Die Letzte ihrer Art?

Brennnesseln gelten häufig als schwer zu bändigendes Unkraut, eine Art gilt in Österreich allerdings als gefährdet. Woher weiß man, welche Pflanzen ausgestorben sind?

Die March-Thaya-Auen sind möglicherweise das einzige Gebiet in Österreich, in dem Röhricht-Brennesseln zu finden sind. Bild: Gerhard Egger.

Brennnesseln kommen zwischen Mai und November praktisch überall vor, wo es Stickstoff im Boden gibt, als Zeigerpflanze gelten sie als Indikator für einen nährstoffreichen Boden. Am häufigsten kommt die sogenannte Urtica dioica, die Große Brennnessel, vor, ab und zu findet man auch ihre kleine »Schwester«, die Kleine Brennnessel. Noch viel seltener sieht man die Röhricht-Brennnessel – wissenschaftlich unter dem Namen Urtica kioviensis bekannt. Direkt übersetzt bedeutet dieser Name »Kiewer Brennnessel«, ein Hinweis auf ihr Habitat in Osteuropa, in dem die Pflanze am häufigsten vorkommt. Allerdings nur punktuell, wie die Verbreitungskarte der IUCN zeigt, in der auch Vorkommen in Dänemark markiert sind. Ein Grund für ihr isoliertes Aufkommen sind die speziellen Lebensräume, die die Pflanze besetzt.

Eiszeitrelikt

Während die gemeine Brennnessel ein breites Spektrum hat, in dem sie sich wohlfühlt, kommt die Röhricht-Brennnessel nahezu ausschließlich in Feuchthabitaten wie Auengebieten oder Röhrichten – Pflanzengesellschaften im Flachwasser- und Uferrandbereich von fließenden oder stehenden Gewässern – vor. In Auenlandschaften sucht sie besonders naturnahe, feuchte Areale wie Altarme – also vom Fließwasser abgetrennte Flussschlingen, die zum stehenden Gewässer wurden – auf. »Das sind heute Lebensräume, die selten sind und weiter abnehmen«, erklärt Gerhard Egger, Leiter des Flüsseteams bei WWF Österreich, der noch eine zweite Erklärung für das seltene Vorkommen der Urtica kioviensis liefert: die Eiszeit. Manche ForscherInnen würden vermuten, dass die Urtica kioviensis schon früh in der Entwicklung der europäischen Fauna und Flora eisfreie Habitate eingenommen hat, in denen sie nach der Eiszeit auch verharrt ist, so Egger. Sieht man sich die derzeitigen Vorkommen in Deutschland an, findet man die Röhricht-Brennnessel vereinzelt in Gebieten rund um die Havel, in Österreich kommt die Pflanze, die auch als Sumpf-Brennnessel bezeichnet wird, nur im Osten des Landes – und auch dort nur selten – vor. Die wenigen Vorkommen sollen sich dabei auf die March-Thaya-Auen konzentrieren, doch auch der Nationalpark Donau-Auen gab auf seiner Website an, dass die Pflanze sehr selten im Ostteil des Areals heimisch ist.

Gerhard Egger ist Gewässerschutzexperte beim WWF und setzt sich für die Renaturierung von Flüssen ein. Bild: WWF.

Alles hat seinen Platz

Während die gemeine Brennnessel recht anspruchslos ist und auf nährstoffreichen Böden praktisch überall in Österreich wächst, kommt die Röhricht-Brennnessel ausschließlich in Ostösterreich vor. Verwechslungsgefahr zwischen den beiden Arten bestehe zwar, wenn man sie nebeneinander sehen würde, die Röhricht-Brennnessel kommt allerdings in Österreich auf so wenigen Flächenvor vor, dass eine Verwechslung der beiden Pflanzen nur in den March-Thaya-Auen relevant ist, sagt Aaron Griesbacher, Leiter des Projekts Artenschutz und Gebietserweiterung im Nationalpark Donau-Auen.

Aaron Griesbacher leitet seit 2019 das Projekt Artenschutz und Gebietserweiterung sowie seit 2022 das neue Projekt: »Ökologie und Artenschutz im Nationalpark Donau-Auen«. Bild: Nationalpark Donau-Auen.

Genau dieser Nationalpark galt als einer der wenigen Rückzugsräume der Urtica kioviensis in Österreich, zumindest wurde es auf der Website des Nationalparks Donau-Auen so beschrieben, wo die seltene Brennnessel auch als gefährdet eingestuft wurde. Eine Nachfrage beim Nationalpark dazu hat leider nicht zur Röhricht-Brennnessel geführt, sondern zur Überarbeitung des Textes der Website: Information über ihr Vorkommen gibt es derzeit keine mehr. Ein kleines Vorkommen der Pflanze an der Ostgrenze des Nationalparks, das noch nicht entdeckt wurde, sei allerdings möglich, ergänzt Aaron Griesbacher. Doch nur weil eine Pflanze selten gesehen wird, heißt das noch nicht, dass sie bereits ausgestorben ist. Von der Sumpf-Brennnessel sind in Österreich nur wenige Standorte bekannt, was heißen könnte, dass sie bereits stark unter Druck gekommen ist. Ihre Bedeutung sei für das Ökosystem jedenfalls nicht zu vernachlässigen, sagt Griesbacher. »Jede Art, die es geschafft hat, sich zu etablieren, erfüllt eine wichtige Funktion im Ökosystem und besetzt eine ökologische Nische.« Griesbacher stützt sich dabei auf die Theorie der ökologischen Nischen, die unter anderem davon ausgeht, dass zwei Pflanzenarten mit denselben Lebensraumansprüchen nicht miteinander existieren können, ohne dass eine der Arten verdrängt wird. Obwohl sich die gemeine und die Sumpf-Brennnessel in ihrem Habitus ähneln und in manchen Bereichen gemeinsam vorkommen, würden sie unterschiedliche ökologische Nischen besetzen, denn jede vorhandene Art, ob Pflanze oder Tier, trage als wichtiger Baustein der Biodiversität dazu bei, dass das Ökosystem resilienter gegen Störungen wird, so der Mitarbeiter des Nationalparks.

Der einzige Standort in Österreich, wo die Urtica kioviensis noch vermehr vorkommt: die Marchauen. Bild: Wikimedia Commons/Akureyki.

Pflanze verliert ihren Lebensraum

»Schuld« am geringen Vorkommen der Urtica kioviensis in Österreich sind nicht die Ansprüche der Pflanze, die im Gegensatz zu anderen Pflanzen mit Überstauung, also mit ansteigendem Grundwasser oder mit sich oberflächennah sammelndem Niederschlagswasser, gut zurechtkommt, sondern eine Kombination aus Seltenheit und Verlust von Lebensraum. Die Seltenheit der Kiew-Brennnessel in Österreich, wo sie die Westgrenze ihres Areals erreicht, besteht schon seit jeher, aber durch den Verlust des Lebensraums in Auengebieten, der vor allem durch Trockenheit zusätzlich befeuert wird, gerät die seltene Brennnesselart weiter unter Druck. Deswegen steht die Urtica kioviensis auf der österreichischen Roten Liste für gefährdete Pflanzenarten und wurde bei der letzten Auflage 2015 als »gefährdet« eingestuft. Doch nicht nur in Österreich, sondern auch international nimmt die Population der Urtica kioviensis ab, weswegen sie auch auf der Roten Liste der IUCN steht, ihre Population wird als »abnehmend«, allerdings nicht als »gefährdet« bezeichnet, da laut IUCN nicht genug Informationen vorliegen, um eine Einschätzung zum Aussterberisiko der Pflanze abzugeben.

Die Sumpf-Brennnessel ähnelt der Großen Brennnessel, braucht aber deutlich mehr Wasser. Bild: Wikimedia Commons/Stefan.lefnaer.

Totgeglaubte leben länger

Nachdem die seltene Brennnessel in den Donau-Auen nicht – oder nur sehr selten an der Ostgrenze zur Slowakei – vorzukommen scheint, geht die Reise weiter in den Norden. Zumindest ein bisschen weiter, nämlich in das Marchtal, das einzige Gebiet Österreichs, in dem man die Urtica kioviensis noch sicher finden kann. Wenn auch nur an wenigen Stellen, wie die Botanikerin Luise Schratt-Ehrendorfer erklärt. Das erste Mal hat sie die Pflanze Anfang der 1980er-Jahre gesichtet, davor vergingen drei bis vier Jahre, in denen sie nur die Große Brennnessel fand. Unter BiologInnen vermutete man schon, die Sumpf-Brennnessel sei in Österreich möglicherweise ausgestorben, erinnert sich Schratt-Ehrendorfer.

Das Ausbleiben bestimmter Arten ist immer ein erstes Anzeichen dafür, dass sich Standorte verändern.

Luise Schratt-Ehrendorfer, Botanikerin

Just als sie bemerkte, dass sie die nicht auffindbare Nessel an anderen Standorten als die gemeine Brennnessel suchen muss, entdeckte sie das erste Mal ein Exemplar an einer Altwasserstelle – ein typischer Standort für die Urtica kioviensis, die feuchtere Bedingungen benötigt als die Urtica dioica und eine der zehn Pflanzenarten ist, die österreichweit nur im Marchtal vorkommen. Dort besiedelt sie seichte Altwässer und auch tiefe Mulden im Wald, in denen sich Wasser ansammelt. Wegen ihrer Seltenheit und der zunehmenden Trockenheit ist sie im Marchtal aktuell gefährdet, vor allem das Ausbleiben der Frühjahrshochwässer in den Auen, die im Jahresverlauf von wechselndem Hoch- und Niedrigwasser geprägt waren, bedroht die Pflanze und ihre Standorte. »Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn Biodiversität abnimmt, weil dann Ökosysteme aus dem Gleichgewicht kommen können. Bis ein Ökosystem total kippt, kann es aber lange dauern. Das Ausbleiben bestimmter Arten ist immer ein erstes Anzeichen dafür, dass sich Standorte verändern«, beschreibt Schratt-Ehrendorfer den Rückgang der Urtica kioviensis. Dagegen helfen können Renaturierungsmaßnahmen und ein besserer Anschluss der Seitenarme an die March, was zu einer besseren Wasserversorgung in den Marchauen führen und der Art mehr Lebensraum geben würde, sagt Schratt-Ehrendorfer. Das Vermehren und Ausbringen der Pflanze in anderen Gebieten hält sie für Florenverfälschung. »Wir wollen ja, dass sich unsere Wildpflanzen in ihren angestammten Lebensräumen erhalten können.«

Luise Schratt-Ehrendorfer ist Botanikerin, Autorin der österreichischen Roten Liste für gefährdete Pflanzen und auf die Flora und Vegetation Mitteleuropas spezialisiert. Bild: Uni Wien.

Der Natur einen Platz zurückgeben

Ähnlich denkt man im Nationalpark Donau-Auen, in dem die Urtica kioviensis wohl nur ganz selten an der Außengrenze des Areals anzutreffen ist, in weiten Teilen der Donau-Auen derzeit allerdings nicht zu sehen ist. Die letzte Flussauenlandschaft Mitteleuropas erstreckt sich auf einer Fläche von mehr als 9600 Hektar und ist Heimat von mehr als 800 Arten höherer Pflanzen, über 30 Säugetier- und 100 Brutvogelarten, 60 Fischarten, 13 Amphibienarten und 8 Reptilienarten, darunter auch die Europäische Sumpfschildkröte, die in Mitteleuropa als stark bedroht gilt. Im Nationalpark versucht man über Renaturierungsmaßnahmen bedrohten Arten ihren natürlichen Lebensraum zurückzugeben. Dazu gehört auch die Wiederanbindung von Seitenarmen an die Donau durch den Rückbau von Bauwerken.

Der Rückgang der Urtica kioviensis steht sinnbildlich für den zunehmenden Lebensraumverlust von Pflanzen und Tieren und die daraus resultierenden Umbrüche im Ökosystem. Die seltene Brennnesselart ist ständig Veränderungen in ihrem Lebensraum wie Regulierungen von Flüssen und Entwässerungen ausgesetzt. Kommt sie in einem Gebiet in größeren Mengen vor, macht sie das zu einem Indikator für naturnahe Areale. Umso wichtiger ist es, Renaturierungsmaßnahmen zu treffen, die Pflanzen wie der Sumpf-Brennnessel ihren natürlichen Lebensraum zurückgeben. Ob die Urtica kioviensis dann auch häufiger in Österreich, insbesondere den Donau-Auen, zu sehen sein wird, wird die Zukunft zeigen.

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Brennnessel Tipps: Hier findest du (fast) alles, was BIORAMA zum Thema Brennnesseln gesammelt hat – von basic Know-how bis zu Rezepten und High-tech Anwendungen in der Industrie. 

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