Gefundenes Fressen #2
Hier schreiben Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter über Essen als essentielles politisches und kulturelles Thema. Zum Zweiten.
„ich lauf da her üeber das felt, den winter kalt ich hab kein gelt, wo sollt ich armer schlucker naus, den after winter halten haus.“ Diese Zeilen stammen vom Meistersinger und Spruchdichter Hans Sachs, der im 16. Jahrhundert im damals reichen Nürnberg residierte. Die süddeutsche Stadt profitierte wie keine andere nördlich der Alpen vom Gewürzhandel. Von dort wurden die heiß begehrten Spezereyen aus Fernost höchst profitabel über den deutschsprachigen Raum verteilt. Nicht umsonst stammt der Gewürzlebkuchen aus Nürnberg. Dennoch schrieb Sachs über den armen Schlucker, der am Hunger darbte. Scheinbar kannten Menschen im reichen Nürnberg auch das bittere Los der Armut.
Das Europa des 21. Jahrhunderts tut so, als hätte es die Armut oder zumindest den Hunger überwunden. Als Symbol dieses Zustandes dient der Supermarkt. Allerortens erwarten uns EuropäerInnen riesige Räumlichkeiten, die vom Boden bis zur Decke mit zehntausenden Lebensmitteln gefüllt sind. In jedem mittelgroßen Dorf dürfen wir jederzeit und sofern wir etwas Geld in der Tasche haben das Paradies betreten. Erkennbar ist dieser weltliche Garten Eden an völlig überfüllten Obst- und Gemüseabteilungen direkt hinter den Glasfronten der Geschäfte. Wie wichtig die Präsenz dieser kommerziellen Schlaraffenländer für unser westliches Selbstverständnis ist, zeigt die mediale Auseinandersetzung mit der Armut anderer „Welten“. Filmaufnahmen die den längst vergangen Ostblock zum Thema haben, zeigen zum Beispield die dort leeren Supermarktregale, ein Sujet das uns heute noch kalte Schauer über den Rücken jagt. Regale, die nicht zur Gänze mit Essen vollgeräumt sind, scheinen die Hölle auf Erde darzustellen. Der riesige, überfüllte Supermarkt ist ein Siegessymbol des kapitalistischen Westens.
Seine Akzeptanz verdankt der Supermarkt übrigens der völligen Anonymität, die eben dort KonsumentInnen gewährt wird. Hausfrauen können unbeobachtet Essen, also auch kulturelle Identität einkaufen. Was wir essen zeigt, wer wir sind, also verdeutlicht auch der alltäglich Einkauf unsere kulturellen oder sozialen Hintergründe. Vor der Errichtung des ersten (wirklich großen) Supermarktes in der New Yorker Bronx fühlten sich viele Konsumentinnen vom Kaufmann um die Ecke kontrolliert. Er (er)kannte die Herkunft seiner KundInnen anhand der eingekauften Produkte. Er wusste über finanzielle Potenz Bescheid. Er war der Viertelgeheimdienst. Eine kühle Warenhalle und ein paar wenige KassierInnen waren die willkommene Alternative.
Fraglich ist nur, ob uns diese angebliche Vielfalt, dieses Überangebot, nicht wieder zu armen Schluckern gemacht hat. Verloren im Dickicht der Auswahl und der latenten Angst das Falsche zu essen irren wir durch die Hallen der scheinbaren Individualisierung und konsumieren letztlich ein Gemisch aus Technologie, Industrie und Haltbarkeitsdatum. Der Markt scheint uns zu sagen, was wir zu schlucken haben.
Über Gefundenes Fressen:
Jeder Bissen ist ein politischer Akt. Was wir wann wie und warum essen, kann unwürdige Arbeitbedingungen, Bodenerosion in Zentralafrika oder brennende Amazonasflächen auslösen. Die Frage des täglichen Essens hat nichts mit Diäten, Rezepten oder Gourmetkritiken zu tun sondern mit CO2 Emissionen, Fracking oder Gentechnologie. Jeder Biss ist Kultur. Jedes Schlucken ist Politik. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter wollen in ihrem Blog das Essen als essentielles politisches Thema in der Mitte der Gesellschaft positionieren, weil die Aufnahme der alltäglichen Kalorien nicht nur eine Frage von Genuss und Geschmack sondern auch der Lebenseinstellung und Denkweise einer Gesellschaft ist. Erst das Fressen, dann die Moral? Nein.