Im Chaos liegt die Logik

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BILDER flickr.com/gruntzooki CC BY-SA 2.0

Moderne Technik gilt oft als Allheilmittel für komplexe Aufgaben. Ein über 100 Jahre altes Logistikmodell ohne unterstützende Elektronik beweist uns das Gegenteil: die Dabbawalas in der indischen Metropole Mumbai. 

Wenn Sie diesen Artikel in seiner gedruckten Form lesen, hat dieses Heft wohl den richtigen Empfänger erreicht. Das ist gut so, leider aber nicht immer der Fall. Viele tausende Hefte verlassen periodisch die Druckerei und gehen an unsere Abonnenten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Trotzdem die Adressen korrekt aufgedruckt sind, die Magazine ausreichend frankiert wurden, kommen bei jeder Ausgabe ca. 50 Sendungen retour, mit Vermerken wie »Adresse unvollständig« oder »Empfänger unbekannt«. Ob da der Briefträger nicht wollte oder in einem Verteilerzentrum falsch sortiert wurde – das System ist nicht lückenlos. Die indischen Dabbawalas können sich über diese Fehlerquote wahrscheinlich nur wundern. Auf 16 Millionen der vom indischen Zustellservice transportierten Sendungen soll nur eine einzige Fehllieferung kommen. Und dabei handelt es sich nicht um Briefe oder Zeitungssendungen, sondern um hausgemachte Mittagessen. In einer Lunchbox.

Essen wie bei Muttern 

In Mumbai, vielen noch als Bombay bekannt, tummeln sich über 18 Millionen Menschen in der Metropolregion. Damit ist es nicht nur eines der bevölkerungsreichsten Gebiete unserer Erde, sondern auch ein bunter Mix verschiedener indischer Kulturen, die sich hier rund um den größten Hafen des indischen Subkontinents niedergelassen haben. Jeder hat hier seine eigenen kulinarischen Vorlieben, durchaus auch religiöse Vorschriften. Manche mögen es höllisch scharf, möchten auf Kokosmilch nicht verzichten, manche verwenden nur Erdnussöl zum Kochen. Für Hindus ist Rind tabu, für Muslime Schwein und ein Dschaina würde in einem christlichen Haushalt von Fleischessern noch nicht einmal ein Glas Wasser annehmen. Es gibt Parsen und Juden, Buddhisten und Sikhs und das Kastensystem mag zwar im öffentlichen Leben kaum mehr eine Rolle spielen – die Furcht der Inder vor Mahlzeiten, die von den falschen Händen zubereitet wurden, prägt es aber bis heute. Da kann keine der zahlreichen Garküchen und Feuerstellen auf den Straßen der Stadt mithalten, da macht keine gemeinsame Betriebsküche Sinn. Auch hygienische Gründe geben dafür den Ausschlag. Wie aber kommt das Essen in den als Tiffins bezeichneten Lunchboxen frisch gekocht von zu Hause in die oft bis zu 60 Kilometer entfernte Arbeitsstätte – und das genau zur Mittagszeit?

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Eine Erfolgsgeschichte aus Indien: Das Zustellungssystem der Dabbawalas funktioniert (fast) einwandfrei.

Soziale Strukturen der Dabbawalas

Die Dabbawalas in Mumbai sind eine einzigartige Organisation von Essensausfahrern, die es in dieser Form – und vor allem in dieser Perfektion – nirgendwo sonst gibt. Die Logistik der Essensausträger kommt komplett ohne Computerunterstützung aus und basiert auf einer sozialen Mitarbeiterstruktur und einem simplen Code-System. Vielleicht funktioniert sie gerade deswegen so perfekt. Sieht man die Dabbawalas, die alle aus der Region Pune stammen und für indische Verhältnisse sehr zufriedene und gut bezahlte Arbeiter sind, die mit den vielen Tiffins zu Fuß, auf ihren Rädern oder per Bahn herumeilen, mag man nicht glauben, dass dabei täglich nur ein einziges Essen nicht an seinem richtigen Bestimmungsort landet. Fünftausend Essensausträger holen an fünf Tagen der Woche bis zu zweihunderttausend Tiffins aus den Wohnungen oder den Dabba Kitchens und bringen sie pünktlich zum Arbeitsplatz. Mit ihren weißen Mützen, den Patis, gehören sie unverwechselbar zum Stadtbild Mumbais. Und noch bevor der Verköstigte abends wieder von der Arbeit heimkehrt, haben die Dabbawalas die geleerte Lunchbox schon wieder zurückgeliefert. Die geschachtelten Blechboxen, die mit Currys, Reis und den Chapati-Broten gefüllt sind, werden mit wenigen Buchstaben und Farben gekennzeichnet. Von zu Hause abgeholt, kommen sie in Verteilerzentren und werden an Hand der Codes in Stadtteile, Straßen, Häuser und Etagen gebracht. Durchschnittlich haben an die vier Dabbawalas, der Name ist Hindi und bedeutet »Der, der eine Box trägt«, die Tiffins in der Hand, bevor das Essen zu Mittag pünktlich am Tisch steht. Das Transportservice kostet den Haushalt im Abo sieben Cent pro Tag – in Relation zu einem Durchschnittseinkommen von 120 Euro im Monat eigentlich nicht viel. Über 125 Jahre alt ist das System der Dabbawalas und wird auch heute noch von Vätern an Söhne weitergegeben. Aufzeichnungen über Adressaten soll es nur in einem einzigen händisch geschriebenen dicken Buch geben, und für die Wege werden ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel, Fahrräder oder Handwägen genutzt.

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Mittels einfachen Codes findet jede Mahlzeit zu seinem Esser.

International bestaunt

Die Perfektion der Essensausfahrer ist auch international anerkannt. Prince Charles machte sich selber vor Ort ein Bild, musste seinen Besuchsplan jedoch an das präzise Timing der Dabbawalas anpassen. Sein Lob erfüllt die Dabbawalas noch heute mit Stolz. Im Jahr 1998 zeichnete das Forbes Global Magazine das Service der Dabbawalas mit dem Six Sigma-Rating aus, womit die Kundenzufriedenheit mit höchstem Maße bestätigt wurde. Mittlerweile schicken sogar Industriekonzerne Mitarbeiter nach Mumbai, um das System zu studieren und für interessierte Touristen werden Touren mit den Essensausfahrern angeboten.

Und jetzt schau ich mal vor die Türe, ob meine abonnierte Tageszeitung schon gebracht wurde. Ist es eigentlich ein Zufall, dass das bei uns zumeist auch Inder machen und es so reibungslos funktioniert?

 

Jetzt im Kino: »Lunchbox« (Indien 2013) 

Eigentlich wollte Regisseur Ritesh Batra – selber in Mumbai geboren – eine Dokumentation über das System der Dabbawalas gestalten. Mit der Idee zu »Lunchbox« hat er das Projekt abgebrochen und einen der schönsten Spielfilme des Jahres gedreht. In Cannes bekam er dafür den Publikumspreis verliehen, bei der Viennale, wurde der Film bereits mit großem Zuspruch gezeigt. Die Handlung basiert auf genau der einen statistischen Fehllieferung: Die Beziehung zwischen Sajaan (Irfan Khan, »Life Of Pi«) und Ila (Nimrat Kaur) zeigt uns einen Blick auf indische Lebenskultur abseits von Bollywood-Klischees und macht definitiv Appetit auf indisches Essen.

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