Volle Kanne Leidenschaft

Was bringt eine Familie im fortschreitenden 21. Jahrhundert dazu, in die Milchwirtschaft einzusteigen? Ein Besuch am Biohof von Karin und Josef Heymann im Marchfeld.

Zu sehen sind drei Personen in einem Stall mit Kühen.
Erachten ihre Kühe weniger als Nutztiere, sondern als neue Familienmitglieder: Josef (41), Karin (47) und Josef jr. (9) aus Gänserndorf-Stadt. Bild: Biorama.

Auch zwei Wochen nach dem Drama ist in der Herde keine Ruhe eingekehrt. Immer wieder kämpfen einzelne Kühe gegeneinander. Der Stress liegt in der Luft; die Leitkuh fehlt. »Sie war die intelligenteste von allen«, sagt Karin Heymann traurig. Am Abend vor zwei Wochen hat der neunjährige Sohn der Bäuerin ein Gatter des Laufstalls nur angelehnt. Ein fatales Versehen: Die Kühe sind ausgebrochen und haben sich in der Scheune nebenan über einen riesigen Sack Kraftfutter hergemacht. Ein ganzes Bigpack Getreideschrot haben sie verdrückt. Für die Gierigsten von ihnen war das zu viel. In der Früh waren zwei Kühe gestorben, zwei weitere wurden eilig auf die Veterinärmedizinische Universität gebracht, dort behandelt.
Von Natur aus sind Kühe als Wiederkäuer anatomisch auf Gras und Heu spezialisiert. Getreide-, Mais- und Sojaschrot bekommen sie nur, damit sie mehr Fleisch ansetzen oder mehr Milch geben; in der Biolandwirtschaft zwar deutlich weniger als in der konventionellen Mast oder Milchwirtschaft. Doch auch die Produktion von Biomilch wäre ohne Kraftfutter unwirtschaftlich. Karin und Josef Heymann füttern ihren Rindern nur das Allernötigste an Schrot, aus der Überzeugung, damit das Beste für deren Gesundheit zu tun. Dass Kraftfutter wider die Natur des Rindermagens ist, hat die Völlerei am Bigpack gezeigt. Nun müssen sich die verbliebenen Tiere untereinander eine neue Rangordnung ausmachen. Bald wird es eine neue Leitkuh geben. Dann, hofft Karin Heymann, hat auch die Unruhe im Stall ihr Ende.

Ein Anfängerfehler mit Folgen

Eine kurze Unachtsamkeit, das offene Gatter, ein Anfängerfehler. Die Heymanns sind erst seit kurzem RinderhalterInnen. Und würde Josef nicht zwei große Biobetriebe führen – einen hier im Marchfeld, den zweiten in der nahen Slowakei, beide Ackerbau und mehrere Hundert Hektar groß –, mit denen er alles querfinanziert, dann müsste man die Sache mit den Milchkühen vermutlich gleich wieder sein lassen. Denn auch wenn der Milchpreis zuletzt wieder gestiegen ist: Ein wirkliches Geschäft ist der Verkauf von Milch nur im großen, automatisierten Stil. Zwei tote Kühe, die Kosten für die tierärztliche Behandlung der anderen Tiere, eine durch den Stress über Nacht gesunkene Milchleistung; und nicht zuletzt ist damit zu rechnen, dass einige der trächtigen Kühe durch die Übersäuerung der Mägen noch ihre ungeborenen Kälber verlieren. Das bedeutet erneute Kosten für die Besamung und dass durch die Kälber künftige Milchkühe fehlen und das Geld, das der Verkauf der Mastochsen hereingebracht hätte. All das bringt die Kalkulation auf Jahre durcheinander.

»Alle Tiere werden zwei bis drei Jahre ein schönes Leben haben und viel Zeit auf der Weide verbringen. Wir schlachten aus Prinzip keine Kälber.«

Karin Heymann, Biobäuerin 

Plötzlich ist klar: »Die Kühe bleiben«

Dabei hatten die Heymanns aus Dörfles die Herde erst kurz vor jener Nacht absichtlich verkleinert; kurz nachdem sie diese von ihrem Vorbesitzer übernommen hatten. Mit dem alleinstehenden Biobauern aus dem benachbarten Gänserndorf war vereinbart gewesen, dass sein Fleckvieh verkauft wird, sobald dieser in Pension gegangen ist; dass Josef Heymann seine Felder weiterbewirtschaftet, dass die 60 Hektar einfach in dessen Ackerbaubetrieb aufgehen. Doch dann erkrankte der Alte plötzlich und fiel aus, als in der Nacht zwei Kälber geboren wurden. Josef war bei der Geburt zufällig im Stall, kam nach Hause zu seiner Frau und seine Botschaft war unmissverständlich: »Die Kälber trinken nicht richtig. Entweder wir kümmern uns drum oder sie sterben.« Überlegt wurde nicht. Die ganze Nacht verbrachten die drei Heymanns im Stall. Weil der kranke Altbauer keine Milch zurückbehalten hatte, wurden die Kälber mit pasteurisierter Milch von der Tankstelle gefüttert. Beide Kälber haben überlebt. »Wir haben gemerkt, dass Kühe keine Nutztiere sind, sondern Familienmitglieder«, sagt Karin Heymann. »Die Milchwirtschaft war als Auslaufmodell gedacht«, sagt ihr Mann, »ich habe immer versucht, es ihr auszureden. Aber für Karin war klar: ›Die Kühe bleiben‹.«

Zu sehen sind zwei Personen in einem Kuhstall.
Karin und Josef Heymann Junior. Bild: Biorama.

Klar war aber auch: Die Milch einfach anonym an die Molkerei abzugeben, wie ihr Vorgänger das seit Jahrzehnten getan hatte, das hat für einen Betrieb wie den neu übernommenen keine Zukunft. Dafür bietet die Lage mitten in Gänserndorf, nur ein paar Gehminuten vom Bahnhof der Bezirkshauptstadt entfernt, die Möglichkeit der Direktvermarktung. Immerhin blicken die BewohnerInnen der Wohnblöcke dazwischen von ihren Balkons direkt auf die Kühe, wenn diese draußen auf der Weide sind. Bald war auch klar: Bio allein ist nicht genug. Man wollte radikale Transparenz und den Tieren das bestmögliche Leben ermöglichen. Seither wurde am Hof kein Kalb mehr enthornt und durch die Nachzucht eigener Milchkühe soll in ein paar Jahren die ganze Herde Hörner tragen. Mittlerweile ist der Betrieb auch von Demeter zertifiziert. Nach den strengen Richtlinien des Bioverbands wäre eine Enthornung auch gar nicht mehr zulässig. Außerdem werden die Kälber nicht mehr, wie gemeinhin üblich, kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. »Wir halten die muttergebundene Kälberaufzucht für die beste Lösung für alle«, ruft die Biobäuerin durch den Laufstall, während sie eine Kuh in den Melkstand holt. »Zwar bleibt uns dann eine Zeitlang weniger Milch, dafür haben wir mit den Kälbern weniger Arbeit und die Tiere sind gesünder.«

Keine Tiertransporte, »koste es, was es wolle«

Solche Änderungen erfordern Platz. Und weil mitten im Stadtgebiet nicht einfach erweitert werden kann, wurde die Herde verkleinert. 13 Kühe wurden verkauft. »Wir haben geweint«, sagt Karin Heymann; weil man die Tiere im täglichen Kontakt liebgewonnen hatte; vor allem aber: weil der Familie das Abholen der Tiere und der grobschlächtige Lkw-Fahrer nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen wollen. »Da kommt der Lkw um vier Uhr Früh, die Tiere liegen wiederkäuend im Stall. Schon das Aufdrehen des Lichts ist ein Schock«, erinnert sich der Bauer. Und man hört, dass Josef Heymann die Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt. »Dann werden die Tiere, die tags davor mit einem Spray gekennzeichnet wurden, mit dem Elektroschocker auf den Lkw getrieben. Die kleineren zuerst. Auf dem Lkw mit seinen Zwischenabteilen ist es sehr eng. Und so landen die Tiere dann nach mehreren Stunden auf der Autobahn in einem Schlachthof, auf dem in drei Stunden 250 Rinder geschlachtet werden. Das tun wir keinem unserer Tiere mehr an«, sagt Heymann, «koste es, was es wolle«. Fleisch aus dem Supermarkt kauft die Familie seither nicht mehr.

»Wenn wer bereit ist, einer Milchkuh eine Pension zu finanzieren – sofort!«

Josef Heymann, Biobauer

Seit dieser traurigen Nacht steht für die Heymanns auch fest: »Unser Ziel ist: Kein Tier verlässt den Hof lebend.« Demnächst soll deshalb ein Schlachtraum gebaut oder eine mobile Schlachtbox angeschafft werden. Was bereits feststeht: Man wird kein Kalbfleisch vermarkten, keine Jungrinder schlachten. »Alle Tiere werden zwei bis drei Jahre ein schönes Leben haben und viel Zeit auf der Weide verbringen.« Dass die Weiden der Ochsen außerhalb der Ortschaft sind und die Tiere außerhalb der permanenten Obhut des Menschen schon nach ein paar Wochen fremdeln, erleichtert ihre Schlachtung auch emotional. Bei den Milchkühen, deren Namen und Charakter man kennt, weil sie zweimal täglich gemolken werden, sei das anders. »Ich träume von einem Ruhestand für Milchkühe«, sagt Karin Heymann. »Die Idee wäre, dass besondere Kühe über Patenschaften am Leben bleiben können und nicht geschlachtet werden müssen. Am besten alle, aber das geht wahrscheinlich nicht.« Auch Josef Heymann ist unsicher, ob sich das umsetzen lässt, sagt aber: »Wenn wer bereit ist, einer Milchkuh eine Pension zu finanzieren – sofort!«

Bevor sie am Hof ihres Mannes zur Biobäuerin wurde, arbeitete Karin Heymann nach dem Abbruch ihres Medizinstudiums »in einem völlig sinnlosen Job« – in der Business-Lounge der Austrian Airlines. Heute sagt sie: »Melken ist das Allerbeste.« Bild: Biorama.

New in Town: Milchautomat in Bahnhofsnähe

Wenn Karin und Josef Heymann über die Schlachtung ihrer Kühe reden, ist spürbar, dass sie das Thema so schnell nicht loslassen wird, dass sie den Gedanken an Milchkühe in Pension zumindest weiterspinnen werden. Vorerst aber muss erst einmal die Vermarktung der Milch organisiert werden. Einen Milchautomaten haben sie bereits angeschafft. Nun wird hinter dem Hof eine Zufahrt errichtet, damit die Milch rund um die Uhr abgeholt werden kann.
Auch die eigene Arbeit möchte man wertgeschätzt wissen. »Der Liter Milch wird bei uns jedenfalls mehr kosten als ein Liter Treibstoff«, stellt Josef Heymann klar. »Wem das zu teuer ist, der soll die Milch bitte für jemand anderen dalassen«.

»Ohne Kühe hatten Mama und Papa mehr Zeit für mich. Aber Kühe sind super.«

Josef Heymann junior, 9 Jahre alt

Wer das Fleisch schließlich abnehmen wird, ist noch offen. Verkaufen möchte man am liebsten ganze Schlachtkörper, bevorzugt an die Gastronomie. Immerhin liegt Gänserndorf nur ein paar Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Wien. Unmittelbar in der Gegend gibt es außerdem ein Lokal, das auf Steak und Burger spezialisiert ist; Steak und Faschiertes, so lässt sich ein ganzes Rind verwerten.

BIORAMA BIOKÜCHE 2023 #0

Dieser Artikel ist im BIORAMA BIOKÜCHE 2023 #0 erschienen

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