Das Gefühl vom Punkt Null
Eine Ausstellung in Wien stellt Recherchen zum Mythos des Primitiven an. Kuratorin Brigitte Felderer im Interview über gesellschaftliche Sehnsuchtsmodelle und den Ursprung als Label.
BIORAMA: Eigentlich versuchen aufgeklärte Gesellschaften seit Jahrhunderten, sich vom Primitiven zu distanzieren. Hat das nicht funktioniert?
Brigitte Felderer: Wir haben das Wort primitiv ganz bewusst verwendet, weil es ein provokanter Begriff ist. Das Interessante an dem Wort ist: Es scheint eine widersprüchliche Bedeutung zu haben. Einerseits ist es negativ, es ist das Gegenteil von kultiviert, industrialisiert und aufgeklärt. Es wird mit Instinkt, mit dem Körperlichen und dem Rausch in Verbindung gebracht. Aber zugleich birgt das Wort in unserer heutigen Gesellschaft auch ein Sehnsuchtsmodell. Genau das, was ständig von uns abverlangt wird, nämlich die Dinge zu verstehen, etwas zu befolgen, uns zu kontrollieren, zu unterwerfen, einen Ehrgeiz zu entwickeln, all das wird in der Bedeutung des Wortes beiseite gelassen. Mit der Ausstellung wollen wir Fragen stellen: Wohin geht unsere Sehnsucht? Wohin geht unser Wünschen, wenn wir an die Zukunft der Gesellschaft oder unsere persönliche Zukunft denken? Wollen wir zurück zu den einfachen Dingen oder wollen wir uns in eine kritisch reflektierte Distanz zu dem begeben, was uns unsere technisierte Kultur bedeutet –ohne aber das Bild des klassischen Aussteigertums zu bedienen.
Wie manifestieren sich diese Sehnsuchtsmodelle im künstlerischen Arbeiten?
Es werden keine einfachen Rezepte gestrickt. Es sind sehr sinnliche Konzepte, aber die Künstler wissen natürlich, dass man dabei keine eindimensionalen Antworten geben kann. Ein Künstler hat aber den Vorteil, dass man ihn gar nicht um ein Rezept bittet oder keines erwartet. Vielmehr ist es seine Aufgabe, uns zu helfen, einen veränderten Blickwinkel einzunehmen. Es gibt etliche Künstler, die mit Materialien arbeiten, die in der zeitgenössischen Kunst lang verpönt waren, weil ihnen etwas Handwerkliches anhaftet – Leder oder Porzellan und Keramik. Lange Zeit haben sich da nur Wenige drübergetraut, weil man schnell in die Kunsthandwerk-Ecke gesteckt wird.
Überlegungen zum Ursprünglichen im Digitalen, zum Primitivismus des Technischen stehen im Zentrum der Ausstellung. Wie geht das zusammen?
Wir selbst sehen uns als eine Kultur, die überzeugt ist von der Macht der Vernunft. Wir müssen aber bedenken, wie kurz das Zeitalter der Aufklärung erst währt und wie stark unsere Gesellschaft immer noch von primitiven Aspekten durchwachsen ist. Wenn man sich heute für das Ursprüngliche, für eine Urkunst interessiert, kann man die Medien nicht wegräumen und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Wenn man heute vom Ursprung spricht, meint man nicht immer zwangsläufig den Punkt Null, sondern ganz oft auch das Analoge. Im Vergleich zum Digitalen kann ich mit analogen Dingen die mediale Welt ausreizen, herumprobieren und etwas faken.
Welche Bedeutung hat das Ursprüngliche für unsere Gesellschaft?
Ich glaube, Ursprung ist für uns etwas sehr Entrücktes. Wir haben zwar vage Vorstellungen davon und meistens sind diese von Erinnerungen an die Kindheit geprägt, aber das ist meist etwas sehr Persönliches, das nicht allgemein gültig sein kann. Man hat so ein Gefühl, eine Ahnung, was es sein könnte. Und oft ist der Gedanke an den Ursprung eine Art Fluchtfantasie, bei der man aber nicht genau weiß, wo man hin will und schon gar nicht, ob man dort wirklich landen möchte.
Ist die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen gleichzusetzen mit einem Gefühl der Sentimentalität?
Kindheitserinnerungen sind etwas sehr Wichtiges für unsere ganze Identität und Sentimentalität kann was natürlich schön sein. Aber man muss bei dieser Koexistenz von Ursprung und Sentimentalität vorsichtig sein, dem Ursprung ist nämlich prinzipiell zu misstrauen. Denn: Was ist der Ursprung überhaupt? Wo ist er? Der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, dem Primitiven, dem Einfachen kann man sich nur mit gebotener Skepsis hingeben. Der Ursprung ist ja ein Label und die Konsumgüterindustrie hat das längst erkannt.
Was kann das Label Ursprung für uns bedeuten?
Während mit der einen Verwendung etwas Positives in Verbindung gebracht wird, etwas Unmittelbares im Sinne von »guten« Produkten, wird das Label Ursprung mit dem Etikett »Made in Slovakia« aber genauso bedient. Das ist auch eine Ursprungszertifizierung, aber sie ist viel negativer behaftet, weil die Slowakei ein Billigarbeitsland ist usw. Wir wollen also immer etwas über den Ursprung wissen und gleichzeitig wird dabei unglaublich viel manipuliert. Das ist auch mit dem Mythos des Primitiven gemeint – wir dürfen darauf nicht reinfallen, denn der Ursprung ist ein Begriff und ein Wert, der im 20. Jahrhundert massiv missbraucht wurde. Wir sagen zwar »Zurück zum Ursprung«, können aber die Richtung gar nicht ändern, weil wir uns nicht zurückbewegen können. Es gibt also eigentlich nur ein »Vorwärts zum Ursprung«.
»The Scientific People – Recherchen zum Mythos des Primitiven«
Kunstraum Niederösterreich, Wien
19. Oktober bis 7. Dezember 2012
www.kunstraum.net