Die Kattunfabrik schneidert Solidarität

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© Julian Pöschl

In der einstigen Textilmetropole St. Pölten befindet sich heute die Übungsschneiderei Kattunfabrik. Sie ist Zufluchtsort für Flüchtlinge, Langzeitarbeitslose, Exsträflinge und Pensionisten, die nach einer Aufgabe suchen.

Kattun ist ein glatter, einfacher, dicht gewebter Stoff, traditionell aus Baumwolle. Das Wort stammt vom arabischen Begriff für die weiche Pflanzenfaser ab. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts stand in der niederösterreichischen Landeshauptstadt eine Fabrik, in der ein solcher Stoff hergestellt wurde. Um auf St. Pöltens textile Vergangenheit anzuspielen, nennt sich die im Jänner dieses Jahres gegründete Übungsschneiderei für Flüchtlinge und Menschen, die mit deren Hilfe auf den österreichischen Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen, Kattunfabrik.

„Es geht darum, Kritik von rechts abperlen zu lassen“, sagt Jimmy F. Nagy, Leiter der Übungsschneiderei. Auf die Idee kam er, als er in der Werkstatt der Gebrüder Stitch tätig war. „Die alte Kattunfabrik war was Großes mit Angestellten aus aller Herren Länder.“ Auch die Schneider und Schneiderinnen der heutigen Kattunfabrik kommen aus aller Herren Länder, vornehmlich aus dem nahen Osten. Sie sind im letzten Sommer vor Krieg und Terror nach Österreich geflohen und haben Schneider-Fachkenntnisse mitgebracht, teilweise auf Meisterniveau. In St. Pölten lernen sie den dazugehörigen deutschen Fachjargon.

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Der professionelle Schneider, Jimmy F. Nagy begleitet die Flüchtlinge bei jedem Arbeitsschritt. (Foto: © Julian Pöschl)

180 Stunden dauert das Programm für Menschen, die in den Arbeitsalltag als Schneider oder Schneiderin (zurück-) finden möchten. Am Ende wird man noch auf Bewerbungen und Vorstellungsgespräche vorbereitet. Einer der Schneider hat das Programm bereits komplett durchlaufen und ist nun bereit für eine Anstellung. Doch wie sicher ist es, dass er hier in Österreich einen Job in der Textilindustrie findet? Der Großteil der Bekleidungsproduktion findet woanders statt. In Indien, Vietnam, Bangladesch, wo die Arbeitskräfte billig sind und die Natur genauso als Wegwerfprodukt betrachtet wird, wie die dort massenhaft produzierte Kleidung. Kann eine Schneidereiausbildung made in St. Pölten daran etwas ändern? Jimmy Nagy hofft es zumindest. Er sagt, der Zenit sei erreicht. Billiger kann nicht mehr produziert werden. Mensch und Natur können nicht noch mehr ausgebeutet werden. Er glaubt mit der Kattunfabrik nicht nur für die Schneider und Schneiderinnen, sondern für alle etwas Gutes zu tun, indem er ein Bewusstsein für den Wert von Kleidung schafft. Danach ist es an der Politik und der Gesellschaft Anreize für einen Neuansiedelung der Textilproduktion in Österreich zu sorgen.

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Fast ein Drittel aller Syrer verfügen über Schneiderfachkenntnisse, in der Kattunfabrik werden sie lediglich an den deutschen Fachjargon und eventuell neue, qualitätsorientierte Arbeitstechniken herangeführt sowie mit bürokratiscen Gepflogenheiten vertraut gemacht. © Julian Pöschl

Viele Menschen werden heute auch von der Mainstream Textilindustrie im Stich gelassen. Menschen, deren Körper nicht Standardmaßen entsprechen. Menschen, die sich mit gängigen Verschlüssen und Schnitten schwer tun. Menschen, denen einförmige Modetrends einfach nicht gefallen. Die Kattunfabrik will auch diesen Leuten helfen und setzt dabei auf Qualität statt auf Quantität. Darum wurde eine Kooperation mit dem Club 81, dem Club für Behinderte und Nichtbehinderte gestartet. Die Schneider und Schneiderinnen stellen maßgeschneiderte Hosen für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen her, da diese spezielle Anforderungen an Kleidungsstücke haben, die Billigware einfach nicht erfüllen kann.

Auf die Frage hin, ob die Kattunfabrik von der Stadt gefördert wird, antwortet Nagy, die Übungsschneiderei sei „kein Hilfsprojekt, sondern ein Selbsthilfeprojekt“, das sich selbst erhalten kann. Man wolle keine Almosen von der Regierung. Der Verein finanziert sich durch Beiträge und private Spenden von außerordentlichen Mitgliedern. Eine  Jahresmitgliedschaft gibt einem die Möglichkeit, Projekte zu initiieren, das heißt, man darf maßgefertigte Kleidungsstücke zu einem leistbaren Preis in Auftrag geben. Die Schneider und Schneiderinnen lernen bei der Anfertigung die Fachsprache kennen und üben ihre Fertigkeiten.

So lernen die Schneider und Schneiderinnen in der Kattunfabrik die deutsche Fachsprache. (Foto: © Julian Pöschl)

Nach nur 4 Monaten Kattunfabrik  gibt es dort bereits 11 Schneider und Schneiderinnen aus Afghanistan, Syrien und der Türkei. Insgesamt sind 30 Menschen an dem Projekt beteiligt, außerordentliche Mitglieder, die Spenden und Maßkleidung in Auftrag geben und einige Pensionisten und Pensionistinnen, die den Mittagstisch vorbereiten mitgezählt und das ist erst der Anfang. Es sind noch weitere Projekte in Planung, bei denen auch Jugendliche, die gerade eine Ausbildung abgeschlossen oder auch abgebrochen haben, involviert sein sollen. In Zukunft wird in der Übungsschneiderei nicht nur genäht, sondern auch gedruckt. Jimmy Nagy hegt die Hoffnung, dass das soziale Projekt auch in anderen Städten Fuß fasst. Denn eine Naht ist eine Naht, egal wo sie genäht wird.

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