Nachdenken über Europa
Vom 22.-25. Mai sind die Europawahlen, bei denen rund 325 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger aufgerufen sind, zur Wahlurne zu gehen. Doch so mancher wird sich fragen, ob die eigene Stimme überhaupt von Relevanz ist und ob die gewählten Volksvertreter wirkungsvoll die eigenen Interessen auf EU-Ebene einbringen und durchsetzten können.
Diese und viele weitere Zweifel scheinen zunächst durchaus angebracht. Denn in der Wahrnehmung der Menschen tritt die Politik auf EU-Ebene meist durch negative Schlagzeilen in Erscheinung. Sei es durch die intransparenten Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP mit den USA, den schwachen Aufklärungswillen bei der NSA-Spionage-Affäre, den Umgang mit der Finanzkrise und der Zügelung der globalen Finanzmärkte oder aber manch fragwürdiger EU-Richtlinie, die z.B. den Krümmungsgrad einer Banane festlegt.
Solche Negativmeldungen bestärken das Gefühl einer scheinbar ohnmächtigen Institution, die unfähig scheint, die Interessen der europäischen Gesellschaft gegenüber anderen Staaten und transnationalen Konzernen durchzusetzen. Und obwohl die auf EU-Ebene getroffenen Entscheidungen jeden von uns tagtäglich betreffen, scheint für die meisten die europäische Politik in weiter Ferne zu liegen.
Euroskeptizismus auf dem Vormarsch
Gründe für die wachsende Politikverdrossenheit der Gesellschaft gibt es viele. Die Assoziierung der Europäischen Union mit Negativthemen ist einer davon. Ein weiterer hängt mit dem geringen Werben der großen Parteien für die Wichtigkeit der europäischen Politikebene zusammen. Zwar fallen große Keywords wie „Vertrauen“, „Chancen“ und „Sicherheit“ im Rahmen des Wahlkampfes. Aber hinter diesen, schon beinahe ausgelutschten Floskeln verbirgt sich selten ein wirklicher Diskurs über die zukünftige inhaltliche Ausgestaltung der europäischen Politik. Dieses inhaltliche Luftkissen nutzen viele der europaskeptischen oder -feindlichen Parteien für sich aus. Schon jetzt wird davon ausgegangen, dass rechtspopulistische und europaskeptische Parteien in vielen Ländern einen starken Stimmenzuwachs erfahren werden.
Europa: Ja oder Nein?
Das Aufkeimen solcher europaskeptischen Ansichten ist eine Sache. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten im öffentlichen Diskurs ist eine andere. Momentan steht im öffentlichen Wahlkampf nur eine Frage im Mittelpunkt: Ja zu Europa oder Nein? Die deutsche Satire-Partei „Die Partei“ bringt es mit ihrem Wahlkampfmotto auf den Punkt: Ja zu Europa – Nein zu Europa!
Ist die ganze Wahl eine Farce?
Möglicherweise. Grundlegende Änderungen des politischen Kurses scheinen in weiter Ferne. Konservative Christdemokraten und die Sozialdemokraten verharren in einem profilarmen „Weiter so!“ und die Parteien am rechten und linken Rand werden nach dieser Wahl, trotz zunehmender Wählerschaft, kaum zu einer treibenden Kraft im Wandel einer europäischen Neuausrichtung aufsteigen können.
Sollte man deshalb die Wahl boykottieren und nicht wählen gehen?
Letztendlich bleibt diese Entscheidung jedem selbst überlassen. Aber bevor wir uns – geführt durch Frust und wahrgenommener Ohnmacht – dazu entscheiden, die eigene Stimme verfallen zu lassen, sollten wir uns die Zeit nehmen, einmal richtig über Europa nachzudenken. In was für einem Europa wollen wir eigentlich leben? Abgesehen von den ganzen Negativbeispielen der europäischen Politik: Was sind denn eigentlich die Errungenschaften, die wir dem europäischen Modell zu verdanken haben?
Im Zeichen des Ukraine-Konflikts, der die Gefahr eines innereuropäischen Konflikts in greifbare Nähe bringt und längst totgeglaubte Kalter-Kriegs-Rhetorik wieder einen Aufwind verleiht, sollten wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, dass Frieden und Freiheit längst kein unantastbarer Normalzustand in Europa mehr sein müssen.
Die EU also Demokratie-Baustelle
Ist die EU perfekt, so wie sie ist? Nein, bei weitem nicht! Es gibt ein klares Demokratiedefizit, es gibt verschiedenste Probleme innerhalb der Euro-Zone und innerhalb ihrer Länder. Sei es die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen EU-Ländern, die Frage nach der zukünftigen Energie- und Klimapolitik, nach einer gemeinsamen EU-Außenpolitik, den Umgang mit nordafrikanischen Flüchtlingen, die auf Lampedusa landen, und und und…
Können solche Fragen durch Nichtwählen beantwortet werden? Wohl kaum. Uns sollte bewusst sein, dass es sich bei einem demokratischen Modell dieser Größenordnung um kein starres, unveränderbares Konstrukt handelt. Vielmehr sollten wir alle die Demokratie wieder als ein System begreifen, das ständig angepasst und weiterentwickelt werden muss, damit es die gesellschaftlichen Erwartungen daran erfüllen kann. Viele der politischen Akteure scheinen das im parlamentarischen Trott aus den Augen verloren zu haben. Eine wache Medienöffentlichkeit und eine aktive und kritische Zivilgesellschaft sind hier gefordert. Besonders die Zivilgesellschaft muss sich ihrer Handlungsmacht wieder bewusst werden. Die Reaktionen auf den ersten erfolgreichen europäischen Volksentscheid gegen die Privatisierung von Wasser haben gezeigt, dass die Bevölkerung sehr wohl Druck auf Entscheidungsträger ausüben kann. Um gegen finanzstarke Partikularinteressen von Lobbyverbänden anzukommen, muss sich dieser Druck jedoch weiter erhöhen.
Gesucht: eine aktive Zivilgesellschaft
Egal was man betrachtet: Finanzmärkte, Wertschöpfungsketten der Industrie und des Handels, Umweltschutz, Kommunikation, Lebensmittelsicherheit – nahezu jeder Bereich unseres Lebens ist eingebettet in transnationale Verflechtungen. Kann da ein Nationalstaat allein überhaupt noch wirkungsvoll seine bzw. die Interessen seiner Gesellschaft auf dieser globalen Ebene vertreten? Oder macht es nicht Sinn, Interessen gebündelt in einer transnationalen Demokratie zu vertreten?
Zeit sich zu informieren!
Wenn vom 22. bis 25. Mai die Wahlen sind, dann sollten wir diese demokratische Handlung wahrnehmen. Allein, um deutlich zu machen, dass uns Europa und die getroffenen Entscheidungen nicht egal sind.
Wir sollten uns die Zeit nehmen, die Wahlmöglichkeiten, die Parteiprogramme und Versprechungen anzuschauen. Möglichkeiten dazu gibt es genug. Mögliche Informationsquellen sind z.B. factcheckeu.org, wo man die Aussagen des Wahlkampfes auf ihre Wahrheit prüfen kann. Auf votematch.eu findet man eine Übersicht und Verlinkungen zu allen Wahl-O-Maten in den verschiedenen Ländern um die eigenen Interessen mit denen der Parteien abgleichen kann. Umfassende Analysen mit Schwerpunkt Europawahl gibt es z.B. bei der Süddeutschen Zeitung, ein Europawahl-Spezial bei detektor.fm mit inhaltsvollen Podcasts, oder aber im „jung & naiven“ Interviewformat mit Thilo Jung.
Wir haben die Wahl – also gehen wir hin!
Niemand hat je behauptet, dass Demokratie ein leichtes Unterfangen sei. Wir sollten versuchen, dass der Unmut über politische Entscheidungen, sei es auf nationalstaatlicher oder auf EU-Ebene, bei uns nicht in Ablehnung mündet, sondern dazu anspornt, uns aktiv am Ausbau der Demokratie zu beteiligen.
Weil wir nicht die Gentechnik-Unternehmen entscheiden lassen sollten, wie wir uns in Zukunft ernähren wollen; weil wir nicht allein der Atom- und Kohlelobby die Entscheidung über zukünftige Energiegewinnung überlassen sollten; weil es uns nicht egal ist, wie transnationale Unternehmen aufgrund von Profitmaximierung die Arbeit- und Sozialstandards zurückdrängen – deshalb und aus vielen weiteren Gründen sollten wir wählen gehen und uns aktiv miteinbringen.
Alles andere können wir vor unseren Kindern und Enkelkindern nicht rechtfertigen.