Die Gefängnisinsel Gorgona an der toskanischen Küste ist die letzte Insel ihrer Art. 50 Ge-fangene sitzen dort die letzten Monate ihrer Strafe ab und arbeiten dabei in der Landwirt-schaft. In den Olivenhainen, bei den Schafen, den Schweinen oder im Weingarten.

Die meisten Gefängnisinseln sind heute bestenfalls Museen. TouristInnenattraktionen, die einen Hauch Abenteuer und Todesverachtung versprechen. Eine Führung durch Alcatraz unterscheidet sich kaum von einer Tour in Sea World oder Disneyland. Was bleibt, sind die Namen und die Geschichten. Große Geschichten und große Schicksale. Von Al Capone und dem besagten Alcatraz vor San Francisco. Oder von Nelson Mandela auf Robben Island oder von Alfred Dreyfus, den man – unschuldig – ein paar Jahre auf der Île du Diable vor Französisch-Guayana versauern ließ. Gorgona hat natürlich auch seine Geschichten. Einige handeln von Ausbrüchen oder Ausbruchsversuchen, andere von einer besseren Zukunft.

Gorgona ist die letzte Gefängnisinsel Europas. Die Häftlinge sitzen dort die letzten paar Jahre oder Monate ihrer Strafe ab. Und das sind in der Regel saftige Strafen. Wegen eines Ladendiebstahls oder Steuerhinterziehung kommt niemand nach Gorgona. Wer hier sitzt, hat schon Kapitaleres am Kerbholz. Schwerer Raub, Körperverletzung, Totschlag. Eher diese Richtung. Vom Inselglück von vornherein ausgeschlossen sind Sexualstraftäter, Mitglieder des organisierten Verbrechens (aka Mafia) und Kämpfer der Roten Brigaden. Um die letzte Zeit der Haft auf die Insel zu dürfen, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Gute Führung in den Jahren davor, handwerkliches Geschick, landwirtschaftliche Erfahrung und vor allem »Resozialisierungspotenzial«. Wer nach Gorgona verlegt wird, kann (und muss) anpacken. Die Häftlinge leben hier im offenen Vollzug. Teilweise. Die Fenster sind jedenfalls nicht vergittert, und zwischen dem Gefängnis und den Weinbergen oder Ställen können sich die Insassen frei bewegen. Nur an den Strand zum Baden, das ist ihnen strengstens verboten. Das dürfen nur die Polizisten der Gefängniswache und die GorgonerInnen, die schon immer in dem kleinen Fischerdorf am Hafen der Insel leben.

Der Weinunternehmer Frescobaldi mit seinem Inselwein Gorgona
Stolzer Adel: Marchese Frescobaldi und sein Inselwein. Bild: BIORAMA/ Jürgen Schmücking.

Der Wein des Grafen

2012 hoben Marchese Lamberto Frescobaldi, ein tief in der Toskana verwurzelter Weinunternehmer, und Carlo Mazzerbo, der Gefängnisdirektor von Gorgona, ein soziales Projekt aus der Taufe. Auf etwas mehr als zwei Hektar wird seither ökologischer Weinbau betrieben. Die Reben sind in einem amphitheaterförmigen Kessel gepflanzt, die Rebsorten für den Weißwein heißen Vermentino und Ansonica. Vermentino ist eine uritalienische Rebsorte, die für hocharomatische und frisch-fruchtige Weine bekannt ist, Ansonica eine regionale, eher seltene Sorte, die an der Küste der Toskana beheimatet ist. Die Brise, die vom Meer her durch den Weinberg weht, sorgt für eine gute Durchlüftung der Laubwand und damit auch für ideale Bedingungen für die biologische Bewirtschaftung. 
Mittlerweile wurden auch rote Rebsorten ausgepflanzt. Sangiovese, wie es sich für die Toskana (Chianti, Brunello) gehört, und Vermentino Nero. Allerdings noch in so geringen Mengen, dass die Weine vorerst noch in Terracotta-Vasen ausgebaut werden und am Markt noch nicht verfügbar sind. Anders der Weißwein der Insel. Er wird unter dem Namen Gorgona vermarktet. Auch die Menge dieses Weins ist überschaubar. Die Kellerei der Insel ist eine Garagenkelterei im wahren Wortsinn. Die Fässer stehen dort, wo früher die landwirtschaftlichen Geräte standen. Mehr als 20 sind es nicht. Abgefüllt sind das etwa 3000 Flaschen. Folglich auch nur in ausgesuchten Restaurants und Osterias der Toskana erhältlich. Und bei Händlern, die mit den Frescobaldis freundschaftlich eng verbunden sind. 

Der Weißwein der Insel, in kräftigem Strohgelb mit goldenen Reflexen.
Kühle Strahlkraft. Sensorisch gesehen ist der Wein von Gorgona ein Juwel. Bild: BIORAMA/Jürgen Schmücking.

Es zahlt sich allerdings aus, nach dem Wein zu suchen. Oder zumindest zuzuschlagen, wenn man ihn auf einer Karte oder in einer Vinothek entdeckt. Der aktuelle Jahrgang (2019) ist attraktiv und wild gleichermaßen. In kräftigem Strohgelb mit goldenen Reflexen strahlt er aus dem Glas. In der Nase zwar markant und breitschultrig, dabei aber niemals aufdringlich. Nach einer ersten Fruchtschwade im Aroma sinnliche und verführerische Kräuter der Insel. Überhaupt ist das ein Duft, dem man auf der Insel immer wieder begegnet. Rosmarin, Thymian und Currykraut. Dann hat der Wein noch eine erstaunlich frische und mineralische Note. Beim ersten Schluck offenbart er das geologische Vermächtnis der Insel. Sie ist ein Vulkankegel. Ein Umstand, der sich im Wein widerspiegelt und ihm eine gewisse Spannung verleiht.

Im Bioweingarten auf Gorgona wird von Hand gearbeitet.
Rage against the machine: nur Handarbeit im Bioweingarten. Bild: BIORAMA/Jürgen Schmücking.

Die Häftlinge, die im Frescobaldi-Projekt mitarbeiten dürfen, profitieren mehrfach dabei. Einerseits bezahlt der Markgraf den Sträflingen zehn Euro pro Stunde. Das entspricht dem in Italien üblichen Lohnniveau im Weinbau und ist auch deutlich mehr, als die KollegInnen im Rest der Insel-Landwirtschaft verdienen. Außerdem werden sie laufend von Frescobaldi-MitarbeiterInnen unterstützt. Die etwa anderthalbstündige Fährfahrt zwischen der Hafenstadt Livorno und der Häfeninsel Gorgona ist auch eine Art Berufspendelstrecke für Frescobaldis Önologen und Kellermeister. Die Insassen erlernen dabei die Grundzüge der Arbeit im Weingarten und der Kellerwirtschaft. 20 Männer, die während ihrer Zeit auf Gorgona am Weinprojekt mitgearbeitet haben, hat Lamberto Frescobaldi bereits in seinem Weinimperium aufgenommen. Sie arbeiten jetzt in den Weingütern Tenuta Perano oder Castelgiocondo und machen entweder hervorragenden Chianti oder exklusiven Brunello di Montalcino. Auch der Gefängnisdirektor freut sich über die Zusammenarbeit. Erstens läuft es im Gefängnis harmonischer und ruhiger ab, seit Wein hergestellt wird, und zweitens liegt die Rückfallquote mit 20 bis 30 Prozent deutlich unter dem Schnitt anderer Haftanstalten. Ein Modellprojekt? Auf diese Frage reagieren alle Beteiligten mit Zurückhaltung. Immerhin ist der Vollzug auf Gorgona ein Prestige- und Luxusprojekt für die italienische Regierung. Die Kosten für Bewachung und Infrastruktur sind enorm. Und können durch den Verkauf des Gorgona-Weins nicht einmal ansatzweine hereingespielt werden. 

Ein Arbeiter mit einer Kiste Trauben im Weinberg.
Die Reben stets im Blick. Aber auch die Zukunft, die Freiheit. Bild: BIORAMA/Jürgen Schmücking.

Auf Gorgona leben drei Gruppen von Menschen. Erstens: die Häftlinge. Das sind im Moment etwa 50 Männer im Alter von 30 bis etwa 50 Jahren. Dazu kommen – zweitens – etwa 30 Beamte der Polizia Penitenziaria, die hier Dienst versehen und mit staubigen Geländewägen zwischen Hafen, Gefängnis und der Landwirtschaft pendeln. Und schließlich die GorgonerInnen selbst. Knapp 40 Menschen, die schon immer hier auf der Insel leben. Die meisten von ihnen verbringen nur den Sommer auf Gorgona. Sie suchen die Ruhe, das Abgeschiedensein. Nur ganz wenige leben das ganze Jahr über auf der Insel. Maria, die Fischerin, ist hier geboren. Bei der Frage, wie es sei, mit so vielen männlichen Strafgefangenen Tür an Tür zu leben, muss sie lachen. Die Frage hat sie schon oft gehört. Verstanden hat sie sie nie. Maria kennt es nicht anders. Ob sie manchmal das Gefühl habe, in Gefahr zu sein? Sie schüttelt den Kopf. Gefahr kommt höchstens vom Meer. Was von ihrem Fang nicht auf der Insel verwendet wird, verkauft sie am Markt in Livorno. Sie freut sich. Mit der Fähre, mit der ihre Fische ans Festland transportiert werden, kommen heute auch ihre Töchter. Ob sie nicht auch manchmal den Drang verspüre, von hier fortzuwollen? Ihr Blick schweift über das Dorf. Bleibt am Meer hängen. Maria schüttelt nur unmerklich den Kopf. Sie versteht auch diese Frage nicht. 

Die Insel Gorgona an der toskanischen Küste.
Das Dorf, der Hafen und ein Stück Strand für die InsulanerInnen. Bild: Jürgen Schmücking.

Eine andere Frage, nämlich die, ob es schon einmal jemandem gelungen ist, von Gorgona zu fliehen, beantwortet der Kommandant der Polizia Penitenziaria eher zurückhaltend. Einmal habe einer ein Boot gestohlen und es bis zum Hafen in Livorno geschafft.  Das einzige Boot, das für so ein Abenteuer allerdings infrage kommt, ist das der Gefängniswache. Womit die Flucht recht schnell wieder zu Ende war. Dann gab es noch einen ehemaligen Fremdenlegionär, der sich im Motorraum der Sapore di Sale, der Fähre, versteckt hat. Auch er hat es bis ans Festland geschafft. Allerdings nur bis dorthin und nicht weiter. Einem ist – vor längerer Zeit – die Flucht dennoch gelungen. Wie er das geschafft hat, darüber gehen die Erzählungen auseinander. Gesichert scheint indes, dass er sich Gorgona irgendwie doch verbunden fühlte. Er schrieb seinen Zellengenossen und der Gefängniswache eine Postkarte von – wo immer er eben gerade ist. 

VERWANDTE ARTIKEL