Lammparade
Opferlämmer im Namen des Geschmacks. Die Dokumentation eines Experiments, die beste Fleischrasse zu finden.
Steile Wände, schroffe Felsen. Kühle, nein, kalte Nächte und karge Wiesen. Hier ist Michael Wilhelm zu Hause. Auch wieder nicht ganz richtig. Hier war Michael Wilhelm zum Zeitpunkt des Projekts zu Hause. Wilhelm ist einer jener Bergbauern, denen die Pandemie mit ihren Gastro-Lockdowns so zugesetzt haben, dass im Biobetrieb einiges aus dem Ruder lief. Die Yaks und Zackelschafe im Windachtal sind mittlerweile Geschichte. Eine traurige Geschichte, wohlbemerkt. Das abgelegene Windachtal in den Ötztaler Alpen war jedenfalls seine Welt. Tuxer Rinder, Yaks und Zackelschafe. Und für einen Sommer eine ganz besondere Herde. Eine kleine Schar junger Schafe. Ein etwas eigenwilliges Grüppchen. Wenn man an Schafherden denkt, hat man in erster Linie große Gruppen gleicher Tiere vor Augen. Hin und wieder vielleicht ein andersfärbiges darunter. Das »schwarze Schaf« sozusagen. Michaels kleine Herde war erfrischend anders. Sie wirkte wie eine alpine Patchworkfamilie auf Sommerfrische. Ein zusammengewürfelter Haufen verschiedener Rassen, darunter ein Tiroler Steinschaf, ein Kärntner Brillenschaf, ein Merino, ein zotteliges Zackelschaf und noch ein paar andere. Allerdings waren sie alles andere als zufällig zusammengewürfelt. Vielmehr war es eine Versuchsherde in einem von langer Hand geplanten Experiment, in dem der Frage nachgegangen werden sollte, ob unterschiedliche Schaf-Rassen auch unterschiedliche geschmackliche und sonstige sensorische Eigenschaften haben.
Die Idee zu diesem Vorhaben entstand schon vor längerer Zeit. Vor etwa vier Jahren. Genauer gesagt in einem Gespräch zwischen Andreas Döllerer, einem der Frontmänner der ›alpinen Küche‹ und Michael Wilhelm, dem besagten Biobauern und Züchter vom Windachtal. Er war damals auch Frischfleischlieferant für Döllerer. Und nachdem hier zwei Tüftler und Perfektionisten am Werken waren, musste alles passen und dementsprechend präzise geplant werden. Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten mussten die Schafe gleich alt sein und unter gleichen Bedingungen aufwachsen. Wilhelm entschied sich für männliche, kastrierte Tiere. Kastriert, weil unkastrierte Hammel viel zu intensiv im Geschmack wären, und männlich, weil weibliche Schafe im Sommer auf der Weide mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trächtig werden. Dann begann die Suche nach den Lämmern. Im ganz Österreich wurden LandwirtInnen, ZüchterInnen und Zuchtverbände kontaktiert, damit sie sich mit je einem Lamm am Projekt zu beteiligen. Schließlich waren es elf Tiere verschiedener Rassen, alte Landrassen ebenso wie neu gezüchtete Fleischrassen, die Wilhelm im Juni vergangen Jahres ins Hochtal trieb, wo sie – gemeinsam mit etwa tausend anderen Schafen – im Berg verschwanden. Michael Wilhelm ist erfahrener Hirte. Er weiß, dass es die Schafe in den Fels zieht. Immer wieder stieg er hinauf und hielt Ausschau nach seiner kleinen Versuchsherde. In den meisten Fällen fand er sie auch. Dann konnte er die gebrochene Schulter des Jura-Schafes und den gebrochenen Lauf des alpinen Steinschafs behandeln und sich um die Darmverstimmung des Walliser Schwarznasenschafs kümmern. Dem schwedischen Gotlandschaf, das von einem Züchter im Tiroler Unterland zur Verfügung gestellt wurde, konnte Michael Wilhelm nicht helfen. »Der Berg braucht auch«, sagt der Hirte knapp. Und meint damit den Adler, den Fuchs, die Krähen oder – manchmal – auch den Wolf. Der Rest der Herde verbrachte den Sommer zwischen den schroffen Felsen des Windachtals und den Weiden rund um die Siegerlandhütte, bio war die Experimentherde natürlich nicht, denn einerseits kam nur ein Teil der Schafe von Biobetrieben, andererseits wurde die einmalige Haltung dieser einmaligen Herde nicht zur Zertifizierung angemeldet.
Herbst des Lebens, schneller Tod
Ende Oktober führte der Bergbauer die Versuchsherde zurück ins Tal. Zumindest den größten Teil davon. Die letzten kamen gemeinsam mit einer größeren Herde Zackelschafe vom Berg. Die Zackelschafe sind Bergprofis und haben ein sensibles Gespür für das Wetter. Sie wissen instinktiv, wann der Schnee kommt und der Almsommer vorbei ist.
Ab diesem Zeitpunkt standen die Tiere in Michael Wilhelms Stall im hinteren Ötztal. Gefüttert wurden sie in dieser Zeit mit Heu. Obwohl die Jungschafe die Möglichkeit gehabt hätten, ins Freie zu gehen (von geschlossenen Ställen oder gar Anbindehaltung hält Michael Wilhelm klarerweise gar nichts), zogen die Schafe es vor, den Winter ruhiger anzugehen. Sie blieben lieber im Stall und bewegten sich wenig. Die Fütterung mit dem mineralstoffreichen und (alpenkräuter-)würzigen Heu verbessert die Fleischqualität sowohl in Bezug auf die Aromatik als auch was die Konsistenz, den »Biss«, betrifft.
Mitte Februar war es dann soweit. Schlachttag. In einem Anhänger brachte Michael Wilhelm die zehn Schafe zu einer kleinen Metzgerei in Längenfeld. Die Fahrt dauerte weniger als zehn Minuten. Der Metzger ist Profi und weiß, worauf es ankommt. Der Bauer holte sie einzeln aus dem Anhänger und brachte sie in den Schlachtraum. Das bedeutete, dass kein Schaf länger als ein paar Sekunden auf die Betäubung warten musste. Sobald Wilhelm mit einem Schaf den Schlachtraum betrat, stand der Metzger vorbereitet und bereit da, um das Tier mit dem Bolzenschussapparat zu betäuben. Man spricht hier zwar von »Betäubung«, nachdem mit dem Bolzen allerdings das Stammhirn zerstört, ist die Betäubung allerdings irreversibel. Getötet werden Schlachttiere jedenfalls nicht durch die Betäubung, sondern durch einen beherzten Schnitt in Brust oder Kehle und das darauffolgende Ausbluten. Die Schlachtung der zehn Jungschafe in Längenfeld war in mehrerer Hinsicht optimal: kurzer Anfahrtsweg, kein Stress bei den Tieren durch lange Wartezeiten und solides Handwerk, sodass es zu keinen Fehlbetäubungen (etwa durch Unachtsamkeit bei der Verwendung des Bolzenschussgerätes) kam. Michael Wilhelms einzige Sorge war das letzte Schaf im Anhänger. Schafe sind Herdentiere. Ist ein zweites Tier in der Nähe oder zumindest in Sichtweite, ist alles in Ordnung. Sobald sie alleine sind, werden sie ängstlich, unruhig und nervös. Der Körper produziert im Stress dann Adrenalin. Anders als bei Schweinen, führt das Stresshormon bei Schafen zu einem Prozess, bei dem übermäßig Milchsäure abgebaut wird. Fehlt diese Säure, kann das Fleisch nicht reifen und wird im Extremfall dunkel, fest und trocken. Der (englische) Fachbegriff dafür lautet DFD (dark, firm, dry). Geschmort kann dieses Fleisch zwar immer noch werden, zum Kurzbraten (also für Steaks) ist es allerdings nicht mehr geeignet. So schlimm war es in Längenfeld bei weitem nicht. Es durfte einfach nicht lange alleine sein. Aus diesem Grund wurde bei den letzten drei Jungschafen das Tempo noch einmal erhöht. Trotzdem. Michael Wilhelm ist nicht nur Biobauer, sondern auch ein feinsinniger Genießer und kritischer Sensoriker. Später, beim Verkosten, wird er den Unterschied zu den anderen Schafen erkennen.
Ortswechsel. In der Küche des Haubenkochs Andreas Döllerer im Salzburger Golling sah es am 17. Februar aus, wie in einer Metzgerei. Schulter, Schopf und Schlögel von zehn verschiedenen Schafen, einem Mufflon und einer Ziege (beide hatten die Veranstalter als »Piraten« in die Verkostung geschmuggelt) wurden sortiert und fein säuberlich beschriftet. Danach machten sich vier Köche daran, die grob zerlegten Teile zu verarbeiten. Es wurde entbeint, geputzt und pariert. Aus den Schlögeln wurde Tatar geschnitten, aus dem Rücken kleine Cuts zum Kurzbraten. Verkostet wurden die Proben so unverfälscht wie möglich. Also gänzlich ungewürzt. An dieser Stelle sei eine kleine Manöverkritik erlaubt. Das Fleisch der Jungschafe auf diese Weise zu kosten ist zwar erkenntnisreich, geht aber eine Spur an der gastronomischen Wirklichkeit vorbei. Lamm und Schaf kommen in erster Linie als Schmorgerichte auf den Tisch und entwickeln beim Schmoren noch zusätzliche Qualitäten (vor allem in Bezug auf die Konsistenz), die bei diesem Test ausgeblendet wurden.
Trotzdem war das Ergebnis spannend und hielt die eine oder andere Überraschung parat. Wenig überraschend war, dass die alten Landrassen gegenüber den modernen Fleischrassen deutlich die Schafsnase vorne hatten. Als Favorit des Verkostungsversuchs ging das Tiroler Bergschaf hervor, und zwar als Punktesieger in fast allen Bereichen. Übertroffen nur beim Tatar vom Jura-Schaf. Das wiederum landete in allen anderen Kategorien durchgehend auf Platz 2, dicht gefolgt vom Zackelschaf, das sich – ebenfalls in der Kategorie »Geschmack, roh« – einem der Piraten, nämlich der Ziege, geschlagen geben musste. Das Tiroler Bergschaf überzeugte durch kraftvolles und vor allem sehr typisches Lamm-Aroma sowie durch festen Biss und saftige Textur. Ein klein wenig überraschend war die Überlegenheit des Gebirgsschafs dann aber doch. Immerhin gilt der reinweiße Kletterer in seiner alpinen Heimat eigentlich als Milchschaf – nders als das Juraschaf SBS (die Abkürzung wird sehr oft in Zusammenhang mit der Rasse genannt und bedeutet »Schwarzbraunes Bergschaf«). Juraschafe sind hornlos wie die Bergschafe, genauso alptüchtig, allerdings schwarz, braun oder eine Schattierung dazwischen. Das Juraschaf ist von kräftiger Statur und für sein ausgeprägtes Fleischbildungsvermögen bekannt. Wenig verwunderlich, dass sich das muskulöse Tier beim Tatar gegen alle anderen Genossen durchsetzen konnte. »Feine, fast cremige Textur«, »zarter Lammton, tolle Aromatik« oder auch »feinwürziger, eleganter Geschmack« war hier in den Kostnotizen der Köche zu lesen.
Das dritte Schaf in den Medaillenrängen war das Zackelschaf. Ein Urschaf und ein eigenwilliger Geselle mit langen, zwar geraden, aber geschraubten Hörnern. Aufgrund seines wilden Erscheinungsbildes gilt das Zackelschaf mit seinen bizarren Hörnern und dem langen, zotteligen Fell als Vorlage für die furchteinflößenden Masken der Perchten, Teufel und Habergeißen, die Anfang Dezember in den Dörfern der alpinen Regionen ihr Unwesen treiben. Es ist die letzte verbliebene Schraubenhörnerrasse und eine echte Rarität. Wie rar und vor allem, wie nah am Aussterben das Zackel bereits war, zeigen die Daten einer Bestandsaufnahme des Vereins Arche Austria aus dem Jahr 2002. Gerade einmal 86 Tiere zählte der Verein damals in Österreich. Mittlerweile hat sich der Bestand zwar deutlich erholt, mit etwa 3500 Tieren in Österreich (in Deutschland sind es ebenso viele) zählt das wilde Zackelschaf aber immer noch zu den seltenen Rassen.
In Golling waren die Koster vor allem vom herausragenden Fleisch und der Qualität des Fettes überzeugt: »wildähnlich und würzig«, intensives, leicht mineralisches Fleischaroma« oder etwa »geniales, zartes Fett und phantastisch mürbe Konsistenz«. Offenbar überträgt sich das archaische Charisma, das dem Zackelschaf eigen ist, auch auf sein Fleisch.
Deutlich weniger gut schnitten die so genannten »Fleischrassen« ab. Das Deutsche Merinoschaf (auch Merinolandschaf), immerhin eine der am häufigsten genutzten Rassen im Gastronomie-Bereich, kommt gerade einmal auf Platz 9. Das Merino ist eine neue Züchtung und gilt als schnellwüchsige Fleischrasse. Mag sein, dass es aufgrund seiner Herkunft und Statur weniger gut für die alpine Weidehaltung geeignet ist und auch mit dem Futter weniger gut zurechtkommt, als seine gebirgserprobten Artgenossen. Das Ergebnis der Verkostung ist jedenfalls sehr deutlich. Das gilt auch für das Texel-Schaf. Ebenfalls eine Fleischrasse, der extreme Bemuskelung der Keulen und schnelle Fleischwüchsigkeit zugeschrieben werden. Allerdings mit sehr zurückhaltender Lamm-Aromatik, wie die Jury bemängelte. Das Fleisch sei zwar recht mild und ausgewogen, erinnere aber eher an Kalb, so die einhellige Meinung. Michael Wilhelm zog einen Vergleich zur Weinwelt und ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass das Texel der »Zweigelt unter den Schafrassen« sei. Eine Metapher, die alles andere als wohlmeinend war.
Das Experiment lässt ein paar Schlüsse zu und ein paar Fragen offen. Gesichert scheint, dass alte, robuste Rassen geschmacklich eher überzeugen als jüngere Züchtungen oder hybride Rassen, die als Fleisch-, aber auch als Milchrassen eingesetzt werden. Sicher ist auch, dass ein Sommer auf der Alm den Tieren und auch deren Fleisch sichtlich gut tut. Auch wenn die Tiere dadurch in einem Alter geschlachtet werden, in dem sie das Lammsein bereits hinter sich haben. Es lässt aber auch Fragen offen. Etwa jene nach der Art der Landwirtschaft, die wir uns künftig wünschen. Und ob wir bereit sind, dafür auch tiefer in die Tasche zu greifen.
Weitere Berichte zum Thema Almwirtschaft, hier in einem Nationalpark.
BIORAMA #87