Die Kuh beim Namen nennen
Miteinander, miterleben, mitanpacken. Ruhe und Abenteuer, das erhoffen sich viele Gäste von einem Urlaub am Bauernhof. Der Erlebnishunger der UrlauberInnen ist aber oft schwerer zu stillen als der Hunger der Kühe im Stall.
Österreichweit bieten 9895 Betriebe Urlaub am Bauernhof an. Damit stehen auf landwirtschaftlichen Betrieben insgesamt 113.764 Gästebetten zur Verfügung, was wiederum etwa neun Prozent des gesamten touristischen Bettenangebots in Österreich entspricht. Der von Martina und Jürgen Rosinger betriebene Bauernhof Dissauer im niederösterreichischen St. Corona ist einer davon. Erst vor Kurzem entdeckte Martina ein mit dem Jahr 1937 datiertes Foto, das Gäste bei der Arbeit am Hof zeigt. »SommerfrischlerInnen, die bei der Arbeit am Hof mitgeholfen haben, um sich ihren Aufenthalt auf dem Bauernhof zu finanzieren«, wie sie erklärt. Gäste waren am Bauernhof Dissauer also schon immer willkommen, vor allem dann, wenn sie keine Scheu davor hatten, einfache Aufgaben am Hof zu übernehmen.
»Das ist heute bei uns übrigens immer noch so«, fügt die Bäuerin hinzu und lacht. Doch erst als 1978 das große Bauernhaus umgebaut und der Gästebereich erweitert wurde, begannen Martinas Eltern damit, ganzjährig Zimmer mit Frühstück anzubieten. Sie selbst übernahm den Betrieb im Jahr 2011 und startete zunächst mit geringen Erwartungen in das Projekt Urlaub am Bauernhof. »Letztlich hat sich alles aber sehr viel intensiver entwickelt, als ich anfangs dachte. Die Gästeanfragen rissen nicht ab, ich konnte meinen ursprünglichen Beruf aufgeben und mich zu hundert Prozent auf meine Arbeit mit den Gästen konzentrieren. Unser Ziel, das gesamte Einkommen aus dem Betrieb zu erwirtschaften, haben wir damit erreicht.«
Vom zweiten Standbein zur wichtigsten Einkommenssäule
Eine ähnliche Geschichte hat Petra Tappeiner zu erzählen. Seit sie 2001 den Oberniederhof von ihren Schwiegereltern übernommen hat, ist es ihr gelungen, den im Schnalstal in Südtirol gelegenen Hof als beliebte Urlaubsdestination für Familien, Paare und FreundInnen zu etablieren. »Ich habe darin vor allem eine Chance gesehen, zusätzliches Geld zu verdienen, um damit längst notwendig gewordene Investitionen möglich zu machen. Obwohl uns damals davon abgeraten wurde, haben wir zunächst mit einer einzigen Ferienwohnung begonnen. Mittlerweile sind es zwar drei Wohnungen, ich finde es aber nach wie vor beachtlich, dass wir mit der ersten Ferienwohnung in einem Jahr genauso viel verdient haben wie mit unserer Milchwirtschaft«, erklärt die gebürtige Berlinerin.
Für Christine Wechselberger und ihre Familie sind die insgesamt 20 Betten ihres Zillertaler Bauernhofs überhaupt zur Haupteinnahmequelle geworden. Damit liegt der von der Familie Wechselberger betriebene Badererhof sogar etwas über dem Durchschnitt: Wie eine vom Institut für Grundlagenforschung und dem Bundesverband Urlaub am Bauernhof im November 2018 durchgeführte Vermieterbefragung zeigt, können HofbetreiberInnen durchschnittlich etwa 35 Prozent aus dem Betriebszweig »Urlaub am Bauernhof« erwirtschaften.
Hans Embacher, der den Verband seit seiner Gründung im Jahr 1991 leitet, führt das unter anderem auch auf die kontinuierlich steigenden Zimmerpreise zurück: »Seit 1991 sind die Preise für ein Zimmer pro Nacht um 182,4 Prozent gestiegen. Im Gegensatz zu anderen landwirtschaftlichen Betriebszweigen stagniert dieser Preis also nicht, sondern entwickelt sich stetig nach oben. So kommen viele HofbetreiberInnen ihrem Ziel, ausschließlich vom eigenen Hof zu leben, deutlich näher.«
Leicht getrübter Erwartungshorizont
2262 der knapp 10.000 Betriebe sind Teil des Bundesverbandes Urlaub am Bauernhof. Mitglied kann allerdings nur werden, wer eine aktive Landwirtschaft betreibt. Wie Embacher erklärt, gibt es dafür vor allem einen wichtigen Grund: »Die Gäste möchten miterleben, was sich auf der Landwirtschaft abspielt. Während es vielen Gästen früher in erster Linie darum ging, einen günstigen Urlaub mit der Familie zu verbringen, steht für die meisten mittlerweile das Erlebnis im Vordergrund.«
Geht es nach Petra Tappeiner, kann jedoch genau das zum Problem werden. Ihre eigenen Erfahrungen haben ihr gezeigt, dass der Erlebnishunger ihrer Gäste nicht immer dazu führt, dass am Ende des Tages weniger hungrige Kühe im Stall stehen. »Wenn mehr Hände hingreifen, bedeutet das nicht unbedingt, dass die Arbeit weniger wird. Außerdem erwarten sich viele Eltern, die mit ihren Kindern zu uns kommen, dass die Kinder bespaßt werden, während sie in den Liegestühlen die Sonne genießen. Diesen Zugang finde ich falsch, außerdem werden Wege deutlich länger, wenn ständig Kinder um einen herumwuseln. Ich fände es besser, wenn Eltern und Kinder ihre Zeit hier bei uns gemeinsam verbringen.« Genährt werden Erwartungen dieser Art meist von fixen Vorstellungen vom Leben auf dem Bauernhof, die sich wiederum aus Darstellungen in Bilderbüchern zusammensetzen.
Ein eigenes Bild machen
Auch auf dem Hof der Familie Rosinger passen die Erwartungen der Gäste nicht immer vollständig in die von der Realität gezeichneten Schablonen. So erinnert sich Martina Rosinger zum Beispiel daran, dass vor einiger Zeit eines der Gästekinder beim Anblick ihres Mannes die verdutzte Frage gestellt hat, ob das nun »wirklich der echte Bauer« ist. Dass sich die tägliche Arbeit des »echten Bauern« in vielen Situationen deutlich von den Darstellungen im Bilderbuch unterscheidet, bekommen die Kinder mit ein bisschen Glück während ihres Urlaubs aber auch mit. Wie Martina Rosinger hat auch Christine Wechselberger gleich mehrere konkrete Situationen im Kopf, in denen die Kinder mit der Kluft zwischen Erwartungshaltung und Realität zu kämpfen hatten:
»Wenn ein Schaf zum Metzger kommt oder ein Hasenbaby tot im Käfig liegt, gehört das aber einfach auch dazu.« In der eigenen Kommunikation ein möglichst klares, realitätsnahes Bild des Betriebs zu zeichnen kann dabei helfen, zu verhindern, dass Erwartungen und Wirklichkeit zu stark auseinanderklaffen, erklärt Hans Embacher. Auch beim Verband selbst bemüht man sich darum. Dennoch kann es vorkommen, dass Erwartungen enttäuscht werden. »Wir erleben das immer wieder bei Gästen, die während der Sommermonate auf einem Tiroler Bauernhof Urlaub machen möchten. Die Kühe sind dann in der Regel auf der Alm, was wiederum bedeutet, dass der Stall nicht voller Tiere ist und die Kinder nicht, wie erwartet, bei der Fütterung mithelfen können.
Viele Tiroler Bauern und Bäuerinnen schaffen sich deshalb auch andere Tiere wie Ziegen oder Hasen an.« Petra Tappeiner ist dann zufrieden, wenn sie von ihren Gästen, von denen viele aus deutschen Großstädten kommen, ein »das ist ja wirklich so wie auf den Bildern« hört, sie aber gleichzeitig auch gemerkt hat, dass sie sich ihr eigenes Bild vom Leben auf dem Oberniederhof gemacht haben. Dass dieses Bild meistens nicht ganz den Zeichnungen aus den Bilderbüchern entspricht, stört sie dabei nicht.
BIORAMA #59