Fern von Romantik

Der Begriff »Nachhaltigkeit« umfasst sehr viel mehr als Umweltthemen, wenn man ihn ernst nimmt. Die Stadt Eschweiler hat das verstanden.

Bild: iStock.com/Kruwt.

Auf den ersten Blick ist Eschweiler eine mittelgroße Stadt, wie sie es in Deutschland unzählige Male gibt. 55.000 EinwohnerInnen, viel Industriegeschichte, Stadtteile voller Einfamilienhäuser und eine Handvoll kleinerer Burgen. Und doch besuchen mittlerweile internationale Delegationen die Stadt. Denn sie hat vielen anderen Kommunen etwas voraus: Eschweiler hat einen Plan. Die Stadt, 15 Kilometer östlich von Aachen gelegen, gewann 2019 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie »mittelgroße Stadt«. Und Eschweiler ist vor allem ein Beispiel dafür, wie umfassend der Nachhaltigkeitsbegriff ist, wenn man ihn ernst nimmt. 

Die »mittelgroße Stadt« liegt in Deutschland, hat zwischen 20.000 und 99.999 EinwohnerInnen. Darunter ist es eine Klein-, darüber eine Großstadt. In Deutschland gibt es 619 Mittelstädte, ein Drittel davon liegt in Nordrhein-Westfalen. 

Spricht man über Nordrhein-Westfalen, Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland, fällt schnell der Begriff »Strukturwandel«. Ein großes Wort, und seine Bedeutung ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein wenig verzerrt. Es lässt Assoziationen an das Ruhrgebiet aufsteigen, an rauchende Schornsteine und Männer, die mit schwarz verschmierten Gesichtern aus dem Schacht steigen. Und tatsächlich ist die Metropolregion im nördlichen Nordrhein-Westfalen ein Extrembeispiel. Das heißt aber nicht, dass sich Nordrhein-Westfalen nicht an vielen anderen Stellen zwangsläufig verändert, wenn auch etwas leiser und weniger beachtet.  

Das Ruhrgebiet ist ein Extrembeispiel für den Strukturwandel: Mitte der 50er-Jahre arbeiteten dort knapp 470.000 Menschen in der Kohleförderung, fast noch einmal so viele in der Schwerindustrie. Heute arbeiten in ganz Deutschland noch knapp 20.000 Menschen in der Kohleförderung.

Eschweiler liegt in den weiten, flachen Landschaften des westlichen Rheinlands. Die Wiege des rheinischen Bergbaus liegt hier. Noch ist es das Land der Braunkohle, die mit riesigen Schaufelradbaggern im Tagebau abgebaut wird, die Landschaften verändert und für immer prägt.

Eschweiler stelle sich den Herausforderungen des Strukturwandels besonders erfolgreich, hieß es in der Begründung der Jury für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Deutschland wird bis 2038 aus der Kohle aussteigen und damit viele kleine bis mittlere Städte dazu zwingen, sich wirtschaftlich auf neue Beine zu stellen. So wie eben Eschweiler, das in direkter Nähe zum Tagebau Inden und dem Kraftwerk Weisweiler liegt. 2030 soll Inden »ausgekohlt« werden, wie es in der Fachsprache heißt. Damit verschwinden der Tagebau, das Kraftwerk – mit ihnen 1000 Arbeitsplätze. 

Braunkohle wird in Deutschland aktuell noch in drei (nach mancher Zählung auch vier) Revieren abgebaut: im Rheinischen, im Lausitzer und im Mitteldeutschen Revier. Das Rheinische Revier ist das mit Abstand bedeutendste. 

Die Krise als Chance

Die Stadt beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen, und erarbeitete eine langfristige Strategie. Ursprünglich sollte das Projekt »Eschweiler 2030« heißen – eben in Anspielung auf das Schließungsdatum des Tagebaus. Der Name verschwand, die langfristigen Überlegungen nicht. Im Juni 2018 legte Eschweiler nach zweieinhalbjährigen Beratungen seine Nachhaltigkeitsstrategie vor, die sich an den 17 »Sustainable Development Goals« der Vereinten Nationen orientiert.

Bild: Deutscher Nachhaltigkeitspreis/Ralf Rahmeier.

Beim Begriff »Nachhaltigkeit« denken Menschen vor allem an Umweltthemen. Nachhaltigkeit ist aber ein allumfassender Denkansatz, der jeden Teil des Handelns beeinflusst. »Nachhaltiges, kommunales Handeln muss sozial und ökonomisch sein und die Umwelt schützen, sowohl in Eschweiler als auch in den Ländern des Globalen Südens«, heißt es in der Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt. Das heißt aber eben auch: viele komplizierte Ziele, die sich teilweise widersprechen. Nicht alles, was langfristig gut für die Umwelt ist, ist kurzfristig sozial. Weshalb eine Nachhaltigkeitsstrategie eben breit angelegt sein muss. 

Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis 2019 ging neben Eschweiler (Kategorie »mittelgroße Stadt«) an Münster (Kategorie »Großstadt«) und Saerbeck (Kategorie »Kleinstadt«). Alle Preisträgerkommunen liegen damit in Nordrhein-Westfalen. 

In Eschweiler – aber auch anderswo – erfolgt das durch ein Stufensystem. Zum Beispiel: Ein strategisches Ziel (»Im Jahr 2030 ist Eschweiler für Beschäftigte und nachhaltige, innovative Wirtschaftsunternehmen weiterhin ein attraktiver Standort«) wird in mehrere operative Ziele (»Im Jahr 2030 ist das ›Industriedrehkreuz Weisweiler‹ mit rund 200 Hektar Gewerbe- und Industriefläche (…) entwickelt«) unterteilt und dann mit Maßnahmen unterfüttert. Die operativen Ziele reichen von einer Leerstandsquote unter 5 Prozent über BürgerInnenbeteiligung bei allen Planungsprozessen bis hin zu kleinteiligen Umweltanliegen (»5 Prozent der Eschweiler BürgerInnen engagieren sich im Jahr 2025 in einem Projekt für solidarische, ökologische Landwirtschaft«). Nachhaltigkeit heißt in Eschweiler genauso, 30 Prozent mehr Arbeitsplätze zu schaffen, wie die Hälfte des Verkehrsaufkommens CO2-neutral zu gestalten. 

An manchen Punkten bleibt Eschweilers Nachhaltigkeitsstrategie ein wenig vage (»Es wird geprüft, welche …«), und stellenweise müssen die Maßnahmen auch erst noch entwickelt werden. Dafür sind die Vorgaben an anderen Stellen sehr klar: 2022 sollen städtische Gebäude vollständig mit erneuerbarer Energie versorgt werden. Im aktuell im Bau befindlichen Wohngebiet »Neue Höfe Dürwiß« sollen die CO2-Emissionen gegenüber dem herkömmlichen Siedlungsbau um die Hälfte reduziert werden, zum Beispiel durch wiederverwerteten Beton. Diese Art des Wohnbaus ist ein Prestigeprojekt, dem Eschweiler den Namen »Faktor X«-Strategie gegeben hat. Diese Strategie soll für alle Neubaugebiete gelten. 

Bild: Deutscher Nachhaltigkeitspreis/Ralf Rahmeier.

Unterstützung von oben

Und noch etwas hat Eschweiler, das die Stadt – zumindest für diese Größe – besonders macht: Seit Herbst 2018 schaut Jan Schuster als »Koordinator für kommunale Entwicklungspolitik« darauf, wie es um die Umsetzung der Ziele steht. Schuster ist Geograf, und redet man mit ihm über seine Aufgaben, ist er durchaus Realist. 

Eine bis heute große Herausforderung in Eschweiler sei das relativ geringe Durchschnittseinkommen der Bevölkerung, sagt Schuster, die Bedrohung durch den Strukturwandel sei daher natürlich umso größer. »Jedoch wurde in Eschweiler Nachhaltigkeit von den entscheidenden AkteurInnen, allen voran vom Bürgermeister Rudi Bertram, nicht als eine zusätzliche Bürde, sondern als ein Lösungsweg erkannt.« Für die Umsetzung nachhaltiger Veränderungen sei die Unterstützung der Verwaltungsspitze von entscheidender Bedeutung, sagt Schuster. Insbesondere in kleinen und mittelgroßen Städten werde das Nachhaltigkeitsengagement wohl vielfach davon abhängen, ob es Unterstützung von oben gibt oder nicht. Die Stadt Eschweiler verfolgt das Ziel Nachhaltigkeit weder aus romantischen Gründen noch zum Selbstzweck. Bürgermeister Bertram betont immer wieder, dass er keine Wohlfühlpolitik betreibe: Es gehe darum, langfristig den sozialen Frieden zu erhalten. Und das ist vielleicht noch ein weiterer Aspekt, den Eschweiler zeigt: Gute Nachhaltigkeitsstrategien bieten Menschen nicht nur abstrakten Nutzen in ferner Zukunft, sondern machen ihr Leben ganz konkret besser. Gerade manche notwendige Umweltschutzmaßnahmen seien in der Bevölkerung und der Wirtschaft nicht gerade beliebt, sagt Schuster. »Umso mehr sehe ich Kommunen in der Verantwortung, Nachhaltigkeit den Menschen als etwas Positives zu vermitteln.« Eben Investitionen in Bildungsangebote oder in frühkindliche Betreuung, die Bereitstellung erschwinglichen Wohnraums oder aber auch Projekte zur Erhöhung der Attraktivität von Stadtteilen durch Grünflächen. Auch das sei Nachhaltigkeit. 

BIORAMA #60

Dieser Artikel ist im BIORAMA #60 erschienen

Biorama abonnieren

VERWANDTE ARTIKEL