»Ich habe keine Antworten für dich.«
Der Spielfilm »STYX« thematisiert ein sehr reales Problem: Die Einhandseglerin Rike ringt mit sich und um eine Entscheidung, als sie sich einem schiffbrüchigen Flüchtlingsboot nähert. Der neue Film von Wolfgang Fischer zeigt, wie eine Einzelne mit dem ethischen Dilemma umgeht, helfen zu wollen, aber nicht zu können.
In STYX begibt sich Rike (Susanne Wolff), eine deutsche Ärztin um die vierzig, allein und bestens ausgerüstet auf eine Reise mit ihrer Segelyacht. Vom britischen Überseegebiet Gibraltar an der spanischen Südspitze bricht sie auf. Ihr Ziel ist die von Charles Darwin angelegte Atlantikinsel Ascencion Island: »Unberührte Natur – aber geplant.« Was als Urlaub und Entdeckungstour beginnt, entwickelt sich zu einem inneren und äußeren Kampf der Hauptdarstellerin.
Auf dem Gewässer zwischen Lebenden- und Totenreich
Als sich nach einem heftigen Sturm die Wogen wieder glätten, zeigt sich nahe der senegalesischen Küste, etwa 150 Meter von ihrem Boot entfernt, ein heruntergekommenes Tankschiff. An Bord stehen winkende Menschen, nur schemenhaft zu erkennen, die ihr zurufen und in ihr die erhoffte Rettung sehen.
Als erfahrene Notärztin versucht Rike so zu reagieren, wie sie es für richtig hält. Durch ihren Beruf hat sie sich dazu verpflichtet, Menschenleben zu retten. In ihrem Arbeitsalltag begegnet sie täglich dem Moment zwischen Leben und Tod. Für diesen Grenzbereich steht auch der Filmtitel STYX. In der griechischen Mythologie bezeichnet dieser Name den Fluss der Unterwelt, der das Reich der Lebenden von dem der Toten trennt.
»Sie [Rike] ist ein Held, aber dieses Heldentum ist begrenzt.« – Hauptdarstellerin Susanne Wolff
Die Konfrontation mit dem verzweifelten und durchaus fordernden jungen Afrikaner Kingsley (Gedion Oduor Wekesa) und das Ausbleiben der gerufenen Küstenwache, bringen Rike an ihre Grenzen. Sie gelangt zu der Erkenntnis, dass auch sie als professionelle Helferin keine Antworten für den Geretteten hat und mit der Situation überfordert ist. Um helfen zu können, muss sie zunächst selbst überleben.
Ethisches Dilemma einer Europäerin
Bei STYX handelt es sich um eine deutsch-österreichische Produktion, die unter anderem vom WDR und arte gefördert wurde. Stellenweise zieht der Film sich etwas mühsam dahin, was aber zur beklemmenden Situation der beiden Hauptcharaktere passt. Durch die langsame Bildsprache und die ständige Begleitung der weiblichen Hauptfigur auf dem begrenzten Raum einer elf Meter Yacht, wirkt der Film beinah dokumentarisch.
STYX zeigt die Grenzerfahrung einer Europäerin, die im Angesicht menschlicher Not eine unmögliche Entscheidung treffen muss – und das auf einem von den Gesetzen der Natur beherrschten Gebiet wie dem atlantischen Ozean. Die Geschichte steht beispielhaft für reale Fälle, in denen SeglerInnen in eine solche Situation gelangt sind und sich entscheiden mussten.
»Ich kenne Segler, denen Ähnliches passiert ist. Die haben versucht, so schnell wie möglich wegzukommen. Weil sie wussten: Das schaffen wir nicht. Das kann ich nachvollziehen.« – Regisseur Wolfgang Fischer
Globale Ungerechtigkeit im Kleinen
Selbst wenn der Film politisch an der Oberfläche kratzt, macht er etwas Wesentliches ganz deutlich: Die beiden Hauptfiguren, die beinah symbolisch für Menschen aus Europa und Menschen aus Afrika stehen, sind mit sehr verschiedenen Voraussetzungen aufs Meer aufgebrochen. Mit reichlich Proviant ausgestattet und allein auf einer gut funktionierenden, sicheren Yacht die eine, ohne ausreichenden Vorrat an Lebensmitteln und Wasser, auf einem überfüllten und schiffbrüchigen Fischkutter der andere. Diese ungerechte Verteilung von überlebenswichtigen Gütern wird aber erst in der Konfrontation und Interaktion der beiden Charaktere deutlich sichtbar.
Die erzählerische Perspektive des Films bleibt in erster Linie eine europäische. In dieser kammerspielartigen Szenerie auf offener See steht die deutsche Ärztin im Zentrum des Geschehens. Der/die ZuschauerIn erfährt so gut wie nichts über die Motive oder das Leben der Menschen auf dem Flüchtlingsboot. Sie werden nur durch den verstörten und irrational handelnden Kingsley verkörpert.
Braucht Lebensrettung ein Gesetz?
In einem Interview mit RBBradioeins erzählt Fischer, dass die Arbeit an STYX vor sieben Jahren begann, sich an der Situation auf dem Mittelmeer seitdem aber nichts verändert hat. Für dieses komplexe Problem wurde bisher keine politische Lösung gefunden.
Im Sommer 2011 wurde das Forensic Oceanography-Projekt gestartet. Ein besonderer Fokus des Forscherteams lag dabei auf einem Fall, der unter dem Namen »Left-to-Die-Boat« bekannt wurde. Mithilfe von Überwachungstechnologien wurde rekonstruiert, wie ein Boot mit flüchtenden Menschen an Bord zwei Wochen lang auf dem Meer unweit der lybischen Küste trieb. 63 Menschen verloren in dieser Zeit ihr Leben – unter der Beobachtung der NATO. Das Boot wurde allein gelassen, obwohl sich mehrere Schiffe in der Nähe befanden. – Ganz ähnlich wie in STYX, aber real.
Durch den Bericht von Forensic Oceanography wird das Verhalten der verschiedenen, in dem Gebiet operierenden Akteure offen gelegt. Dabei wird deutlich, wie die komplexen und sich überlappenden rechtlichen Zuständigkeitsbereiche auf dem Meer von den Agierenden genutzt wurden, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Die Motivation hinter diesem Projekt war, verschiedene NGOs zu unterstützen, die von der europäischen Regierung fordern, nicht länger tatenlos beim Ertrinken auf dem Mittelmeer zuzusehen und die Menschen zu retten.
Das (europäische) Privileg, gerettet zu werden
Zu Beginn des Films werden drei Affen bei ihrer Erkundung Gibraltars gezeigt, die sinnbildlich für die berühmten drei Affen mit der Botschaft »nichts sehen, nichts hören, nichts sagen« stehen könnten. Ein Verhalten, dass in einer Situation, wie sie in STYX dargestellt wird, eine mögliche Reaktion ist. Aber ist es eine Angemessene?
STYX ist als Abenteuerfilm angelegt, aber mit politisch aktuellem und brisantem Inhalt. Er wirft Fragen auf, die vermutlich nicht zum Alltag der meisten ZuschauerInnen gehören und trotzdem eine drängende Relevanz haben:
Welche Menschen haben das Recht, (vor dem Ertrinken) gerettet zu werden und welche nicht? Und warum? Wie würde ich in so einer Situation handeln? Was, wenn die Mittel nicht ausreichen, um allen Menschen in ihrer Not zu helfen? Und tun sie das tatsächlich nicht?
Diese Fragen sind keinesfalls einfach zu beantworten. Es geht darum, was Menschlichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte in einem größeren Kontext bedeuten. Es geht aber auch um Zivilcourage und unterlassene Hilfeleistung. Das internationale Seerecht verpflichtet den/die KapitänIn eines Schiffes dazu, die Passagiere sinkender Schiffe zu retten. In STYX versucht Rike das Personal des nahe gelegenen Kreuzfahrtschiffes Pulpca zur Mithilfe zu bewegen. Dieser Einsatz kann für die Schiffsbesitzer aber einige Kosten verursachen.
Die maritime Hilfsorganisation SOS Mediterranee versucht eine praktische Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit den flüchtenden Menschen auf dem Mittelmeer zu geben. Die NGO wurde 2015 von europäischen BürgerInnen gegründet und finanziert sich ausschließlich durch Spenden. Ihre MitarbeiterInnen retten diejenigen Schiffbrüchigen vor dem Ertrinken, um die sich sonst niemand kümmert.
»For the people watching this film I wish their hearts are open for other people.« – Jungdarsteller Gedion Oduor Wekesa
Die humanitäre Organisation gibt den Geretteten auch eine Stimme, indem sie die persönlichen Geschichten dieser Menschen auf ihrer Website veröffentlicht.
Weltpremiere feierte STYX als Eröffnungsfilm der Sektion »Panorama Special« der diesjährigen Berlinale.
Die Premiere in Wien wird während der Viennale stattfinden und ab dem 23. 11. 2018 ist der Film in den deutschsprachigen Kinos zu sehen.