Design für eine alternde Gesellschaft
Das Label „Alte Liebe“ lässt stylische Mützen im Seniorenheim produzieren, und das ist eine verdammt gute Idee. Der demografische Wandel stellt neue Anforderungen an Gestaltung und die gesellschaftliche Einbindung alter Menschen. Wie Lösungen aussehen können, zeigen zwei junge Designerinnen.
Surfer und viele andere junge Leute tragen gerne Häkelmützen, und viele Seniorinnen häkeln gerne, oft und gut. Da macht es doch Sinn, verschiedene Generationen zusammenzubringen. Diesen Gedanken haben Elisa Steltner und Nadja Ruby zu einer innovativen Geschäftsidee ausgebaut. Die Kasselerinnen haben ihr Sytem-Design Studium mit der gemeinsamen Diplomarbeit „Design als Erfolgsfaktor einer Unternehmensgründung“ abgeschlossen. Naheliegenderweise führte das gemeinsame Projekt auch tatsächlich zu einer Firmengründung, und was dabei entstanden ist, ist ein interessantes Geschäftsmodell – und ein Beispiel für konsequent umgesetztes Inklusives Design.
Die Idee hinter „Alte Liebe“ ist es, Lebensqualität mit sinnstiftenden Tätigkeiten im hohen Alter und Wertschätzung zwischen unterschiedlichen Generationen zu verbinden. Das bedeutet praktisch, dass die Mützen von „Alte Liebe“ in Handarbeit von Seniorinnen gefertigt werden. Wer eine Mütze erworben hat, kann per Postkarte, die jedem der Unikate aus Merinowolle beiliegt, mit der Häklerin in Kontakt treten. Im Jahr 2010 gingen Elisa Steltner und Nadja Ruby mit ihrer Idee auf die Suche nach begeisterten Häklerinnen in verschiedenen Seniorenwohnanlagen, und wurden schnell fündig, erzählt Nadja Ruby: „Die Damen waren neugierig, absolute Handarbeitsexpertinnen und glücklich, Zeit mit jungen Leuten zu verbringen. Durch ihre Hilfe entwickelten sich weitere Details.“ Dass alte Damen im Seniorenwohnheim modische Mützen im Surfer-Style häkeln, mag überraschen. Doch in Stilfragen sind die meisten der Damen nach jahrzehntelanger Häkelpraxis durchaus versiert, weiß Ruby zu berichten: „Die Muster denken sich die Damen selbst aus. Die Auswahl der Modelle Baggy, Sport, Fischermütze und Stirnband sind in Zusammenarbeit mit den Damen entstanden. Wir haben zunächst das Modell Baggy vorgestellt. Auf Begeisterung ist dieses Modell erst gestoßen, als die Damen gemerkt haben, wie beliebt dieser Schnitt ist. Den Schnitt für die Fischermütze haben die Damen selbst ins Spiel gebracht. Wir haben sie in der Verkauf genommen und siehe da: Verkaufsschlager!“
Die Mützen von „Alte Liebe“ gibt es in einem eigenen Webshop zu kaufen, sowie bei Vertriebspartnern in Kassel, Göttingen und Leipzig. An der französischen Atlantikküste vertreiben zwei Surfshops die Unikate.
„Die Kunst der Empathie ist die Vorraussetzung für gute Gestaltung“
Seniorinnen und Senioren zu einer sinnvollen Tätigkeit zu verhelfen, ist für Elisa Steltner und Nadja Ruby durchaus eine Aufgabe für Designerinnen und Designer: „Die Themen alternde Gesellschaft, Isolation im Alter, etc. sind allgegenwärtig. Und mit den Problemen der Gesellschaft setzen sich Designer auseinander. Sie sind nicht mehr nur die Handwerker mit der Lizenz über Ästhetik zu entscheiden. Design besteht ebenso aus einer starken, strategischen, immateriellen Komponente. „Alte Liebe“ spielt eine große Rolle für unser Engagement für ältere Menschen.“
Die soziale Integration von Seniorinnen und Senioren ist auch Motiv eines zweiten Projekts der beiden Designerinnen. Seit Januar 2013 vertreiben sie den Alterssimulationsanzug „adit“. Dass Design die Bedürfnisse körperlich eingeschränkter Menschen mitberücksichtigt, ist für die beiden ein Kriterium für qualitatives Design: „Die Kunst der Empathie, das Einfühlen und Nachempfinden in Erlebnisse anderer ist die Vorraussetzung für gute Gestaltung. Also kann es nur ein Mehrwert sein, wenn Deisgner jegliche Art dieser körperlichern Erfahrung machen.“
„Alte Liebe“ und „Adit“ folgen dem Konzept des Inklusiven Designs, zu verstehen als Gestaltung, die den Bedürfnissen von Produzenten und Anwendern entgegenkommt, und dabei gesellschaftliche Diversität anerkennt und versucht, die soziale Inklusion zu fördern. In einem Interview mit dem schwedischen Design-Aktivisten Finn Petrén, das BIORAMA vor einigen Wochen an dieser Stelle geführt hat, hat der Präsident der Organisation „Design for All“ die Kriterien für gutes, inklusives Design benannt: „Eine gute Design-Lösung sollte eine Reihe von Qualitäten aufweisen. Eine davon ist es, für möglichst viele unterschiedliche Leute nutzbar zu sein. Der Beitrag eines bestimmten Designs zur sozialen Inklusion ist damit ein wichtiger Indikator für Qualität. Um es kurz zu sagen: Gutes Design ermöglicht, schlechtes Design behindert.“ „Alte Liebe“, setzt somit auf Gestaltung, die über Ästhetik hinausgeht, und auf Design das gut ist.