Eine Zeit der Abkehr
Vor einem Jahr hat sich Marie Ringler entschieden, nicht mehr für die Grünen in der Stadt Wien zu kandidieren. Stattdessen baut sie nun das österreichische Bureau der NGO Ashoka auf, die Social Entrepreneurs fördert. Mit Imre Withalm hat sie über das Projekt, eine Zukunft jenseits der Politik und das Ergebnis der Wien-Wahl gesprochen.
Biorama. Sie haben sich bewusst gegen eine Karriere als Berufspolitikerin entschieden und das obwohl viele Hoffnungen auf Ihnen lagen – war das auch eine Entscheidung gegen Kompromisse?
Marie Ringler. Das war keine Entscheidung gegen die Grünen oder gegen die Politik. Ich habe eine persönliche berufliche Entscheidung getroffen. Ich bin mit 25 in die Politik eingetreten und habe nun zehn Jahre als Politikerin verbracht. Es gibt einen Punkt an dem man in eine Abhängigkeit von Partei und Politik gerät. Ich wollte nie in eine Situation kommen, wo ich keinen Ausweg mehr sehe, wo es nur noch die Politik gibt.
Politik muss viel durchlässiger werden. Um den Graben zwischen den Lebensrealitäten von PolitikerInnen und Menschen zu überwinden. Gerade bei einer Generation von Selbstständigen, die im Prekariat leben. Diese Menschen arbeiten in einer ganz anderen Realität als Berufspolitiker, die gewählt werden und dann vier oder fünf Jahre lang fixes Gehalt beziehen. Wie sollen die nachvollziehen können, dass man sich von Projekt zu Projekt kämpft? Ich finde eine größere Durchlässigkeit sehr wichtig: dass Menschen in der Politik sind, die vorher schon mal in der Wirtschaft waren, oder danach wieder ins Berufsleben einsteigen.
In wie weit kann man politische Überzeugungen auch im Alltag leben? Welchen Einfluss haben individuelle Entscheidungen auf das System?
Grundlegende Systemveränderungen sind notwendig, das ist klar. Zum Beispiel in Hinblick auf den Klimawandel. Aber bis dahin gibt es viele kleine Dinge, die jeder einzelne sinnvoll tun kann. Ob man jetzt alle Glühlampen mit Energiesparlampen austauscht, das Auto vermeidet und mehr Bahn fährt oder versucht nur biologische, regionale Lebensmittel zu kaufen. Ich finde der wesentlichste Aspekt dabei ist, dass es immer auch gilt Zivilcourage zu zeigen. Zivilcourage kann heißen, dass man sich in einer brenzligen Situation – wenn man auf der Straße merkt, jemand wird angegriffen oder es geht jemandem nicht gut – angesprochen fühlt und Verantwortung übernimmt. Auch für jemanden, den man gar nicht kennt. Zivilcourage heißt aber auch mit Freunden darüber zu streiten, welche Entscheidungen man trifft, wenn es darum geht nachhaltiger zu leben. Zivilcourage heißt auch politisch aktiv zu sein. Das meine ich gar nicht parteipolitisch. Das kann auch bedeuten der Hausverwaltung zu schreiben, dass das Haus, in dem man wohnt, unbedingt thermisch saniert werden muss.
Bewusster Konsum hat ja in den letzten Jahren auch ganz reale Veränderungen gebracht: Immerhin verweist der Diskonter Hofer inzwischen auf den ökologischen Fußabdruck seiner Produkte und bietet viele biologische Lebensmittel an.
Sie haben sich dafür entschieden Ihr Leben abseits der Parteipolitik zu gestalten und sind nun Teil von Ashoka – einer NGO, die so genannte Social Entrepreneurs unterstützt. Welche Rolle werden Sie da in Zukunft einnehmen?
Ich habe die Geschäftsführung von Ashoka Österreich übernommen und werde jetzt in den kommenden Monaten das österreichische Büro aufbauen. Ashoka ist eine internationale Organisation, die Menschen unterstützt, die mit unternehmerischem Geist die sozialen Herausforderungen dieser Welt angehen. Das Problem wird von diesen Individuen an der Wurzel gepackt und sie kämpfen für eine nachhaltige Problemlösung.
Diese Social Entrepreneurs erhalten dann drei Jahre lang ein bedarfsorientiertes Lebenshaltungsstipendium um sich voll auf ihr Projekt konzentrieren zu können. Viele der geförderten Menschen beschäftigen sich zehn Jahre später immer noch mit ihrem Projekt und etwa die Hälfte haben auch Gesetzesänderungen auf nationaler Ebene erwirkt. Ich spreche also von wirkungsmächtigen Menschen, Menschen mit einem unternehmerischen Geist – nicht gewinnorientiert, sondern wirkungsorientiert.
Woher stammt das Geld für die Projekte?
Das kommt von privaten Investoren und Stiftungen, wie etwa der Essl Foundation und der Erste Stiftung.
Und wie achtet man darauf, dass diese Investoren die Entscheidungen nicht inhaltlich beeinflussen?
Die Auswahl der Personen, die durch Ashoka unterstützt werden, ist ein langer und intensiver Prozess und verlangt zahlreiche in die Tiefe gehende Interviews und Vor-Ort-Besuche. Ein internationales Gremium muss den Vorschlägen der Länderkoordination konsensual zustimmen und schließlich muss noch unser Aufsichtsrat in Washington D.C. die Wahl bestätigen. So ein Vorgang dauert sechs bis acht Monate.
Aus der Politik auszutreten und Ashoka Österreich aufzubauen scheint ein großer Schritt zu sein. Welche Beispiele solcher Social Entrepreneurs haben Sie geprägt und inspiriert?
Das wäre zum Beispiel Thorkil Sonne, der früher CEO in einem dänischen Telekommunikationsunternehmen war. Als sein Sohn mit drei Jahren mit Autismus diagnostiziert wurde, bermerkte er, dass Autisten zwar in manchen Bereichen – wie dem Verstehen von Emotionen beispielsweise – Schwierigkeiten haben, dafür aber hervorragend bei der Mustererkennung sind und sehr fokussiert und konzentriert arbeiten. Er hat aus dem Wissen um diese Stärken eine Firma mit dem Namen „Specialisterne“ (also “Die Spezialisten”) gestartet, die zum Ziel hat, Jobs, die die Fähigkeiten von Autisten fordern, auch an sie zu vermitteln. Es gibt eben Aufgaben, für die durchschnittliche, sogenannte „normale“ Menschen nicht so geeignet sind, weil sie zu Fehlern neigen. Autisten hingegen haben für solche Aufgaben, gerade im IT-Bereich, häufig ein Talent.
Eine andere Inspiration ist Mary Gordon, die seit Mitte der 90er „Roots of Empathy“ betreibt – eine Organisation, die die Aggression an Schulen reduziert, indem sie Kleinstkinder als „Lehrer“ einsetzt. Das kann man sich so vorstellen, dass diese Babys regelmäßig in den Unterricht von Volksschülern kommen, und dort die Kinder in der Interaktion lernen, welche Bedürfnisse die Babys haben und wie sie sich entwickeln. Durch das Verhalten, dass die Kinder dem Baby gegenüber an den Tag legen, beginnen sie sich auch untereinander anders – sozialer, hilfreicher und weniger aggressiv – zu verhalten.
Sie haben sich offiziell von den Grünen verabschiedet, wie würden Sie das Wiener Wahlergebnis als „normale Bürgerin“ interpretieren?
(Anm.: Die Wiener FPÖ hat mit einem nur als hetzerisch zu bezeichnenden Wahlkampf 27% der Wählerstimmen erreicht. Die Grünen haben, wie alle anderen Parteien, Stimmen verloren.)
Das kann ich nicht. Ich bin Grüne im Herzen.
Aber wie wohl fühlen Sie sich noch in dieser Stadt?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass es so ein Ergebnis in Wien gibt. Es kotzt mich jedenfalls an. Ich denke, wir haben einen Auftrag. Einen Auftrag Schluss zu machen. Es kann nicht sein, dass man immer wieder versucht es den Rechten Recht zu machen. Das ist vorbei.
Wir müssen dem etwas entgegensetzen. Ich habe die Vision einer Stadt in der sich diese 27% [die Strache gewählt haben] nicht mehr fürchten. Und die Lösung dafür sehe ich nur in einer rot-grünen Stadtregierung – die die großen Probleme Wiens angeht – und hier meine ich insbesondere die Bildung. Denn Wien muss eine Stadt der Chancengleichheit werden.