Ein Leben als Experiment

Vor 150 Jahren starb Henry David Thoreau, Schriftsteller, Bürgerrechtler und Vorreiter einer ökologisch motivierten Gesellschaftsreform. Sein Einfluss ist jedoch bis heute ungebrochen. Die Kunsthistorikerin und Amerikanistin Eva Ehninger im Interview über Thoreaus Bedeutung für den amerikanischen Transzendentalismus und die literarische Form der Natur.

BIORAMA: Für Thoreau ist die Natur einer der zentralen Beweggründe für sein Schreiben. Im Ecocriticism der Amerikanistik wurde die Bedeutung der Natur im westlichen Denken auf das Schaffen Thoreaus zurückgeführt. Wie ist Thoreaus Beziehung zur Natur beschaffen?

Eva Ehninger: Für Thoreau ist die Naturerfahrung essenziell, denn er beschreibt die Analyse der Natur und die Analyse des Selbst als ein und dieselbe Aufgabe. Naturerfahrung und Selbsterfahrung sind für ihn identisch, die individuelle Beziehung zur Natur also ein (überlebens)wichtiges Ziel des selbstbestimmten Individuums. Gleichzeitig ist Thoreau der Pragmatiker unter den Transzendentalisten. Aufbauend auf den Überzeugungen seines Lehrers und Freundes Ralph Waldo Emerson hat er dessen noch deutlich stärker vom deutschen Idealismus geprägtes Naturverständnis auf seinen Gebrauchswert hin untersucht und durch diese Lebensnähe – den Fokus auf die materiellen Eigenschaften und Dynamiken der Natur – eine besondere Form des amerikanischen Transzendentalismus geprägt. Thoreaus Aufenthalt am Walden Pond war als Experiment geplant; sein Rückzug in die Natur war von vornherein auf Rückkehr angelegt.

Welche Berührungspunkte ergeben sich zwischen Thoreau und der amerikanischen Kunst der 60er- und 70er Jahre, ihrem Forschungsgebiet?

Es ist eindeutig, dass Thoreau, vermittelt durch Künstler wie den Musiker John Cage oder den Tänzer Merce Cunningham, großen Einfluss auf Vertreter postmoderner künstlerischer Praktiken wie dem Happening, der Performance- oder Body Art sowie der Land Art hatte. Thoreaus Kritik an einer Trennung von Erfahrung und Erkenntnis und seine Neufassung der ästhetischen Erfahrung ist für die nach- und postmodernen Künstler von großer Bedeutung.

Welche Fiktionalisierungsstrategien benützt Thoreau in »Walden«, um seinen rund zweijährigen Aufenthalt in der Blockhütte am See bei Concord in Literatur zu verwandeln?

Thoreaus Lebensbeschreibung ist erstens Teil einer literarischen Bewegung, die in Europa schon Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und als Demokratisierungstendenz wahrgenommen wurde: die romantische Autobiografie. Dieses neue Schreiben über sich selbst ist insgesamt ziemlich revolutionär. Es erlaubt, dass Thoreaus exzentrisches Lebensexperiment am Walden Pond in Buchform gewürdigt werden kann. Sein autobiografischer Bericht nimmt eine seltsame, aber schon für den zeitgenössischen Leser extrem attraktive Zwischenstellung zwischen Wissenschaft und Literatur ein. Thoreau hat seinen zweijährigen Aufenthalt auf ein Jahr zusammengekürzt und seinen Text um den Wechsel der Jahreszeiten strukturiert. Außerdem gibt er den Kapiteln von »Walden« Rhythmus, indem er sie in Gegensatzpaaren gliedert: »Reading« und »Sounds«, »Solitude« und »Visitors« und so weiter. Naturphänomene wie beispielsweise das Blatt werden von ihm als konstante Chiffren in Tieren, Pflanzen, Mineralen ebenso wie in Flüssigkeiten oder Kristallen erkannt. Die ständig in Verwandlung begriffene Welt mit ihren unzählbaren Formen findet in seinen manchmal assoziativen Aufzählungen eine literarische Form. Diese stilistischen Experimente sollen aber nicht darüber wegtäuschen, dass ganze Passagen von »Walden« so technisch und trocken klingen wie die Notizen eines Landschaftsvermessers – diese Arbeit hat Thoreau tatsächlich eine Weile ausgeübt.

Wie würde Thoreau sein Leben in der vorangeschrittenen Postmoderne gestalten?

Thoreau war nicht naiv, ihm war bewusst, dass er selbst durch Moderne und Industrialisierung  geprägt war. Seine Hütte am Walden Pond stand in unmittelbarer Nachbarschaft zum Städtchen Concord, er sah Stromleitungen und hörte den Verkehr. Ökonomie und Effizienz gegenüber der eigenen Lebensenergie waren ihm wichtig und ich denke, dass er das auch heute als entscheidend empfinden würde. Thoreau schlägt ja keinen kompletten, eskapistischen Rückzug in eine utopische, längst verlorene Naturwelt vor, sondern stattdessen regelmäßige Experimente an sich selbst. Er formuliert den klaren Auftrag, die Sinne zu schärfen, genau hinzuschauen, und sich langsam und aufmerksam seinen selbst gewählten Raum zu erschließen, ganz unabhängig davon, wie die Welt sonst aussieht. Ich denke, dieses Credo würde auch heute gelten.

 

*Eva Ehninger leitet diesen Herbst ein interdisziplinäres Kolloquium zu Thoreau an der Universität Bern.

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