Palmen statt Kiefern im Ökodorf Sieben Linden
Während meines Mitarbeitsaufenthalts in Sieben Linden erlebe ich viele Facetten des Ökodorfes: Dunkle Nächte im Wald, Kompost-Toiletten und neue Sozialmodelle, wie vier Eltern für ein Kind.
Das Ökodorf Sieben Linden, ein 140-Seelen-Dorf, befindet sich in der Altmark zwischen Bremen und Berlin. Seit 1999 entstanden auf acht Hektar Bauland neun Wohnhäuser, ein Seminarzentrum, eine Holzwerkstatt und ein Pferdestall. Drei Hektar Garten ermöglichen eine 70-prozentige Selbstversorgung. Das Dorf setzt auf natürliche Kreisläufe und Ressourcenschonung: es verfügt über eine Pflanzenkläranlage, Trockentoiletten und Strohballenhäuser.
Beschaulich ist das Leben im Ökodorf nicht. Die Hängematten schwingen einsam im Wind, während die Tage der Bewohnerinnen und Bewohner mit Aktivitäten ausgefüllt sind: Die Mutter und Studentin Johanna tippt abwechselnd Interviews für ihre Diplomarbeit und versorgt ihr Baby, während die Workshop-Leiterinnen der Junge-Leute-Woche (JULE), einem Jugend-Camp, sich mit den Teilnehmerinnen im Metallschweißen üben. Das Redaktionsteam arbeitet inzwischen an einer neuen Ausgabe des Eurotopiaverzeichnisses, einem Verzeichnis von Ökodörfern und Gemeinschaften in ganz Europa, das im Jahr 1996 zum ersten Mal erschien. Ich sitze im Martinelly, dem Bauwagen des Eurotopia-Herausgebers und Filmemachers Michael Würfel und bearbeite Datenbankeinträge und Übersetzungen, auf dem Laptop – samt Internet, versteht sich.
Trotz gut organisiertem Tagesprogramm, Alltag und Routine ist das Leben im Ökodorf anders als „draußen“. Für Menschen, die zu Besuch nach Sieben Linden kommen, mag der erste Eindruck unerwartet sein: Die Menschen wirken anfänglich distanziert und verschlossen. Diese Erfahrung mache ich, als ich mich voller Begeisterung im Informationsbüro als Mitarbeitsgast vorstelle – und dort kaum registriert werde. Auf den zweiten Blick erschließt sich das Warum: Ständig befinden sich Seminar- und Mitarbeitsgäste im Dorf und das Gemeinschaftsleben der Bewohnerinnen und Bewohner ist intensiv. Neben den anfallenden Gemeinschaftsaufgaben, wie putzen, kochen, die Bar oder Bibliothek betreuen und die Sauna anheizen, leben die Dorfbewohner in Gruppen und pflegen einen intensiven Austausch miteinander in Gesprächskreisen oder bei Versammlungen, wenn Entscheidungen anstehen. Es ist wohl ein Schutzmechanismus vor der sozialen Überdosis.
Die Erfahrung des „Draußen“ erschließt sich mir intensiv und überraschend, als ich nach Tagen im Dorf beim Joggen die Asphaltstraße erreiche, eine magische Grenze, die sich fast störend in die Landschaft drängt. Ich habe mich schnell an die Wald- und Schotterwege gewöhnt, das Rauchen in der Raucherecke oder das Telefonieren mit dem Handy außerhalb des Dorfes, beim Autoparkplatz zum Beispiel.
Gemeinsam und authentisch leben
Arbeit macht hungrig, und weil das so ist, starten wir um die Mittagszeit ins „Regio-Haus“. Nirgends erfährt man die Toleranz in Sieben Linden besser als beim Essen im Gemeinschaftshaus. Nachdem sich alle im Kreis um die großen Töpfe an den Händen haltend versammelt haben und den Worten der Köche lauschen, langen alle kräftig zu. Die einen vegan, die anderen vegetarisch und Darky gesteht ganz ungeniert: „Ein saftiges Steak wäre mir schon manchmal lieber.“ Während die einen beten, halten andere inne und Dritte essen derweilen darauf los. In Sieben Linden dürfen alle sein, wie sie sind.
Dorf-Erkundungen
Nach einem gemeinsamen Filmabend mit den „jungen Leuten“ aus dem JULE-Camp überfällt mich das dringende Verlangen, die ausufernden Kiefern aus der Nähe zu betrachten, von denen Henning Müller, im Dokumentarfilm über das Dorf schwärmt, die so beruhigend auf ihn wirken: „Das ist meine Karibik. Sieht aus wie Palmen.“ Ich jogge über den weichen Waldboden, vorbei an riesigen Ameisenhügeln und Holzstößen und sauge die sommerliche Mai-Luft in meine Lungen. In einen schützenden Hochstand geklettert, trotze ich einem Sommerschauer.
Von hier aus sehe ich sie, die Kiefer-Palmen, die für mich nun das Symbol des Ökodorfes sind. Ich sage den Pferden in ihrem Freiluftstall hallo, und laufe von den Koppeln aus den Hügel hinunter ins Dorf. Am Bade- und Löschteich halte ich die Füße ins Wasser, hinter der Jurte im „Globolo“, einem Landschaftskunstwerk aus Ästen und einem bepflanzten Wandelgang, mache ich ein paar Yoga-Übungen. Ich spüre das feuchte Gras zwischen den Zehen und bin ganz im Einklang mit der Welt.
Wohnen in Sieben Linden
Von den zahlreichen Kleingruppen, die in verschiedenen Wohneinheiten, wie dem 2-stöckigen Strohballenhaus, dem Haus „Windrose“ oder der Nachbarschaft „Libelle“ (Passiv-Haus) wohnen, habe ich nur die „Bande“ etwas näher kennengelernt. Sechs Erwachsene und ein Kind. Alle leben ihr eigenes Leben, Micha im Bauwagen mit Presseteams, Filmkamera und Eurotopia, oder Jörg, der Rohkostesser und Betreiber eines Wildkräuterversands gleich nebenan. Vier von ihnen teilen sich die Elternrolle für das Kind, so dass auch die „echten“ Eltern ihren Berufen nachgehen können. Es ist interessant, wie schnell man in eine Gemeinschaft hineinwachsen kann. Schon nach ein paar Tagen fühle ich mich gut integriert und gemeinschaftsfähig. Im Badehaus heize ich den Ofen an, in einer Stunde haben wir alle warmes Wasser zum Duschen.
Arbeit und Einkommen
Die Bande bewohnt das ehrwürdige Haus der Nachbarschaft „Club 99“, der radikalsten Gruppe im Ökodorf. Circa 10.000 – 12.000 Arbeitsstunden steckten die Mitglieder des Club 99 in den Bau des Hauses, das je nach Angaben zwischen 5.000 und 20.000 Euro an Baumaterial kostete und ohne den Einsatz von Maschinen gebaut wurde. „Wir wollten eine Lösung, die niemanden ausbeutet, keinen Müll hinterlässt, sozial verträglich ist und die Menschen der Dritten Welt einbezieht“ so Martin Stengel aus dem Projekt. Seither hat sich viel getan und auch der Club 99 ist weniger radikal geworden, hat sich 2011 sogar aufgelöst. Ganz ohne Maschinen hätten die Bewohner keine Zeit sich um andere Dinge, wie z.B. ihr Einkommen zu kümmern.
Die Berufe in Sieben Linden sind vielfältig. Einige arbeiten im Dorf, betreuen Küche und Garten oder schaukeln den Seminarbetrieb, andere gründeten Kleinunternehmen und wieder andere arbeiten als Ärztinnen oder Pädagoginnen in den Dörfern der Umgebung. Die Allerkleinsten verbringen die Vormittage bei jedem Wetter im Waldkindergarten, die Grundschülerinnen gehen in die „Freie Schule Altmark“ die Größeren ins Gymnasium im sechs Kilometer entfernten Beetzendorf.
Die Nacht im Ökodorf
Es ist dunkel geworden, als ich die „Transzendier-Bar“ wieder verlasse. Zweimal die Woche ist sie geöffnet und ich treffe bekannte Gesichter: Felix, der leidenschaftliche Gärtner, der nach seinem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) in Sieben Linden seine Lehre absolviert und Guizy, der jetzt hinterm Tresen steht und Getränke ausschenkt. Die Zeit ist schnell vergangen beim gemeinsamen Tischfußballspielen und ausgelassenen Tanzen auf dem schönen Parkett. Als ich den Pfad Richtung Bauwagen einschlage sehe ich nichts. Im Stockdunklen tappe ich zurück zum Martinelly. Wo ist bloß der kleine Steinbuddha, der mir tagsüber immer den richtigen Weg wies? Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und intuitiv finde ich den Weg zurück. Die Stille der Nacht ist betörend und wohltuend. Außer ein paar Grillen und aufgeschreckten Vögeln, meinen Schritten am Boden und der knarrenden Türe des Bauwagens höre ich nichts. Von meinem Nachtlager aus blicke ich durchs Fenster in die Sterne, die zahllos über mir funkeln. So tief und erholsam habe ich schon lange nicht mehr geschlafen wie hier in Sieben Linden.
www.siebenlinden.de
www.eurotopia.de
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