Radverkehr – das sichtbare Zeichen einer lebenswerten Stadt

Wer in eine fremde Stadt kommt, entwickelt innerhalb kürzester Zeit ein erstes Gefühl für die Umgebung. Gibt es viele RadfahrerInnen, so fühlt sich diese moderner, offener und lebenswerter an – auch für Nicht-Radfahrende. Wien und Berlin arbeiten daran.

Eine Straßensperre in Wien
Eine von »Platz für Wien« organisierte Kreuzungssperre weist auf unsichere Stellen für den Fuß- und Radverkehr hin. Bild: Platz für Wien/Peter Provaznik

Rund 1,25 Millionen Radfahrende wurden im Juli 2020 vom VCÖ – Mobilität mit Zukunft an den 13 Radverkehrszählstellen in Wien gemessen, um rund 17,9 Prozent mehr als im Juli des Vorjahres. Zehn der 13 Zählstellen erreichten dabei den jeweils höchsten Juli-Wert seit Beginn der Zählungen. Keine Frage: Radfahren ist in der Stadt ein Thema – und hat im letzten halben Jahr durch Corona noch mehr Aufmerksamkeit bekommen. Immer mehr meiden, wenn möglich, den öffentlichen Verkehr und steigen auf das Rad um. Außerdem wird in Wien Anfang Oktober gewählt und es gibt allerlei Vorschläge und Versprechen für verschiedene Zielgruppen, so eben auch für die RadfahrerInnen. Die Strategien der Parteien sind nur teilweise eindeutig und es kann schon mal vorkommen, dass die Forderungen einer Radfahrinitiative sich wenig verändert im Programm einer Partei wiederfinden, während es sich dieselbe Partei nicht erlauben kann, die AutofahrerInnen komplett zu vergrämen. Umweltschutz und damit auch Radfahren bekommen in diesem Wahlkampf eine erwartbar größere Rolle zugeschrieben. Diese Aufmerksamkeit nutzen auch Radfahr- und Umweltinitiativen.

Nachrang für den Autoverkehr

Ein beachtenswerter Erfolg ist in den letzten Jahren der Radfahrlobby in Berlin gelungen: Im Mobilitätsgesetz der Stadt aus dem Jahr 2018 wurde dem jahrelangen Drängen von AktivistInnen nachgegeben und festgelegt, dass Verkehrsentscheidungen und Maßnahmen künftig den öffentlichen Verkehr, FußgängerInnen und RadfahrerInnen gegenüber dem Autoverkehr zu bevorzugen haben. Die Weiterentwicklung soll ein stadt-, umwelt-, sozial- sowie klimaverträglich ausgestaltetes, sicheres und barrierefreies Verkehrssystem ermöglichen. Festgeschrieben sind damit unter anderem der Aufbau eines Radwegenetzes und von Radschnellwegen, und der Bau von zusätzlichen Fahrradabstellplätzen. Das Mobilitätsgesetz wurde ursprünglich durch die Initiative »Volksentscheid Fahrrad« des Netzwerks Lebenswerte Stadt e. V. gefordert – aus der Initiative ging in der Zwischenzeit der Verein Changing Cities hervor, der eine menschenfreundliche Stadt in den Mittelpunkt rückt. 600 Millionen Euro will Berlin bis 2030 insgesamt in den Ausbau der Radinfrastruktur und die Förderung des Radverkehrs stecken.

Ein Ziel: Keine Verkehrstoten

Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin von Changing Cities, nennt drei Kernpunkte des Gesetzes: »Erstens: der Vorrang des Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehr. Der stellt bisherige Mobilitätsplanungen auf den Kopf – der motorisierte Individualverkehr ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Zweitens: Das Ziel Vision Zero – also null Verkehrstote und Schwerverletzte – muss höher priorisiert werden. Und drittens: ein stadtweites Netz für Radfahrende mit geschützten Radwegen an Hauptstraßen, ein zusammenhängendes Radnetz auf den Nebenstraßen sowie 100 km Radschnellverbindungen, die PendlerInnen zügig in die Stadt bringen. Für Radfahrende soll es – wie es das ja bereits für den Kfz-Verkehr gibt – ein durchgängiges, sicheres Wegenetz geben.« Wenngleich es aktuell in Berlin auch Kritik an der Stadtregierung gibt, dass die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes zu lange dauere, ist der Schritt, dieses Gesetz so zu beschließen, aber einzigartig und motiviert Plattformen und Netzwerke in anderen Städten, ebenfalls einen neuen Fokus in der Stadtplanung zu fordern. Im Juni 2020 wurden übrigens auch in Berlin neue Rekordwerte gemessen: Mehr als 2,3 Millionen RadfahrerInnen haben die 17 automatischen Dauerzählstellen in Berlin in diesem Monat erfasst – ein Zuwachs des Radverkehrs um mehr als 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Die Grafik zeigt den Anteil der mit dem jeweiligen Verkehrsmittel zurückgelegten Wege in Wien und Berlin. Bild: iStock.com/Booblgum, iStock.com/Greens87.

»Platz für Wien« nennt sich eine aktuell wichtige Initiative in Wien, die sich in fünf Themenbereichen und mit 18 konkreten Forderungen »für eine klimagerechte, verkehrssichere Stadt mit hoher Lebensqualität« einsetzt. Sie lehnt sich an die Volksentscheide in Deutschland an: »Dort sind diese ein rechtliches Mittel für die Bevölkerung, um direkte Forderungen (mit Umsetzungspflicht) an die Politik zu stellen. Übernehmen konnten wir viel von der Vorgehensweise: von der Organisation im Hintergrund bis zum Aktionismus sind viele wichtige Inputs in unsere Initiative geflossen«, so Tomé Hauser, Sprecher zum Thema Radverkehr bei »Platz für Wien«. Ende August 2020 wurde diese Initiative von Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, dem VCÖ und den ÖBB mit dem Mobilitätspreis 2020 ausgezeichnet. Mehr als 34.000 Menschen haben die Forderungen der Initiative bereits mit ihrer Unterschrift unterstützt und »Platz für Wien« ist damit Wiens bisher größte Verkehrsinitiative. Zu den Forderungen gehören unter anderem eine durchgängige und sichere Radinfrastruktur mit mehr Radwegen, Fahrradstraßen, Radschnellverbindungen und Radabstellplätzen.

Tomé Hauser über die Situation in Wien: »Wien hat im internationalen Vergleich sehr starke Kompetenzen in den Magistraten. Diese haben schon viele gute Strategien und Konzepte erarbeitet und der Politik vorgelegt. Wäre zumindest eines der Konzepte – etwa das Fachkonzept Mobilität – ernsthaft angegangen, sprich mit Zahlen und Fristen hinterlegt worden, würde Wien im internationalen Vergleich viel besser dastehen.« Stattdessen sieht Hauser einen »Fleckerlteppich an Insellösungen, wo jeder Bezirk sich selbst profiliert. Die Politik hat stets aufgeschoben und auf den guten öffentlichen Verkehr vertröstet. Dieser ist international hoch angesehen und wird von der Politik als Kompensation zur aktiven Mobilität gesehen. Dem ist aber nicht so. Für eine klimagerechte Stadt muss man im multimodalen Umweltverbund – FußgeherInnen, Radverkehr und öffentlicher Verkehr – denken und handeln.«
Martin Blum ist Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien und Geschäftsführer der Mobilitätsagentur Wien, deren Aufgabe es ist, die Themen Zu-Fuß-Gehen und Radfahren voranzutreiben. Er sieht Initiative von »Platz für Wien« positiv: »Viele der Forderungen von ›Platz für Wien‹ decken sich mit politisch beschlossenen Zielen der Stadt. Die aktuelle Platzverteilung auf vielen Straßen mit Parkspuren ist für uns so gewohnt, dass es manchmal schwerfällt, sich vorzustellen, dass es auch ganz anders möglich wäre. Mit einigen Begegnungszonen und Radwegen sind in den letzten Jahren positive Veränderungen gelungen. Ich bin zuversichtlich, dass die Initiative dabei hilft, die ambitionierten Ziele der Stadt rascher zu erreichen.«

Eine Mahnwache von FahradfahrerInnen
Mahnwachen für bei Unfällen zu Tode gekommene RadfahrerInnen und FußgängerInnen sind Teil der von Changing Cities organisierten Veranstaltungen. Bild: Changing Cities/Norbert Michalke.

Fehlerverzeihende Infrastruktur

Zu den zentralen Anliegen der RadfahrerInnen aller Städte gehört ihre Sicherheit. In Wien sank die Zahl der Verkehrstoten 2019 auf elf, darunter keine RadfahrerInnen. In Berlin gab es heuer mindestens einen Verkehrsunfall mit Todesfolge pro Woche, darunter auch RadfahrerInnen. »Die Zahl der getöteten Radfahrenden steigt. Das liegt zum einen daran, dass es mehr Radfahrende gibt, aber es gibt auch mehr Kfz-Verkehr. Was es nicht mehr gibt, ist Platz. Mehr Sicherheit für Radfahrende heißt Umverteilung des vorhandenen Raumes, und dies kann nur zu Lasten des Kfz-Verkehrs gehen, der im Moment etwa 60 Prozent des öffentlichen städtischen Raumes beansprucht«, erklärt Ragnhild Sørensen die Forderung von Changing Cities, die auch die Initiative »Platz für Wien« teilt.
Dabei gilt eine Trennung der Verkehrsarten als der bei Weitem beste Weg zu mehr Sicherheit. Dies gilt ganz besonders für die Kreuzungen, an denen besonders viele Unfälle passieren – und die nicht nur in Deutschland meist grundsätzlich den Kfz-Verkehr bevorzugen. Auch hier gibt es eine Reihe an Vorschlägen für bauliche Maßnahmen zur Verbesserung.
»Platz für Wien« nennt hier fuß- und radfreundliche Ampelschaltungen und getrennte Signale für Kfz- beziehungsweise Fuß- und Radverkehr oder auch sichere Querungsmöglichkeiten über Hauptstraßen. Changing Cities fordert unter anderem kleine Verkehrsinseln, die Rad- von Autoverkehr trennen und den Kfz-Verkehr beim Abbiegen verlangsamen, Warteräume, die Sichtbeziehungen verbessern, und Querungswege für den Rad- und Fußverkehr, die zurückversetzt sind: »Das Prinzip heißt fehlerverzeihende Infrastruktur. Menschen machen Fehler, aber die Infrastruktur ist so gebaut, dass sie Fehler wie zu hohes Tempo entschärft – etwa durch Bodenwellen. Auch Kreisverkehre ohne Lichtsignalanlagen nach dem holländischen Prinzip bieten Sicherheit, hier ist die gegenseitige Rücksichtnahme und Wahrnehmung quasi in die Infrastruktur eingebaut«, erläutert Sørensen die Vorschläge.
»Wenn multimodal – also mehrere Möglichkeiten des Verkehrs mitdenkend – geplant wird, schließen sich Lücken, die sonst nur durch großen Aufwand geschlossen werden können«, spricht sich Tomè Hauser für eine gemeinsame Planung aus und ergänzt zum Thema Sicherheit: »Dabei darf man nie die kleinste Einheit in einer Stadt vergessen: ein Kind. Fühlt sich ein Kind in einer Straße wohl, fühlen sich alle wohl.« Selbst begeisterte VielradlerInnen werden in Wien vorsichtig, wenn es darum geht, dass ihre Kinder in der Stadt Rad fahren. Martin Blum ist überzeugt, dass hier auch Fortbildung hilft: »Radfahren in Wien ist eine sichere Form der Fortbewegung, wie Unfalldaten zeigen. Es wird aber oft nicht so empfunden, und noch immer sind viele Straßen so gestaltet, dass sie ganze Bevölkerungsgruppen vom Radeln fernhalten. Da gilt es anzusetzen. Mit Radkursen tragen wir dazu bei, dass sich Kinder, Frauen und SeniorInnen fit für den Straßenverkehr fühlen.«

Permanent Pop-up

Sowohl Berlin als auch Wien haben im ersten Halbjahr 2020, in dem der Verkehr allgemein durch den Aufruf, Wohnung und Arbeit nur in dringenden Fällen zu verlassen, weniger wurde, sogenannte Pop-up-Radwege installiert – sie scheinen in Berlin besser angenommen zu werden. Der entscheidende Vorteil in Berlin sei, dass die Pop-up-Radstreifen nicht temporär sind, erklärt Sørensen die allgemeine Stimmung. »Sie heißen zwar so, aber das Temporäre bezieht sich nur auf die Bauart, sie werden im Laufe der Zeit verstetigt. Das Mobilitätsgesetz schreibt bis 2030 die Errichtung von geschützten Radwegen auf Hauptstraßen vor und hier wurden sie angelegt. Wichtig ist auch, dass sie über eine längere Strecke angeordnet wurden: 100 Meter geben keine Sicherheit und überzeugen nicht Menschen, die sich im Verkehr unsicher fühlen.« Sørensen ergänzt: »Wichtig war auch die Anordnung von Lieferzonen, sodass dem Wirtschaftsverkehr Platz zugewiesen wurde. Parallel standen wir in Kontakt zum ÖPNV, damit wir uns gegenseitig unterstützen konnten und nicht gegeneinander ausgespielt wurden. Die Errichtung der Pop-up-Bikelanes fand in enger Absprache zwischen Verwaltung und uns statt; auch das hat zum Erfolg beigetragen.« In Wien scheint die Wiederauflassung der Pop-up-Radwege beschlossene Sache.

Ein Pop-Up Radweg mit Fahrradfahrern
Die »Permanent Pop-Up« Radwege wurden in Wien und in Berlin installiert und sollen im Laufe der Zeit verstetigt werden. Bild: Changing Cities.

Sowohl für Changing Cities als auch »Platz für Wien« ist Radfahren nur ein Beispiel für Bestrebungen in Richtung einer Lebenswerten Stadt. Es geht genauso um FußgängerInnen und den öffentlichen Verkehr und letztlich um mehr als Mobilität. Sørensen: »Das Fahrrad ist ein hervorragendes politisches Vehikel, um die Verkehrswende anzustoßen. Wir sehen, dass die BürgerInnen in den Städten sich eine andere Verteilung des öffentlichen Raumes wünschen; sie sind der Verwaltung und der Politik in diesem Punkt oft weit voraus. Wir nennen es Verkehrswende von unten.«

Auch für Martin Blum sind Investitionen in die Radinfrastruktur eine Klimaschutzmaßnahme: »Wir können unseren Planeten nur schützen, wenn wir die klimafreundliche Mobilität stärken. Das Fahrrad ist dafür bestens geeignet, es ist das Null-Emissions-Fahrzeug. In den nächsten Jahren sind wir herausgefordert, unsere Städte so zu gestalten, dass sich alle – von Kindern bis zu SeniorInnen – beim Radfahren sicher fühlen. Dazu benötigt es mehr Radwege an Hauptstraßen und mehr verkehrsberuhigte Städte und Dörfer als bisher.«
Es sei wichtig, darauf zu achten, dass auch die künftige Generation radelt: »So wie das Schulschwimmen benötigt es eine noch viel stärkere Integration des Radfahrens in den Unterricht. Dafür spricht auch der enorme Gesundheitsnutzen des Radelns im Alltag.« Und auch wenn Mobilität ein lokales Thema ist, so tauschen sich die Initiativen doch aus, lernen von erfolgreichen Beispielen und unterstützen sich gegenseitig: »Der Klimawandel und die zunehmende Urbanisierung machen es essenziell, dass unsere Städte lebenswerter werden«, sagt Sørensen.

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