Das System Fleisch
Das System Fleisch – im Spannungsfeld von Ideologie und Agrarindustrie. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Pirklhuber
Kaum ein Lebensmittel steht emotional und ideologisch so hoch im öffentlichen Diskurs wie Fleisch. Seit die Bilder von verletzten, erkrankten und zusammengepferchten Tieren aus der agroindustriellen Haltung durch kritischen Journalismus und tierschützerisches Engagement beginnend in den späten 70er und den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in die Dokumentationsserien der großen europäischen Medien Eingang gefunden haben, ist diese Diskussion nicht mehr abgerissen. Tierschutz und Tierwohl sind inzwischen auch zu einem politisch-relevanten Mehrheitsthema geworden. Vegetarismus und Veganismus sind wichtige Strömungen nicht nur im Kontext der Ernährungsdebatte, sondern spielen auch bei Diskursen über Klimaschutz, Entwicklungspolitik und globalen Ressourcenschutz eine zunehmende Rolle.
Fleisch dürfte für die Menschen in historischen Epochen, selbst vor der Zeit der Sesshaftigkeit des Menschen kein alltägliches Lebensmittel, jedoch eine wichtige Nahrungsquelle gewesen sein. Die Jäger und Sammler ernährten sich vorwiegend von Kräutern, Beeren, Hülsenfrüchten und Obst – durch gemeinsam organisiertes Vorgehen kam aber immer wieder auch Fleisch auf den steinzeitlichen Speisezettel.
Die Domestizierung von Haustieren und der Beginn des Ackerbaus veränderten die Ernährungssituation wesentlich. Die Möglichkeit der planmäßigen Produktion mittels astronomischer Beobachtungen, die Schaffung von Bewässerungssystemen und die Selektion von speziellen Pflanzen für die Produktion erhöhten die Ernährungssicherheit wesentlich und führten auch zu einer geordneten Lager- und Vorratswirtschaft. Die Co-Evolution mit unseren Haustieren eröffneten neue Eiweißquellen für die Ernährung, wie Milch, Joghurt und Käse und je nach Kulturkreis auch Fleisch.
In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse von Ethnologie, Völkerkunde und Geschichtswissenschaften an diesem Thema weiter angewachsen. Die Fokussierung auf das Thema Ernährung für Gesundheit, Ressourcenverbrauch bis hin zur Hirnforschung und Kulturwissenschaften zeigt ebenfalls die gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit.
Die Ausbeutung der Natur durch den Menschen hat innerhalb des kapitalistischen Gesamtprozesses auch direkt den Bereich der landwirtschaftlichen Produktionsmethoden vollständig umgestaltet. War über Jahrhunderte der Produktivitätsfortschritt sehr bescheiden, wurde durch Sortenentwicklung, Erzeugung des Kunstdüngers durch das Haber-Bosch-Verfahren (Bindung von Luftstickstoff) und Nutzung von Kampfstoffen aus der Kriegsforschung als Pestizide der Weg der sogenannten ersten „Grünen Revolution“ in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts geebnet. Begleitet wurde dieser Prozess von einer umfassenden Industrialisierung der Tierhaltung, die bis heute vor allem in den USA offensiv mit Embryotransfer, Klonen und massivem Hormoneinsatz weiter vorangetrieben wird.
Abgesehen von der sogenannten Aquaponik (der automatisierten Bewirtschaftung in geschlossenen Wasser- oder Nährstoffkreisläufen) bleibt der landwirtschaftlich nutzbare Boden – damals wie heute – begrenzender Faktor der Lebensmittelproduktion!
Nur 24 % der weltweit nutzbaren Agrarflächen sind jedoch geeignet für Acker-, Gemüsebau und Dauerkulturen. Der weitaus größte Anteil der Fläche, nämlich 68 % oder knapp 3,4 Mrd Hektar besteht aus Dauergrünland. Diese Wiesen und Weiden können nur von Wiederkäuern genutzt werden. Daher spielt die Viehaltung in allen Steppen- und Savannenregionen dieser Erde eine essentielle Rolle für die Ernährung ihrer Bewohner.
Industrielle Tierhaltung stoppen – Regionale Kreisläufe stärken
Die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, das aktuelle agrarindustrielle Landwirtschaftsmodell wieder in ein kreislauforientiertes, ökologisch angepasstes und klimaschutz-kompatibles System zu überführen. Dafür stehen mehrere Strategien zur Verfügung. Basis aller konzeptionellen Zugänge ist jedoch das „System Fleisch“ deutlich zu reduzieren. Der globale Durchschnittskonsum von Fleisch beträgt etwa 43 kg pro Person und Jahr und ist in den entwickelten Staaten doppelt so hoch. Am Höchsten ist der Fleischkonsum pro Einwohner nach wie vor in den USA mit 120 kg/Jahr. Österreich liegt mit 102 kg/Jahr weltweit am 7. Platz. Obwohl die Tendenz in den entwickelten Ländern deutlich nach unten zeigt, wird dieser Prozess derzeit durch enorme Zuwächse des Fleischkonsums in den sogenannten Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas mehr als ausgeglichen. Die westlichen Ernährungsgewohnheiten werden gleichermaßen durch Fast-Food-Ketten, Marketing und internationale Fleischkonzerne rasant globalisert.
Alleine aus klimaschutzrelevanten Gründen ist jedoch die Reduktion der Fleischproduktion eine conditio sine qua non. Dass dies bei steigender Weltbevölkerung mit den oben dargestellten Ernährungstrends kein leichtes Unterfangen ist, liegt auf der Hand.
Eine zentrale Strategie muss daher darin bestehen, gerade in den sogenannten Entwicklungsländern den tierischen Bereich ökologisch und standortgemäß zu verbessern. Dabei wäre eine Orientierung an den Prinzipien des Biolandbaus sinnvoll und hilfreich. In den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen bis 2030 hat die Abschaffung von Hunger dieselbe Priorität wie der Schutz der Biodiversität, Maßnahmen gegen Bodenerosion und eine nachhaltige Forstwirtschaft. Diese Ziele zu erreichen (oder ihnen auch nur näher zu kommen) wird nur möglich sein, wenn die Abholzung primärer Urwälder für die Futterproduktion oder für Weiden tatsächlich gestoppt wird.
Begleitend muss eine artgerechte, nachhaltige und kreislauforientierte Tierhaltung zum Standard in der europäischen Lebensmittelproduktion werden. Fleisch-Importe aus industrieller Haltung müssen durch einen qualifizierten Außenschutz gestoppt und die Tierfabriken in Europa schrittweise um- und abgebaut werden.
Parallel braucht es jedoch auch einen kritischen Diskurs hinsichtlich der ebenfalls von der Lebensmittelindustrie forcierten Strategie des Food-Designs – insbesondere im Zukunftsmarkt veganer Produkte. Palm- und Kokos-Öl aus nicht nachhaltiger Produktion wird hier zu Fleisch- und Wurst-Ersatzprodukten mit hoher Wertschöpfung designed, um vor allem die junge Zielgruppe der kritischen Konsumenten bei der Stange zu halten!
Ad personam:
Wolfgang Pirklhuber ist österreichischer Nationalratsabgeordneter und Sprecher für Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Regionalpolitik der Grünen.