»Ich bin ein Mensch, das bedeutet: Ich kann mich entscheiden.«

Nunu Kaller, die ehemalige KonsumentInnensprecherin von Greenpeace Österreich, will nicht mehr nur Appelle an die Macht der KonsumentInnen hören.

Den KonsumentInnen kann nicht die alleinige Verantwortung für den Klimawandel zugeschrieben werden, betont Nunu Kaller im Interview. Die ehemalige KonsumentInnensprecherin von Greenpeace Österreich schreibt gerade an einem Buch über den guten Konsum. Bild: iStock.com/MicrovOne.

Nunu Kaller ist ein Konsummensch. Seit Jahren kreist sie beruflich um dieses Thema. Zuletzt hat sie ihren Blog spontan zu einer Onlineliste »heimischer«, d. h. im konkreten Fall österreichischer Läden umfunktioniert. Anlass war das Bedürfnis, zu verhindern, dass in der Pandemie wieder vermehrt bei den Versandhandelsriesen eingekauft wird. Aber sie ist auch Konsumkritikerin und hat sich schon ausgiebig in Verzicht geübt. 2013 ist ihr Buch »Ich kauf nix! Wie ich durch Shopping-Diät glücklich wurde« erschienen, im März 2021 soll das nächste zum Thema Konsum folgen. BIORAMA hat sie gefragt, was sich über das gute Produkt und den richtigen Weg dorthin schon sagen lässt.

BIORAMA: Was ist das gute Produkt?

Nunu Kaller: Eines, das ich wirklich brauche. Eines, das meinen Ansprüchen genügt, nicht nur auf Produktebene, sondern auch auf ökologischer und sozialer, je nachdem, worum es sich handelt. Das gute Produkt ist eine Frage der Perspektive – und es geht um Kompromisse, leider. Ein gutes Beispiel ist Bio im Supermarkt: Es gibt eine EU-Verordnung, die vorschreibt, dass Bio und Nicht-Bio nicht gemeinsam transportiert und gelagert werden dürfen, wenn nicht eines gesondert verpackt ist. Damit wurde jahrelang argumentiert, dass die Bioprodukte verpackt waren und die anderen nicht. Weil die Bioprodukte den geringeren Anteil ausmachten und natürlich weniger Verpackung anfällt, als wenn man die konventionellen verpackt. Das klang einleuchtend.

Aber was nicht dazugesagt wurde: Die Verordnung gilt nicht für den Point of Sale. Es hat also nie etwas dagegen gesprochen, dass die Produkte nicht einzeln verpackt werden und wir die Produkte unverpackt im Supermarkregal kaufen. Und inzwischen ist es ja auch oft so, dass dasselbe Produkt, zum Beispiel Äpfel, häufig sowohl in Bioqualität als auch konventionell im selben Markt lose angeboten werden. Das ist schon ein bisschen viel Verantwortung, wenn ich mich entscheiden muss zwischen Bio und Plastik und den Gesetzestext selber studieren muss, um herauszufinden: Das muss gar nicht so sein. Ich hatte nur die Wahl zwischen entweder bio und verpackt oder konventionell und unverpackt, also aus ökologischer Sicht immer ein Kompromiss. Gut, dass sich da gerade langsam was ändert. 

In der Gastronomie gibt es auch sehr viele gute Beispiele für Situationen, in denen der/die KonsumentIn kaum eine Entscheidung treffen kann, eine informierte Entscheidung erschwert wird. Die EndkonsumentInnen können – wenn sie es nicht zufällig wissen – doch nicht ahnen, dass alle Regeln, die für Eier gelten, für Eier im Tetrapak, die in den Systemgastro-Kuchen wandern, nicht gelten.

Wie viel Verantwortung habe ich denn als KonsumentIn, mich zu informieren?

Ich finde es gut, dass sich immer mehr Leute ihrer Verantwortung bewusst werden. Ich finde es nicht gut, dass das industriell und politisch ausgenutzt wird. Hier findet eine ungerechtfertigte Verantwortungsverschiebung statt und den KonsumentInnen wird die alleinige Verantwortung für den Klimawandel umgehängt. Aus meiner Sicht macht es sich die Industrie mit ihren großen Hebeln, mit denen sie etwas verändern kann, viel zu einfach.

Du glaubst nicht mehr an die Macht der KonsumentInnen?

Klar tu ich das. Unternehmen – auch die nachhaltigen – interessiert in erster Linie unsere Kohle. Insofern kann ich durch die Entscheidung, wem ich mein Geld gebe, einen großen Unterschied machen. Es findet aber gleichzeitig zu diesem Bewusstsein die erwähnte Verschiebung statt, dass anderen AkteurInnen und Ebenen die Verantwortung genommen wird, denn sie stehen ja der Macht der KonsumentInnen gegenüber. Darum denke ich: Es gibt die Macht der KonsumentInnen, aber sie ist enden wollend. Unternehmen dürfen ihre eigene Verantwortung nicht an die KonsumentInnen abschieben.

Mein Lieblingsbeispiel dafür war die Eröffnung eines neuen H&M in einer großen Wiener Einkaufsstraße mit »Conscious Corner«. Ich bin hingegangen, um mir das anzuschauen, zugegebenermaßen nicht ohne Vorbehalte. Dort hab ich gleich ein riesiges Regal mit Guppyfriends (Beutel, die Mikroplastik auffangen sollen, Anm.*) gesehen und mich gefreut, dass die Idee und das Start-up, das sie herstellt, so bekannt und unter die Leute gebracht werden. Dann hab ich mich umgedreht und bin vor einer riesigen Kleiderstange Polyesterblusen um 8,99 gestanden und habe mich gefragt: Was spielen wir hier? Ihr produziert das Polyesterzeug und deswegen kann ich bei euch dazu auch gleich den Guppyfriend kaufen?

Das meine ich mit Verschiebung von Verantwortung. Und auch wir alle begrenzen uns selbst, wenn wir uns in der Wahrnehmung des eigenen Impacts nach außen primär als KonsumentInnen wahrnehmen. Aber man hat ja auch Impact, indem man das Maul aufreißt, nicht nur die Geldbörse! Wir müssen da lauter werden. 

*Anmerkung: Der Waschbeutel des deutschen Unternehmens Guppyfriend soll den Faserabrieb von Kleidungsstücken aus Polyester auffangen, damit dieser nicht in die Gewässer gelangt.

»Ja. Ich suche den guten Konsum. Ich lande bei Reduktion.«

Nunu Kaller
Portrait Nunu Kaller.
Nunu Kaller. Bild: Flo Waitzbauer.

Stichwort große Unternehmen und ihre oft nicht ganz so großen Nachhaltigkeitsbemühungen – ist das nicht unterstützenswert, weil lieber ein bisschen als gar nichts?

Es geht darum, von welcher Seite ich die Frage der Verbesserungen angehe. Wenn der Startpunkt eine Analyse der größten ökologischen Probleme ist, die ich durch mein Unternehmen verursache, dann ist jeder Schritt zu Reduktion ein guter. Mit einem Beispiel gesagt: Wenn ich als Unternehmen merke, dass mein hoher Anteil an Polyester eines der größten von mir verursachten Umweltprobleme ist, dann sollte ich mir ansehen: Wo kann ich auf andere Materialien umsteigen und wo brauche ich Polyester? Es gibt schon Bereiche, wo Polyester eine Funktion hat. Weil der Baumwollbikini trocknet halt recht schlecht. Dann muss es um genau diese Reduktion gehen und nicht darum, Waschsäcke zusätzlich zu verkaufen. 

Um zu wissen, mit welchem Ziel und welcher Strategie Nachhaltigkeitsinitiativen in Unternehmen stattfinden, muss man dann als KonsumentIn schon die CRS-Berichte lesen können und wollen. Was wäre dazu notwendig? 

Ja, die Information ist leider eine Holschuld im Moment. Es ist aber nicht machbar, vor einer Konsumentscheidung jedes Mal zwei Stunden Lektüre einzuschieben. Deswegen richtet sich meine Kritik an die großen Unternehmen, die es uns einfacher machen müssen.

Du hast dich selbstständig gemacht und bietest künftig Unternehmen Beratungsleistungen in Ökologisierungs- und Kommunikationsfragen an. Hast du schon eine lange Liste an Unternehmen, mit denen du aus den oben genannten Gründen nicht arbeiten wirst? 

Eine kurze, aber von diesen rechne ich auch nicht mit Anfragen. Mich interessiert, ob ein Unternehmen das eigene Kerngeschäft nachhaltiger gestalten will, das ist schon einmal ein guter Indikator, um herauszufinden, wie ernst es jemand meint. Wer gleich auf Offsetting setzt (z. B. Kompensation der eigenen CO2-Emissionen durch Finanzierung von Aufforstungsprojekten o. Ä., Anm.), statt sich zuerst die eigene Produktion anzuschauen, macht sich verdächtig. Klimaneutralität ist im Übrigen ein Begriff, mit dem die EndverbraucherInnen ohnehin wenig anfangen können. Ich denke, dass der durch den inflationären Gebrauch von vielen nicht mehr ernst genommen wird. 

Als vordergründigstes Nachhaltigkeitsmerkmal überzeugt CO2-Neutralität bei vielen Produkten nicht, aber ist es auch als Mindeststandard unbrauchbar? 

Wenn es sich als Mindeststandard etabliert, ist das gut. Ich habe mich auch selber oft schuldig gemacht: Wenn kleine Unternehmen sich bemühen, nachhaltiger zu werden, und dabei etwas tollpatschig sind, war ich früher mit dabei, sie sofort abzustrafen. Inzwischen denke ich, dass man gerade kleinere Unternehmen auf einem Weg begleiten muss, der zu sinnvollen Nachhaltigkeitsprojekten führt, vielen fehlt das Gesamtkonzept in Sachen Corporate Social Responsibility.

Hast du auch den Eindruck, dass es besonders unter KleinproduzentInnen derzeit üblich ist, das eigene Produkt als »regional« und »fair« auszuloben? 

Fair und regional sind nicht definiert und das macht es schwierig. Eigentlich haben wir sowohl in der EU als auch international Arbeitsgesetze. Compliance reicht eigentlich nicht für Nachhaltigkeit. 
Fair nennen sich natürlich aber auch die, die wirklich weit über die Mindeststandards hinausgehen, und das ist gut. 
Im Moment gibt es da aber nicht sehr viele brauchbare Siegel wie das Fairtrade-Siegel. Eigentlich sollten hier ja neue Impulse und Standards von der UNO kommen bzw. dort als Mindeststandards beschlossen werden.

Du schreibst gerade an einem Buch übers Einkaufen.

Ja. Ich suche den guten Konsum. Ich lande bei Reduktion. So viel kann ich vorwegnehmen. Und dass es nicht reicht, durch nachhaltigen Konsum einzelner Produkte ein Zeichen zu setzen.

Bild des Buchs: Kauf Mich! von Nunu Kaller.
Nunu Kallers »Kauf Mich – Auf der Suche nach dem guten Konsum« erscheint im März 2021 bei Kremayr & Scheriau. Bild: Kremayr & Scheriau.

Du wirst inzwischen vor allem als Expertin für den Modemarkt wahrgenommen. In welchen Situationen fehlt dir jede Grundlage, um eine fundierte, nachhaltige Kaufentscheidung zu treffen? 

Ja, da gibt es Bereiche. Einerseits die Technik. Ich hab es mit den früheren Generationen von Fairphone versucht, das hat für mich nicht funktioniert. Da greif ich jetzt auf Secondhand- und Refurbed-Geräte zurück. Andererseits ist auch das Thema Mobilität ein schwieriges für mich, denn Radfahren und öffentlicher Verkehr können für mich nicht in jedem Szenario ein Auto ersetzen und dann wird nachhaltiges Verhalten auch zur Geldfrage, denn die Sharing-Modelle sind nur bei seltener und kurzer Nutzung günstiger. Viele komplexe Produkte, wo ich weniger Einblick habe, wie Möbel, organisiere ich mir secondhand, weil es aus ökologischer Sicht an allererster Stelle um eine Reduktion der Produktion neuer Waren geht.

Ist es ein relevantes Problem, dass viele Dinge unbenützt als Secondhandware verkauft werden, bei denen der/die erste BesitzerIn nie die Absicht hatte, sie selbst zu nutzen? 

Ja, da wird vieles an Neuware gehandelt, Kleidung, in der noch das Etikett hängt, oder nagelneue Sneaker. Es wird immer Leute geben, die solche Systeme ausnutzen, bewusst oder unbewusst. Es gibt in der Secondhandbranche bessere und schlechtere AnbieterInnen. Man kann den Leuten nur so viele Informationen wie möglich bieten, damit sie gute Entscheidungen treffen können. Und es gibt ja glücklicherweise eine Öffentlichkeit, die Unternehmen auf die Finger klopft, wenn etwa mit gespendeter Kleidung undurchsichtige Geschäfte durch den Verkauf als Secondhandware gemacht werden. 

Bio, fair, vegan, plastikfrei, CO2-positiv, langlebig, inklusiv … die Kriterien spiegeln ja auch individuelle Präferenzen wider. Kann das über Gesetze geregelt werden? 

Der Gesetzgeber muss das große Ganze im Blick haben. Da das Thema Klimawandel über allem steht, bedeutet das, einen Blick auf die Klimafolgen von Lebensmittelkonsum, Mobilität und Mode zu haben. Als Konsequenz müsste einmal eine Preisrealität hergestellt werden, bei Fleisch zum Beispiel. Ein Importverbot für manche Chemikalien auf Textilien auf europäischer Ebene wäre auch keine besonders komplizierte Maßnahme, die großen Effekt in der Lieferkette hätte. Durch solche grundlegenden Maßnahmen könnte man eine faire Basis für Konsumentscheidungen Einzelner schaffen.

Also gibt es keinen Mindestanspruch an KonsumentInnen? 

Wir müssen konsumieren, um zu überleben. Und indem wir konsumieren, machen wir aus ökologischer Perspektive die Welt natürlich nicht besser. Jeder Mensch steht vor einer individuellen Entscheidung und die ganz richtige gibt es nicht. Das sollte okay sein. Leider erlebe ich aber, dass es das für Leute nicht ist, dass sie frustriert sind, wenn sie nicht das umfassend gute Produkt finden und haben können und sich selbst auch konsequent entsprechend verhalten. Mich hat eine Frau angesprochen, weil sie Schuldgefühle plagen, da sie ein Mal ihren Mehrwegbecher vergessen und einen Kaffee im Einwegbecher gekauft hat. Das hat sie emotional total frustriert. Sie hat da sichtbar mehr Verantwortung geschultert, als sie rein realistisch tragen müsste, und das hat sich in Frust geäußert. Da müssen wir die Ansprüche der Einzelnen hinterfragen – und landen wieder bei der Verantwortungsverschiebung durch Industrie und Politik.  

Woher kommt das, wenn wir ja auch in anderen Lebensbereichen nicht kapitulieren, wenn wir keine Perfektion erreichen? 

Ich glaube: weil wir Angst haben vor dem Bedrohungsszenario Klimawandel. Weil wir in Wirklichkeit wissen, dass es insgesamt zu wenig ernst genommen wird. 

Die ethische wird nie die wichtigste Dimension bei einer Konsumentscheidung sein, richtig?

Mein erster Impuls wäre: Doch! Ich glaube schon. Ich war auch schon öfters hungrig im Supermarkt und das Neuromarketing im Lebensmittelhandel ist beeindruckend clever. Auch mir passiert es, dass ich dann keine guten Entscheidungen treffe und zum Beispiel vorgekochte Tortellini in Plastikverpackung kaufe. Aber das war eine Entscheidung, es war wohl nicht die ethisch richtige, aber dennoch habe ich sie getroffen. Das heißt: Ich KANN mich entscheiden. Und das heißt auch, dass ich mich für die ökologischere Alternative entscheiden kann. Ich habe fix vor, es das nächste Mal zu tun. 

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