Löwenbaby: Großkatze mit Kindchenschema
Eine kleine Kulturgeschichte der »Löwenbaby«-Fotografie, inspiriert von einem spät aufgearbeiteten Kindheitsbesuch des Safaripark Gänserndorf
Ein Foto mit Löwenbaby am Schoß? Kommt in den besten Familien vor. Auch die Historikerin Christina Wessely ist auf einem abgelichtet. Erst als die Wohnung der Großeltern geräumt wird, in deren Wohnzimmer es jahrzehntelang unbemerkt stand, fällt es ihr in die Hände – und erstmals auf. »Mein Vater, ich und ein kleiner Löwe sitzen vor einer Fototapete im Safaripark Gänserndorf bei Wien, wir schreiben das Jahr 1982, ein Mann in khakigrüner Fantasieuniform steht uns gegenüber und drückt ab, er ist der als Ranger verkleidete Fotograf.« Wessely, ursprünglich aus Wien, heute Professorin für Kulturgeschichte des Wissens an der Leuphania Universität in Lüneburg, beginnt zu recherchieren, sinnieren und analysieren.
Das Ergebnis ist als 90-seitiges Bändchen nicht weniger als eine Kulturgeschichte der »Löwenbaby«-Fotografie geworden, die das ausbeuterische Nischengeschäft freilich ganz ohne jenen unverschämten Voyeurismus beschreibt, welcher zuletzt Netflix’ White-Trash-Dokuserie »Tiger King« zum Erfolge verhalf. Die heute skurril erscheinenden Fotos mit Löwenbabys sind Zeitgeistdokumente, in denen Wessely eine kleinbürgerliche Referenz auf die Tradition des bürgerlichen Familienporträts sieht. Sie beschreibt die Löwenbabyfotos als konstruierte Ereignisfotografie – in Abgrenzung vom echten Erlebnis. Heute wird auf dem Gelände des ehemalige Safariparks übrigens ein Erlebnispark betrieben (mit Pfeil-und-Bogen-Parcours und Gummistiefelgolfanlage). Sonst erinnert einzig die Tigergasse der angrenzenden Wohnsiedlung an die einstige Anwesenheit der fürs Fotografieren sedierten Großkätzchen.
Christina Wessely: »Löwenbaby«, erschienen im Verlag Matthes & Seitz (Berlin 2019)