Die Neuen am Markt

Gewitter, Minusgrade, Arbeitsbeginn in aller Früh und Hochbetrieb am Wochenende – einen Marktstand zu betreiben ist kein Zuckerschlecken. Trotzdem ziehen immer mehr junge Menschen das Marktleben einem klimatisierten Büro und bezahltem Urlaub vor. Warum, verrät ein Besuch bei der nächsten Generation der Marktstandler.

Die 23-jährige Juliane aus Deutschland ist vor eineinhalb Jahren ausgewandert und versorgt seitdem das toastverliebte England mit Brot aus ihrer Heimat. Stand: Backhaus Bakery, Borough Market London

Vom lebendigen Umfeld, dem direkten Feedback der Kunden und der täglichen Arbeit an der frischen Luft bis hin zur Verbundenheit mit den anderen Standbetreibern und den Rabatten, die man bei seinen Kollegen bekommt – ein eigener Marktstand bringt viele Vorteile mit sich. Um 7.30 Uhr, bei frostigen drei Grad und Nieselregen fällt es einem allerdings schwer, sich diese ins Gedächtnis zu rufen. Dazu bleibt Jürg auch gar keine Zeit. Gemeinsam mit seinem Team lädt er am Borough Market in London Kisten aus dem Lieferwagen aus, baut den Marktstand auf und bestückt ihn mit rund 30 verschiedenen Käsesorten aus dem Hause Jumi mit kuriosen Namen wie Summerhimu oder Hanfmutschli. Seit einem halben Jahr sind die Schweizer bei Wind und Wetter auf verschiedenen Märkten im Vereinigten Königreich anzutreffen. Kaum steht der Stand, tummeln sich auch schon die ersten neugierigen Kunden davor, fragen einem Löcher in den Bauch und füllen den ihren mit Käse-Kostproben. Jürg ist im Stress, aber zufrieden, denn anders als zuhause in Bern muss sich Jumi in London erst einen Namen machen.

Mit dem oan wollen Tommi Brunnader (28) und seine Geschwister dem Wiener Kutschkermarkt neues Leben einhauchen und jungen Menschen den Markt schmackhaft machen. Stand: oan, Kutschkermarkt Wien

Der Arbeitsplatz als gelebte Kultur

Wenigstens darüber musste sich Tommi Brunnader bei der Eröffnung seines Marktstandes oan – organic and natural keine Gedanken machen. Der Naturkostladen, den seine Eltern seit über 30 Jahren betreiben, ist am Wiener Kutschkermarkt allen ein Begriff. »Wir sind mit offenen Armen empfangen worden. Die Marktbewohner freuen sich, dass sich was tut«, berichtet der 28-Jährige über seine Anfänge als Marktstandler. Die positiven Reaktionen der anderen Standler erklärt er damit, dass Alt und Jung dasselbe Ziel verfolgen: den Markt mit Leben füllen. Statt einen Ort, an dem man sich mit Lebensmitteln eindeckt, sieht Tommi seinen Arbeitsplatz als Teil der gelebten Kultur, zu der er mit seinen frischen Mittagsmenüs, Salaten, Säften und Espresso in Bio-Qualität wie auch dem modernen Stand-Design etwas beitragen will. Dasselbe möchte auch Auswanderin Juliane mit ihrem Backhaus-Stand am 1.236 Kilometer entfernten Londoner Borough Market. »Für unser echt deutsches Brot und die traditionellen Mehlspeisen nehmen unsere Stammkunden zum Teil sogar zwei Stunden Fahrt in Kauf«, erzählt die gelernte Kosmetikerin stolz. Die anderen Marktstandler sind für die 23-Jährige mittlerweile zur Familie geworden und diese greifen den Jungen gerne unter die Arme, wenn sie ab und zu etwas unorganisiert sind. Dass sich die alten Hasen auch etwas von der neuen Generation am Markt abschauen können, beweist Marianna von Oliveology. Die ästhetisch auf ihrem Stand arrangierten Olivenöle, Kalamata Oliven, Döschen mit Olivenblütentee und der griechische Honig sind richtige Eye-Catcher. »Wir Jungen sind kreativer und legen bei der Präsentation unserer Waren mehr Wert aufs Detail«, ist die Produktdesignerin überzeugt. Seit sie 2009 ihren Job an den Nagel gehängt hat, steht sie Woche für Woche am Markt. Im Büro hätte sie nicht so viele interessante Gespräche mit Menschen aus aller Welt geführt, da ist sich Marianna sicher. „»Den ganzen Tag von köstlichem Essen umgeben zu sein, ist natürlich auch fantastisch, aber man wird schon ganz schön verzogen«, fügt sie hinzu.

Statt im Büro hinter dem Computer zu sitzen, steht Marianna (31) lieber in der frischen Luft am Markt. Stand: Oliveology, Borough Market London

Was ist das Beste am Marktleben?

Dass man alles von den einzelnen Ständen probieren kann (Caspar, 26) Die Mittagspause (Harrison, 20) Die Menschen, die bei uns einkaufen (Lara, 30) Sich mit den anderen Marktstandlern zu amüsieren und dabei den Stress zu vergessen (Jasmin, 22) Das gelassene, junge Umfeld und die hilfsbereiten Menschen, die mir den Arbeitstag verschönern (Luka, 33) Die Rabatte: Als Standler kauft man am Markt günstiger ein (Paul, 28) Zur Markt-Community zu gehören – ich habe dort echte Freunde gefunden (Julia, 24) Die vielen verschiedenen Menschen und natürlich Drinks mit den Kollegen (Jenny, 28)

In der Schweiz kennt Jürg (31) und die Käse von Jumi jeder. Jetzt will er mit seinem Team auch die Bedürfnisse der Londoner Genießer stillen. Stand: Jumi, Münstergasse Bern, Borough Market & Patridges Market London

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