Bewusstseinsbildung und Entsorgungsgebühren

Lebensmittelfokus_Haiderer

„Fünf Minuten vor 18 Uhr ist das Brot ein erstrebenswertes und teures Produkt. Fünf Minuten nach 18 Uhr ist es Müll.“ Der zweite Teil des BIORAMA Lebensmittel-Fokus widmet sich der Wiener Tafel. Der Obmann Martin Haiderer spricht mit BIORAMA über den Sozialverein und die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer, ohne die es die Wiener Tafel nicht gäbe. Die Potenziale sind noch groß, denn die Armut nagt heute auch am Mittelstand und es ist allgemein bekannt, dass viel zu viele Lebensmittel im Müll landen. Laufend  wachsen die Anforderungen an die Wiener Tafel und man ist froh um jede weitere helfende Hand.

 

BIORAMA: Was ist das Konzept der Wiener Tafel und wie viele Menschen sind involviert?

Martin Haiderer: Die Wiener Tafel ist ein spendenfinanzierter Umwelt- und Sozialverein. Wir sammeln Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs dort ein, wo sie übrig bleiben und geben sie an armutsbetroffene Menschen ab. Dadurch entsteht ein dreifacher Nutzen: Die Umwelt wird durch Ressourcenschonung entlastet, die Unternehmen sparen Entsorgungskosten und tun etwas für ihr Image und Menschen mit keinem oder geringem Einkommen können sich vielseitig ernähren. Ungefähr 400 Helfer sind im Einsatz, alle arbeiten ehrenamtlich in ihrer Freizeit mit. Mittlerweile haben wir aber auch neun Teilzeitkräfte um die logistischen Aufgaben zu bewältigen.

Von rund 120 Spendern aus Industrie, Handel und Landwirtschaft werden sechs Tage die Woche rund 85 anerkannte Sozialeinrichtungen wie Flüchtlingsherbergen, Obdachlosenasyle und Mutter-Kind-Heime in Wien und im Umland versorgt. Wir verkochen die Lebensmittel nicht selbst sondern geben sie an diese Einrichtungen weiter, da diese auch mit den betroffenen Menschen zusammenarbeiten um sie zu fördern und ihre Situation zu verbessern. Zum Beispiel bei Umschuldungen, Integration und Arbeitsplatzsuche erhalten sie Unterstützung. Das ist ein wichtiger Unterschied zu vielen anderen Initiativen, die zum Beispiel einfach Lebensmittelpakete verteilen. Wir wollen die Situation der Betroffenen langfristig verbessern.

 

Wer wird durch die Wiener Tafel versorgt und wer nicht?

In Österreich leben rund eine Million Menschen an oder unter der monetären Armutsgrenze von 1.066  Euro verfügbarem Einkommen pro Monat. Das entspricht etwas mehr als 12 % der Bevölkerung. Für Wien liegt diese Quote bei rund 15 % und ist damit die höchste im gesamten Bundesgebiet.

Im Gegensatz zu anderen Initiativen, wie zum Beispiel den Sozialmärkten, hat sich die Wiener Tafel auf die Versorgung manifest armer Menschen fokussiert. Diese liegt laut EU dann vor, wenn neben der Einkommensarmut weitere Deprivationsfaktoren hinzukommen, das sind zum Beispiel eine schlechte Wohnsituation, keine Möglichkeit Gäste einzuladen, unzureichende Ernährung, kein Besitz erstrebenswerter Güter wie Telefon und TV und so weiter. Ein Großteil der Menschen, die Lebensmittelspenden der Wiener Tafel empfangen, liegt mit seinem Einkommen beträchtlich unter dieser monetären Armutsgrenze, viele beziehen gar keines. Über 14.000 Menschen in manifester Armut werden von der Wiener Tafel bedarfsgerecht versorgt.

 

Wie ist die Gesetzeslage zur Weitergabe von übrig gebliebenen Lebensmitteln?

Wir agieren im rechtlich korrekten Raum. Was uns nicht nur rechtlich sondern auch moralisch wichtig ist: Wir nehmen keine Produkte, wo das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Die Menschen sollen nicht als „Personen zweiter Klasse“, sondern genauso gut versorgt werden wie jeder andere. Andere Sozialeinrichtungen tun das nicht, da das Mindesthaltbarkeitsdatum im Grunde genommen noch nichts über die Genießbarkeit eines Produkts aussagt.

Generell dürfen alle Produzenten und Händler Produkte weitergeben. Wer diese Spende abgibt, kann das sogar von der Steuer absetzen. Was nicht weitergegeben werden kann sind Produkte, die verkocht und aufgetischt worden sind. Wenn die Produkte aus der Kühlkette genommen wurden gibt es einfach eine zu große Gefahr der Keim- und Salmonellen-Belastung.

Ein Argument der Unternehmen, die nicht kooperieren wollen, ist oft, dass sie keine Haftung übernehmen wollen, wenn die Ware schadhaft ist. In Wirklichkeit ist aber der In-Umlauf-Bringer verantwortlich. Das heißt, wenn die Wiener Tafel Ware weitergibt, dann wird sie auch zur Rechenschaft gezogen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

 

Es gibt viele Organisationen, die als „Tafeln“ Armen helfen wollen. Ihr wollt euch jedoch von einigen anderen Initiativen dieser Art deutlich abgrenzen. Warum?

Die Wiener Tafel ist die erste und älteste Tafelorganisation in Österreich. Sie ist 1999 als Verein anerkannt worden. Wir haben hohe Qualitätsstandards. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir nur anerkannte Sozialeinrichtungen beliefern und keine Produkte annehmen, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum schon abgelaufen ist. Bei der Wiener Tafel können wir bei jedem einzelnen Produkt über die gesamte Kette – also vom Warenspender bis zum Letztverbraucher – nachvollziehen und kontrollieren, dass der Einsatz der Waren auch bedarfsgerecht erfolgt ist. Auch die Unterstützung der Menschen in anderen Lebensbereichen, um ihre Situation langfristig zu verbessern, ist wichtig für uns.

Wir sehen es kritisch, wenn Organisationen den eingetragenen Markennamen „Tafel“ widerrechtlich verwenden und sich dabei nicht an die Qualitätsstandards halten, die wir gesetzt haben. Wir könnten natürlich rechtlich gegen diese Organisationen vorgehen, doch das liegt uns fern – wir haben ja im Grunde genommen ein gemeinsames Anliegen. Es ist aber bedauerlich, wenn die Qualitätskriterien verwischt werden, da das der gesamten Bewegung und ihrem Image schaden kann.

 

Mit welchen Organisationen arbeitet die Wiener Tafel gut zusammen und wo gibt es noch Potentiale?

Wir arbeiten mit der lebensmittelerzeugenden und -verarbeitenden Industrie, Handelsketten und Märkten. Das Netz ist dicht, wir haben zum Beispiel Kooperationen mit großen Handelsketten, allerdings hängt es immer vom Engagement der Filialleiter ab, was wir wirklich gespendet bekommen, auch wenn sich die Vorstandsebene dafür ausgesprochen hat.

Viele große Unternehmen, gerade Diskonter, arbeiten leider nicht mit uns zusammen. Das hat, denke ich, marktstrategische Gründe. Manche fürchten einen Mehraufwand, oder, dass sie sich den Markt untergraben indem sie Produkte verschenken, die sie sonst verkaufen würden. Das ist meiner Meinung nach nicht wirklich stichhaltig. Außerdem geht es uns bei der Versorgung auch um Abwechslung in der Ernährung, denn viele armutsbetroffene ernähren sich sehr einseitig, wenn sie ein bisschen Geld zur Verfügung haben um sich etwas zu kaufen.

Es wäre auf jeden Fall noch Potential da, wir hätten gerne mehr Kooperationen. Wir haben auch ständig neue Anfragen von sozialen Einrichtungen, wir wären also froh über weitere Warenspenden. Der Bedarf wird immer größer, er ist ein Vielfaches von dem, was wir momentan leisten können.

 

Wie viele Lebensmittel wären theoretisch verfügbar?

Das ist leider schwer zu erheben, da die Unternehmen keine Auskunft darüber geben, was sie wegwerfen. Solche Daten werden aus Image-Gründen geheim gehalten. Es dürfte aber sehr viel sein. Im Vertrauen hat mir ein Bekannter zum Beispiel einmal Zahlen aus der Tiefkühlindustrie genannt, die sind erschreckend hoch. Dabei ist das eine Sparte in der langfristig geplant wird. Wenn es um frisches Obst und Gemüse geht, ist die Entsorgungsquote sicher noch höher. Das liegt auch oft an Großpackungen und großzügiger Ausmusterung bei frischer Ware.

Auch bei den Privatpersonen wird extrem viel weggeworfen. Aus den verschiedensten Gründen häufen Menschen oft viel zu viele Einkäufe an und können diese oft gar nicht rechtzeitig verbrauchen.

 

Was tust du privat um nicht zu viele Lebensmittel wegwerfen zu müssen? Was machst du, wenn etwas übrig bleibt, das du nicht verbrauchen kannst?

Ich gehe nie hungrig einkaufen, lasse mich nicht von Großpackungen verleiten und kaufe keine Aktionsware. Ich habe außerdem das Glück, einen Garten zu besitzen, aus dem ich mich oft bedarfsgerecht versorgen kann. Ich koche immer sehr gut kalkuliert, wenn etwas übrig bleibt, friere ich es ein. Außerdem bin ich ein Meister im Reste-Kochen.

Die genaue Planung der Logistik ist uns auch bei der Wiener Tafel wichtig. Wenn es verfügbare Waren gibt erheben wir zuerst den Bedarf der Einrichtungen und verteilen dann, damit jede Stelle genau die Menge bekommt die sie benötigt. Eine sehr differenzierte Aufgabe natürlich.

 

Auch wenn das Wegwerfen von Lebensmitteln von der Wiener Tafel positiv genutzt wird, passiert global viel zu viel Nahrungsvernichtung. Was kann deiner Meinung nach dagegen getan werden?

Die Bewusstseinsbildung über die gesamte Wertschöpfungskette wäre wichtig – vom Erzeuger bis zum Konsument. Das eindrucksvollste Beispiel ist Brot – Um 17:55 ist es ein erstrebenswertes und teures Gut und um 18:05 ist es Müll. Die Bäckereien meinen auch, bis zum Abend eine riesige Sortenvielfalt bieten zu müssen, aus lauter Angst, dass Kunden zur Konkurrenz abwandern. Da wird lieber im großen Stil weggeworfen. Hier ist Bewusstseinsbildung gefragt.

Auf europäischer und nationaler Ebene denke ich, müsste man an der Formulierung des Mindesthaltbarkeitsdatums arbeiten. Die englische Formulierung „best before“ oder die zwei Daten, die man auf Eierpackungen findet, wären gute Anregungen für weitere Veränderungen.

Ein wichtiges Steuerungsinstrument wären auch Entsorgungsgebühren. Wenn diese angehoben werden, ist das ein starker Anreiz, genauer zu kalkulieren. In Österreich ist die ARA (Österreichische Recycling-Agentur) für die gesamte Entsorgung zuständig, das Monopol wird auch von der EU kritisiert. Die Legislative hat mit der ARA den derzeitigen Rahmen vereinbart, da wäre Novellierungsbedarf. Hier wäre eine gute Zusammenarbeit wichtig, damit diese Gebühren dann nicht auf die Konsumenten übertragen werden.

Diese Einnahmen sollten dazu verwendet werden um Initiativen wie die Wiener Tafel zu unterstützen, damit Produkte nicht im Müll landen, sondern in den Mägen hungriger Menschen. Ich glaube ohne Überfluss wird unsere Gesellschaft nie auskommen, doch wenn schon etwas übrig bleiben muss, sollte es auch sinnvoll verwendet werden.

 

Wie siehst du die Zukunft dieses Phänomens?

Ich sehe, dass die Armut drastisch zunimmt. Vor einigen Jahren kamen die Anfragen noch von Obdachlosen und Flüchtlingen, heute nagt die Armut auch am Mittelstand. Es gibt Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind und es trotzdem schwere finanzielle Probleme gibt. Die Einkommensschere klafft weiter auseinander, das ist natürlich eine kritische Entwicklung. Die Anforderungen an die Wiener Tafel wachsen ständig.

Bezüglich der Unternehmensseite bin ich zuversichtlich. Wir haben anfangs viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Partner zu gewinnen. Inzwischen ist ein Umdenken geschafft – die Unternehmen sehen uns als Kooperationspartner, die ihnen auch wirtschaftliche Vorteile und ein besseres Image bietet. Es geht nicht nur um einseitige Unterstützung, sondern um einen Nutzen für beide Seiten. Heute treten sogar einige Unternehmen an uns heran und wollen zusammenarbeiten. Nachhaltigkeit wird immer wichtiger in der Wirtschaft, es gibt aber noch viel Potential.

Die dritte Entwicklung, die ich bemerke, ist der Druck besser und knapper zu kalkulieren. Dieser entsteht aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise. Vor ein oder zwei Jahrzehnten wurde noch mit viel größeren Überschüssen geplant. Ich hoffe daher, dass auch der Anteil vernichteter Lebensmittel weiter zurückgehen wird.

 

Gibt es zum Thema Verschwendung auch weitere Initiativen der Wiener Tafel?

Die Wiener Tafel hat in einer Kooperation mit der Kochbuchautorin und Betreiberin des Babette’s – Spice and Books for Cooks, Nathalie Pernstich, eine Kochbuchedition herausgegeben, in der das Hauptaugenmerk aufs Reste-Verkochen gelegt wird. Von jedem verkauften Exemplar geht ein Euro als Spende an die Wiener Tafel.

Für Lebensmittel, die übrig bleiben gibt es seit Kurzem auch in Österreich die Plattform Myfoodsharing, damit alle Personen im privaten Umfeld dafür Sorge tragen können, dass Nahrungsmittel weitergegeben werden können und nicht verderben. (BIORAMA berichtete) Ich persönlich mache da nicht mit, weil bei mir nie etwas übrig bleibt das ich nicht anderweitig verbrauche. Aber für manche Menschen und Situationen ist das eine gute Alternative zum Wegwerfen.

 

In welchen Bereichen bräuchte die Wiener Tafel noch Unterstützung?

Zu 8 % werden wir von der öffentlichen Hand gefördert – das reicht für unsere Büro- und Energiekosten. Ungefähr ein Drittel kommt von Privatpersonen, das zweite Drittel von Unternehmen aus Sponsoring-Leistungen. Wir werden auch durch Know-How und Sachleistungen unterstützt. Der Rest sind Einnahmen aus Benefizveranstaltungen und Sammelaktionen.

Es gibt leider noch viel Potential. Man kann uns auf verschiedene Arten unterstützen und wir sind für jeden Helfer dankbar.

Immer größer wird der Bedarf an finanzieller Unterstützung. Geldspenden helfen uns, den Fuhrpark zu betreiben – mit einem Euro können ca. 70 Menschen satt gemacht werden, das ist eine unglaublich große Wirkung. Ehrenamtliche Mitarbeiter suchen wir auch. Wir können jeden Freiwilligen brauchen, der uns unterstützen will. Sach- und Warenspenden nehmen wir gerne an – wer uns etwas zur Verfügung stellen kann, hilft uns auch damit weiter. Wichtig ist natürlich auch die Mulitplikatorwirkung der Menschen. Wer nicht anders helfen kann, kann für uns netzwerken und unsere Idee weiterverbreiten. Auch das ist wichtig um mehr Akzeptanz zu schaffen und weitere Unterstützer zu finden.

 

Wie aufwendig ist ein ehrenamtliches Engagement bei der Wiener Tafel?

Von der Vorstandstätigkeit über Organisation von  Benefiz-Veranstaltungen bis zum Lieferwesen arbeiten alle Menschen bei der Wiener Tafel ehrenamtlich. Die Einsätze sind sehr flexibel, man kann vereinbaren, wie viel Zeit man hat und wann man in welchen Bereichen arbeiten möchte. Manche Pensionisten engagieren sich verlässlich jede Woche drei Mal und liefern Waren aus, auch ich selbst komme auf ca. zwanzig Stunden pro Woche. Man kann das aber auch in einem geringeren Ausmaß machen. Wir haben Mitarbeiter, die nur wenige Stunden pro Monat machen oder Studenten, die nur im Sommer für ein Projekt Zeit haben. Das entscheidet jeder selbst. Wir können jede helfende Hand dringend benötigen und jeder ist willkommen.

 

www.wienertafel.at

Wiener Tafel Spendenkonto:
IBAN: AT092011131005303005
BIC: GIBAATWWXXX
ZVR: 283 996 437

 

 

Der BIORAMA Lebensmittel-Fokus
Im Sommer setzen wir einen thematischen Schwerpunkt und stellen Ideen und Initiativen vor, die sich mit der Wertschätzung von Nahrungsmitteln und ‪#‎Lebensmittelverschwendung‬ befassen. Den ersten Teil des BIORAMA Lebensmittel-Fokus, ein Interview über die Initiative Foodsharing in Österreich, gibt es hier zu lesen.

 

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