Problem Nummer 1:

Wer sagt mir, was ein nachhaltiges Produkt ist? 

Illustration von Getränkeverpackungen mit einer erfundenen Nachhaltigkeistkennzeichnung im Ampelsystem.
Bild: biorama, Istock.com_art alex.

Die Auswirkungen eines Produkts auf die Umwelt sind 73% der Befragten einer im September 2023 in den 27 EU-Mitgliedsstaaten durchgeführten Eurobarometer-Umfrage »eher wichtig« oder »sehr wichtig«, wenn sie eine Kaufentscheidung treffen. 
So weit die Theorie. Wer nun beim alltäglichen Einkauf Produkte meiden will, für deren Herstellung Menschen ausgebeutet und die Umwelt unverhältnismäßig stark belastet wurde, muss über viel Wissen und noch mehr Zeit verfügen. 
Besonders bei Lebensmitteln kommt man mit den Prinzipien, möglichst regional Produziertes in Bioqualität zu kaufen, wenn es im Freiland Saison hat oder aus Lagerbeständen verfügbar ist, und dabei den Konsum von Fleisch-und Milchprodukten auf ein Minimum zu reduzieren, schon recht weit. Erstens aber nicht weit genug – denn wie viele Menschen können oben Genanntes schon konsequent einhalten? Zweitens braucht auch das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit dieses Mixes an Kriterien Unterfütterung durch glaubwürdige Aussagen. 

Aber wie passt das zusammen? 

Dass man auch mit so manchem Biogemüse im wortwörtlichen Sinn zur Verwüstung des Planeten beitragen, mit dem fair gehandelten Kaffee dem Biodiversitätsverlust Vorschub leisten kann und dass im Supermarkt ausgerechnet die Biogurken oft die in Plastik verpackten sind, ist dabei nicht immer einfach zu akzeptieren. Gleichzeitig gibt es daneben »klimaneutrale«, »faire« und »bienenfreundliche« Produkte und sogar solche mit Verpackung aus 100% Recyclingmaterial.
Welchem Nachhaltigkeitsziel ist der Vorrang zu geben? Die Antwort ist nicht nur Frage der individuellen Präferenzen, sondern wird auch durch eine Menge substanzloser oder unverstständlicher Slogans verkompliziert. Im Jahr 2022 identifizierte ein von der EU-Kommission in Auftrag gegebener Report zur Frage, was einen effektiven und aktiven Beitrag der VebraucherInnen zur ökologischen Wende behindert, ein »Problem 1«. Es lautet: »KonsumentInnen fehlt verlässliche Information zum Zeitpunkt der Kaufentscheidung, um ökologisch nachhaltige Konsumentscheidungen zu treffen.« Und diese Informationen fehlten nicht von ungefähr: Für den Bericht wurde unter anderem mittels Stichprobe erhoben, dass 53% der Nachhaltigkeitsversprechen auf Produkten aus »vagen, irreführenden oder unbegründeten Aussagen« bestehen. »Irreführende Werbepraktiken im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit eines Produkts« seien das zweite zentrale Problem. Insgesamt wurden 40 % der untersuchten Behauptungen nicht evidenzbasiert getroffen.

Woher auf einmal?

Der Green Deal hat (im Jahr 2019) der Relevanz des Ernährungssektors zur Erreichung der Klimaziele vor allem in Form der »Farm-to-Fork«-Strategie Rechnung getragen. Zur Umsetzung dieser Strategie wurden in den vergangenen Jahren einige Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht, manche davon sind inzwischen geltendes Recht, andere gescheitert, einige sind noch in Aushandlung. 
Weil das generelle Konsumverhalten der VerbraucherInnen als Problem auf dem Weg zur Erfüllung der europäischen Klimaziele und Kreislaufwirtschaftsziele erkannt wurde – wurden Maßnahmen gesucht,  die notwendigen Änderungen im VerbraucherInnenverhalten zu erleichtern. Wenn die Wende zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem schon maßgeblich auf den Schultern jener VerbraucherInnen liegt, die versuchen, bei jeder Kaufentscheidung die ökologischen Konsequenzen zu antizipieren, dann sollten die Informationen, die die Basis für diese Entscheidungen bilden, verfügbar, verständlich und korrekt sein. Ausgehend von der EU-Kommission wird also an mehreren Richtlinien gearbeitet, die für eine in diesem Sinn verbesserte Informationsgrundlage sorgen sollen.

Wann sehen wir Veränderungen auf den Produkten?

Eine der zentralen Initiativen in diesem Kontext besteht aus drei Rechtsinstrumenten, die gemeinsam zum Ziel haben, Greenwashing zu verhindern – zumindest Teile davon werden voraussichtlich in den kommenden Wochen als erneuerte Richtlinie veröffentlicht und müssen dann binnen zwei Jahren von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Die Green Claims Richtlinie hingegen wird noch verhandelt. 
Sollten allerdings die Vorschläge in etwa so in Kraft treten, wie sie derzeit verfasst sind, würden sie festlegen, dass Produkte nur mehr mit sogenannten freiwilligen Umweltaussagen beworben werden dürfen, wenn die Herstellerunternehmen diese auch belegen können: 
Als Beispiele werden Aussagen genannt wie »klimaneutraler Versand«, »Verpackung zu 30 Prozent aus recyceltem Kunststoff« oder »ozeanfreundlicher Sonnenschutz«. Wobei der Beleg zur Untermauerung dieser Claims nicht nach Aufforderung geliefert werden muss – sondern für die VerbraucherInnen zugänglich gemacht werden muss. Etwa über einen Link oder einen QR-Code auf dem Produkt, die zu den Produktinformationen auf einer Webseite führen.
Die Anforderungen der Richtlinie gehen hier weit – sowohl die Zugänglichkeit, aber auch deren Umfang und Tiefe betreffend: Vorgesehen ist etwa auch eine »kurze Erläuterung, wie die Verbesserungen, die Gegenstand der Aussage sind, erreicht werden«. Wenn beispielsweise künftig ein Produkt mit Aussagen beworben wird, die sich sich auf kompensierte Treibhausgasemissionen beziehen, müsste offengelegt werden, in welchem Umfang sich die Aussagen auf Kompensationen stützen und ob diese auf Emissionsminderungen oder Entnahmen von Treibhausgasen zurückzuführen sind. Das sind nur Ausschnitte aus den Entwürfen – doch sie geben Anlass zur Hoffnung, dass sich etwas bewegt. 
Auch ein Entwurf etwa für eine europaweit einheitliche  Nachhaltigkeitskennzeichnung von Lebensmitteln liegt bereits da – derzeit ist völlig offen, ob, wann und in welcher Form sie eingeführt wird. Die Diskussion über die Ausgestaltung hat jedoch längst begonnen – und schlägt sich schon auf den Produktverpackungen nieder.

BIORAMA #89

Dieser Artikel ist im BIORAMA #89 erschienen

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