Edelschimmel: Plädoyer für edle Fäule

Das Bild ist aus Klaus Pichlers Fotoreihe „One Third“. Bild: Klaus Pichler/Anzenberger

Das Bild ist aus Klaus Pichlers Fotoreihe „One Third“. Bild: Klaus Pichler/Anzenberger

Edelschimmel ist – im Gegensatz zum »gemeinen« Schimmel – auf manchen Lebensmitteln sogar mehr als erwünscht. Von edlem Schimmel und gutem Geschmack.

Heuer war ein ganz besonderes Jahr. Die Winzer kämpften mit ungeheuren Regenmengen und nie da gewesener Feuchtigkeit im Sommer. Weil die klassischen Krankheiten im Weinberg unter feuchten Umständen fröhliche Urständ feiern, kamen die Rebstöcke gehörig unter Druck. Schimmel – genau das sind diese Krankheiten – ist meist unfein. Wir wollen ihn weder am Weinberg noch in der Hausmauer noch auf unseren Natursauerteig-Broten. Auf der anderen Seite gibt es aber Lebensmittel, bei denen wir uns Schimmel wünschen. Lebensmittel, die es ohne Pilzbefall nicht gäbe oder die zumindest ohne ihn belanglos wären.

Botrytis cinerea – grauer Schimmel, edler Wein

Zugegeben, edelfaule Trauben sehen alles andere als appetitlich aus. Die Idee, sich von Botrytis befallene Beeren in den Mund zu stecken, ist geradezu absurd. Sie wirken grau, vergammelt, unfein. Trotzdem liefern sie die spannendsten Süßweine der Welt. In Österreich hat der Pilz sein Hauptquartier rund um den Neusiedler See. Um die Stadt Rust und im Seewinkel wachsen edelsüße Weine, die mit den besten der Welt mithalten. Wie kommt es aber, dass aus Trauben, die grauslich und zermatscht aussehen, grandiose Weine werden? Die Grundidee bei süßen Weinen ist immer die gleiche: Irgendwie muss Wasser aus der Beere raus, der verbleibende Most ist konzentrierter, der Wein später süßer. Dazu kann man die Trauben entweder lange hängen lassen, trocknen oder auf den ersten Frost warten. Oder man hat Botrytis. Die Enzyme dieses Pilzes bohren hauchdünne Löcher in die Beerenhaut, durch die Wasser verdunsten kann. Das ist  zwar eine Grundvoraussetzung, aber bei Weitem nicht das Einzige, das der Schimmel leistet. Innerhalb der Beere beginnt ein mikrobiologischer Stoffwechselprozess, bei dem der Pilz Zucker und Säure in Glycerin und andere Inhaltsstoffe verwandelt und dadurch den Charakter des Mosts massiv verändert. Genau hier entsteht der zauberhafte Honigton, der für diese Weine später so markant sein wird. Botrytis-Weine sind anderen Weinen immer eine Nasenlänge voraus. Sie sind immer eine Spur (oder mehrere Spuren) komplexer und tiefgründiger als ihre Kollegen, die Eis-, Stroh- oder Südweine. Im Idealfall offenbaren sie ein breites Spektrum an Aromen das von fruchtigen Noten (Marille, Pfirsich, Maracuja) über dezent würzigen Duft (Kardamom, Pfeffer) hin zum Honig geht. Wobei bei den wirklich guten Tropfen sogar zwischen feingliedrigen Blütenhonignoten und rustikal-derben Waldhonigtönen unterschieden werden kann. In jedem Fall ist die Botrytis cinerea ein Schimmelpilz, auf den wir beim Wein (bei ganz bestimmten Weinen wohlbemerkt) nicht verzichten möchten.

Penicilinum roqueforti – blauer Schimmel, großer Käse

Blauschimmelkäse ist gewiss nicht jedermanns Sache. Neben wirklich reifen, alten Sorten sind die Bleus der Welt die intensivsten Käse-Erfahrungen, die man machen kann. Wir sprechen hier auch nur von einem ganz bestimmten Schimmelpilz. Dem, der für die kleinen grün-bläulichen Strukturen im Käse und sein unverwechselbar kräftiges Aroma verantwortlich ist: Penicilinum roqueforti. Die Präzisierung ist wichtig, weil es auch noch den weißen Schimmel (Penicilinum candidum oder Penicilinum camemberti) gibt, der beim Camembert oder Brie für die weiche, weiße Außenrinde (und das zart nussige Aroma) zuständig ist. Es geht hier also um den Blauschimmel. Wir finden ihn in den größten und besten Käsen der Welt: im englischen Stilton, im spanischen Calabres, im Bleu d’Auverne aus den französischen Pyrenäen und im Steirerschimmel aus Frauental. Der Herstellungsprozess ist eigenwillig. Traditionell werden die Pilzkulturen auf Brotlaiben gezüchtet. Am Ende dieses Vorgangs ist der Brotlaib komplett vom Pilz durchzogen. Die Laibe werden getrocknet, gemahlen und mit etwas Wasser wieder verflüssigt. Danach werden die jungen Käselaibe damit geimpft. Bei manchen Sorten kann man die Einstichlöcher der langen Metallnadeln noch erkennen. Pilz und Käse reifen also gemeinsam und entwickeln ein zwar markant-kantiges, letztlich aber ungemein harmonisches Ganzes.

Penicillium nalgiovense – weißer Schimmel, königlicher Schinken

Eigentlich war Penicilinum nalgiovense der Feind. Der Schimmelpilz wurde ursprünglich als Sündenbock für den Verderb von Käse überführt. Später wurde er rehabilitiert, weil seine positiven Eigenschaften als Veredler von Salami und Co. erkannt wurden. Erstens – und da steht er seinen Brüdern Botrytis und Roqueforti um nichts nach – wirkt er aromaverstärkend. Durch ihn wird die Salami vollmundiger, fleischiger, nussiger, kräftiger. Das hat auch mit der Durchlässigkeit der Wursthaut zu tun. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Kultur recht dicht und gleichmäßig wächst. Penicilinum nalgionvense bildet daher eine Phalanx, eine Art Schutzwall gegen schädliche Pilze. Die absolute Krönung schimmelpilzbedingter Geschmackskonzentration ist der Culatello di Zibello. Das ist eine luftgetrocknete Rohschinken-Delikatesse aus der italienischen Po-Ebene. Der Schinken kommt von kleinwüchsigen Nera-Parmigiana-Schweinen, die sich (fast) ausschließlich von Kastanien und Eicheln ernährt haben. Der Schinkenwerdungsprozess ist komplex, im Kern steht aber eine Reifedauer in warmen, feuchten Kellern. Wer jemals im Reiferaum eines Betriebes gestanden ist, bei dem der noble Schinken von der Decke hängt, wird das Ringen um Luft in diesem Milieu nicht wieder vergessen. Diese Räume sind für den Edelschimmel geschaffen, hier breitet er sich aus und bevölkert den – mittlerweile in eine Schweineblase gehüllten – Schinken. Die Enzyme dringen durch die Haut der Blase ein und sorgen für ein unvergleichliches Aroma und dafür, dass der Culatello di Zibello als »König der Schinken« gehandelt wird – entsprechende Kilopreise inklusive.

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