur seine Felder und den Aussteiger und Kabarettisten Roland Düringer, mit dem er zum Zeitpunkt unseres Treffens gerade am gemeinsamen Gesprächsband »Leb wohl, Schlaraffenland« arbeitet, der im November als Buch erscheinen soll, besucht er motorisiert. Um Bio geht es in diesen Gesprächen nur ganz am Rande, sondern um einen »Rückzug aus dem System«, so der ursprüngliche Arbeitstitel.

Rückzugsgefechte aus dem System

Ganz innerhalb des Systems bewegt sich die Produktion der Bücher und bewegen sich auch die Verlage, bei denen sie erscheinen. Sein Debüt – eine Publikation über Fruchtgemüse – gab der unerfahrene Biologieabsolvent vor Jahren im rechtskonservativen Grazer Stocker Verlag. »Der große Bio-Schmäh« erschien bei Ueberreuter, »Friss oder Stirb« bei Ecowin – ein auf Bestseller ausgerichteter Verlag, der mittlerweile vom Medienimperium des Red Bull-Gründers Dietrich Mateschitz geschluckt wurde. Die Gespräche mit Düringer bringt nun die dem Populismus nicht abgeneigte Edition a auf den Buchmarkt. »Natürlich sind alle meine Bücher industriell hergestellt«, gesteht Arvay, während er sich – mit abbaubaren ocb-Bio-Filtern – eine Zigarette dreht. Er weiß natürlich, dass alles andere unter Liebhaberei fallen würde. »Aber«, schwärmt er mit den leuchtenden Augen des gelernten Buchbinders und nimmt einen tiefen Zug, »irgendwann möchte ich eines meiner Bücher selbst drucken und binden«. Man wird ja noch träumen dürfen.  

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